Verborgene Stimmen Chinesische Frauen erzählen ihr Schicksal
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Produktbeschreibung
Die Autorin Xinran wagt sich auf ein unbekanntes Terrain: Sie verleiht den Sehnsüchten und Träumen und vor allem den Gefühlen chinesischer Frauen eine Stimme.
Acht Jahre lang gab sie als Radiomoderatorin Frauen die Gelegenheit, über diese für China noch immer ungewöhnlichen Themen zu reden. Xinran gelang es, das Vertrauen ihrer Zuhörerinnen zu gewinnen und so die wahren Lebensgeschichten vieler Frauen jenseits ideologischer Vorstellungen zu erfahren.
Die Schilderungen eröffnen unfassbare Welten: Es erzählen Frauen, die verkauft werden, um in einer anderen Familie gleich mehreren Söhnen als Ehefrau zu dienen; Frauen, die nie als Frau, vielmehr immer als Parteifunktionär, Bäuerin oder Arbeiterin angesehen werden.
Xinrans Buch gelingt etwas ganz Besonderes: Die verborgenen Gefühle der Frauen erheben sich gegen das erfahrene, nahezu unbeschreibliche Leid.
Bibliografische Angaben
2005, 319 Seiten, 14 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 12,4 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
Verlag: DROEMER KNAUR
ISBN-10: 3426627787
ISBN-13: 9783426627785
Lese-Probe
Verborgene Stimmen von Xinran
LESEPROBE
Wie ich dazu kam, die Lebensgeschichten chinesischer Frauen aufzuschreiben
An einem Frühlingsmorgen 1989 fuhr ich mit meinem Fahrrad der Marke »Fliegende Taube« durch die Straßen von Nanjing und träumte von meinem Sohn PanPan. Die grünen Triebe an den Bäumen, die Wolken von gefrierendem Atem, die die anderen Radfahrer umhüllten, die Seidenschals der Frauen, die sich im Frühlingswind bauschten, all das vermischte sich mit meinen Gedanken an meinen Sohn. Ich musste ihn alleine großziehen, ohne die Hilfe eines Mannes, und es war nicht einfach, ihn als berufstätige Mutter zu versorgen. Aber auf jeder Reise, die ich unternahm, ob sie nun lang oder kurz war, selbst auf der kurzen Fahrt zur Arbeit, begleitete er mich im Geist und gab mir Mut. »He, du großartige Moderatorin, pass auf, wo du hinfährst«, rief mir ein Kollege zu, als ich schwankend in den Hof der Rundfunk- und Fernsehstation einbog, bei der ich arbeitete. Zwei bewaffnete Polizisten standen am Tor. Ich zeigte ihnen meinen Ausweis. Im Inneren würde ich weitere bewaffnete Wachposten passieren müssen, die an den Türen zu den Büros und Studios standen. Die Sicherheitsvorkehrungen in der Radiostation waren extrem streng, und die Mitarbeiter nahmen sich vor den Wachposten in acht. Es kursierte eine Geschichte von einem frisch hierher versetzten Soldaten, der während seiner nächtlichen Wache einschlief und so angespannt war, dass er den Kameraden tötete, der ihn aufweckte.
Mein Büro befand sich im sechzehnten Stock des abweisenden, zwanzigstöckigen, modernen Gebäudes. Ich zog es vor, die Treppe hinaufzusteigen, statt den unzuverlässigen Lift zu nehmen, der immer wieder kaputt war. Als ich an meinem Schreibtisch ankam, stellte ich fest, dass ich meinen Fahrradschlüssel im
Schloss hatte stecken lassen. Ein verständnisvoller Kollege bot an, den Pförtner anzurufen. Das war allerdings nicht so einfach, weil die jüngeren Mitarbeiter zur damaligen Zeit noch keine Telefone hatten und mein Kollege zum Telefonieren ins Büro des Abteilungsleiters würde gehen müssen. Schließlich brachte mir jemand den Schlüssel mit meiner Post herauf. In dem großen Stapel befand sich ein Brief, der augenblicklich meine Aufmerksamkeit erregte. Der Umschlag war aus dem Schutzumschlag eines Buches gemacht, und eine Hühnerfeder war daraufgeklebt. Nach chinesischer Tradition bedeutet eine Hühnerfeder einen dringenden Hilferuf.
Der Brief stammte von einem kleinen Jungen und kam aus einem etwa 250 Kilometer von Nanjing entfernten Dorf.
Hochverehrte Xinran, ich höre jede Ihrer Sendungen. Tatsächlich hört jeder in unserem Dorf sie gerne. Aber ich schreibe Ihnen nicht, um Ihnen zu sagen, wie gut Ihre Sendung ist. Ich schreibe, um Ihnen ein Geheimnis zu verraten. Eigentlich ist es gar kein Geheimnis, weil jeder im Dorf darüber Bescheid weiß. Hier gibt es einen verkrüppelten alten Mann von sechzig Jahren, der sich kürzlich eine junge Frau gekauft hat. Das Mädchen sieht sehr jung aus - ich glaube, sie muss entführt worden sein. Das passiert hier sehr oft, aber viele von den Mädchen fliehen irgendwann. Der alte Mann hat Angst, dass seine Frau auch davonläuft, und deshalb hat er eine dicke Eisenkette um sie gewickelt. Ihre Taille ist von der schweren Kette ganz wund gerieben - das Blut quillt durch ihre Kleider. Ich glaube, dass sie daran sterben wird. Bitte retten Sie sie. Was auch immer Sie tun, sagen Sie im Radio nichts davon. Wenn die Dorfbewohner es herausfinden, jagen sie meine Familie davon. Möge Ihre Sendung immer besser werden. Ihr treuer Hörer, Zhang Xiaoshuan
In den vier Monaten, seit ich mit der Moderation meiner Abendsendung Words on the Night Breeze begonnen hatte, hatte ich noch keinen so traurigen Brief erhalten. In meiner Sendung besprach ich verschiedene Aspekte des täglichen Lebens und versuchte, mit Hilfe meiner eigenen Erfahrungen das Vertrauen der Hörer zu gewinnen und Ratschläge zu geben, wie man die Schwierigkeiten des Lebens meistern kann. »Ich heiße Xinran«, hatte ich zu Beginn meiner ersten Sendung gesagt. » Xinran heißt mit Freuden . Xin xin ran zhang kai le yan , hat Zhu Ziqing in einem Frühlingsgedicht geschrieben: Mit Freuden öffnete die Natur die Augen für neue Dinge. « Die Sendung war für jedermann, mich selbst eingeschlossen, etwas Neues. Ich war gerade erst Moderatorin geworden, und ich versuchte, etwas zu machen, was im Rundfunk noch nie gemacht worden war. Seit 1949 waren die Medien das Sprachrohr der Partei gewesen. Das staatliche Radio, die staatlichen Zeitungen und später das staatliche Fernsehen stellten die einzigen Informationsquellen dar, die dem chinesischen Volk zur Verfügung standen, und sie alle sprachen mit einer einzigen Stimme. Kommunikation mit irgendjemandem im Ausland war so unerreichbar wie ein Märchentraum. Als Deng Xiaoping 1983 den langsamen Prozess der »Öffnung« Chinas in Gang setzte, konnten Journalisten, wenn sie den Mut dazu hatten, versuchen, die Art und Weise, in der sie die Nachrichten präsentierten, ganz behutsam ein wenig zu verändern. Es war nun auch möglich, in den Medien über persönliche Dinge zu sprechen, auch wenn dies vielleicht noch gefährlicher war. Mit meinen Words on the Night Breeze versuchte ich, ein kleines Fenster zu öffnen, ein winziges Luftloch, damit die Menschen nach der mit Schießpulver angefüllten Atmosphäre der letzten vierzig Jahre eine Möglichkeit erhielten, aufzuschreien und frei zu atmen. Der chinesische Schriftsteller und Philosoph Lu Xun hat einmal gesagt: »Der erste Mensch, der eine Krabbe gekostet hat, muss auch eine Spinne probiert haben. Aber dann hat er gemerkt, dass sie nicht gut schmeckte.« Während ich noch auf die Reaktion meiner Hörer wartete, fragte ich mich, ob sie meine Sendung wohl für eine Krabbe oder für eine Spinne halten würden. Die Zahl der begeisterten Briefe, die sich auf meinem Schreibtisch türmten, überzeugte mich jedoch, dass wohl Ersteres der Fall war. Der Brief des Jungen Zhang Xiaoshuan war der erste, in dem ich um praktische Hilfe gebeten wurde, und er stürzte mich in Ratlosigkeit. Ich meldete die Sache meinem Abteilungsleiter und fragte ihn, was ich tun solle. Gleichgültig schlug er mir vor, mich an das örtliche Büro für öffentliche Sicherheit zu wenden. Ich rief dort an und erzählte aufgeregt Zhang Xiaoshuans Geschichte. Der Polizeibeamte am anderen Ende der Leitung forderte mich auf, mich erst einmal zu beruhigen. »Solche Dinge passieren andauernd. Wenn jeder so reagieren würde wie Sie, müssten wir uns zu Tode arbeiten. Der Fall ist sowieso hoffnungslos. Wir haben Berge von Anzeigen hier, und unsere personellen und finanziellen Mittel sind begrenzt. An Ihrer Stelle würde ich mich hüten, mich in diese Angelegenheit einzumischen. Landbewohner wie diese fürchten sich vor niemandem und nichts. Selbst wenn wir dort auftauchen würden, würden sie unsere Fahrzeuge in Brand stecken und unsere Beamten verprügeln. Sie sind bereit, unglaubliche Dinge zu tun, um den Fortbestand ihrer Familien zu sichern.
Sie wollen sich unter keinen Umständen gegen ihre Ahnen versündigen, indem sie keinen Erben zeugen.« »Wollen Sie mir damit sagen«,fragte ich, »dass Sie die Verantwortung für dieses Mädchen nicht übernehmen wollen?« »Ich habe nicht gesagt, dass ich das nicht tun würde, aber « »Aber was?«
»Es besteht kein Grund zur Eile. Wir können Schritt für Schritt vorgehen.« »Sie können einen Menschen nicht Schritt für Schritt sterben lassen!«
Der Polizeibeamte lachte leise vor sich hin. »Kein Wunder, dass man sagt, dass die Polizisten das Feuer bekämpfen und die Journalisten es entfachen. Wie war doch gleich Ihr Name?« »Xin ran«, antwortete ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Ach ja, Xinran, ein guter Name. Also gut, Xinran, kommen Sie herüber. Ich werde Ihnen helfen.« Er tat so, als würde er nicht seine Pflicht erfüllen, sondern mir vielmehr einen persönlichen Gefallen erweisen. Ich marschierte geradewegs zu seinem Büro. Er war ein typischer chinesischer Polizeibeamter, kräftig und wachsam, mit schlauem Gesichtsausdruck. »Auf dem Land«, erklärte er, »ist der Himmel hoch und der Kaiser weit weg.« Seiner Meinung nach hatte das Gesetz dort keine Gültigkeit. Die Bauern fürchteten nur die lokalen Machthaber, die die Pestizide, den Kunstdünger, das Saatgut und das Arbeitsgerät unter ihrer Kontrolle hatten. Der Polizeibeamte hatte Recht. Am Ende war es der Leiter des örtlichen Depots für landwirtschaftlichen Bedarf, dem es gelang, das Mädchen zu retten. Er drohte, den Dorfbewohnern keinen Kunstdünger mehr zuzuteilen, wenn sie das Mädchen nicht freiließen. Drei Polizisten fuhren mit mir in einem Polizeiwagen in das Dorf. Als wir dort ankamen, musste der Dorfälteste uns einen Weg zwischen den Bauern hindurch bahnen, die die Fäuste schüttelten und uns verfluchten. Das Mädchen war erst zwölf Jahre alt. Wir nahmen sie dem alten Mann weg, der bitterlich weinte und fluchte. Ich wagte es nicht, nach dem Schuljungen zu fragen, der mir geschrieben hatte. Ich hätte ihm gerne gedankt, aber der Polizeibeamte hatte mir gesagt, dass die Dorfbewohner ihn und seine Familie womöglich ermorden würden, wenn sie herausfanden, was er getan hatte. Nachdem ich die Kraft der Bauern auf diese Weise aus erster Hand kennen gelernt hatte, begann ich zu verstehen, warum Mao mit ihrer Hilfe Chiang Kai-shek samt seinen britischen und amerikanischen Waffen besiegt hatte. Begleitet von einem Polizeibeamten und einem Vertreter der Rundfunkstation, wurde das Mädchen zu seiner Familie nach Xining - das vierundzwanzig Eisenbahnstunden von Nanjing entfernt liegt - zurückgeschickt. Es stellte sich heraus, dass ihre Eltern bei der Suche nach ihr einen Schuldenberg von annähernd 10 000 Yuan angehäuft hatten. Die Rettung des Mädchens brachte mir kein Lob ein, sondern nur den Vorwurf, »die Truppen sinnlos in Bewegung zu halten und Unruhe zu stiften« und Zeit und Geld der Rundfunkstation zu vergeuden. Ich war erschüttert über diese Anschuldigungen. Ein junges Mädchen war in Gefahr gewesen, und meine Rettungsaktion wurde als »Herumscheuchen der Leute und Verschwendung der Geldressourcen« kritisiert. Wie viel war das Leben einer Frau in China eigentlich wert? Diese Frage verfolgte mich. Die meisten Hörer, die mir in die Rundfunkstation schrieben, waren Frauen. Ihre Briefe waren oft anonym oder unter einem Pseudonym geschrieben. Vieles von dem, was sie zu sagen hatten, schockierte mich. Ich hatte geglaubt, dass ich die chinesischen Frauen verstand. Als ich nun ihre Briefe las, stellte ich fest, wie falsch meine Annahme gewesen war. Meine Geschlechtsgenossinnen lebten unter Umständen und schlugen sich mit Problemen herum, von denen ich mir nicht hatte träumen lassen. Viele Fragen, die sie mir stellten, hatten mit ihrer Sexualität zu tun. Eine Frau wollte wissen, warum ihr Herz schneller schlug, wenn sie im Bus zufällig gegen einen Mann stieß. Eine andere fragte, warum ihr der Schweiß ausbrach, wenn ein Mann ihre Hand berührte. Viel zu lange war jedes Gespräch über Sexualität verboten gewesen, und jeder physische Kontakt zwischen einem Mann und einer Frau, die nicht miteinander verheiratet waren, hatte zu öffentlicher Verurteilung oder sogar zu Gefängnisstrafen geführt. Selbst bei einem verheirateten Paar konnten»Kopfkissengespräche « als Beweis für schuldhaftes Betragen gedeutet werden, und bei Familienstreitigkeiten drohten die Kontrahenten oft damit, ihre Partner wegen solcher Gespräche bei der Polizei anzuzeigen. Die Folge war, dass in China zwei Generationen herangewachsen waren, deren natürliche Instinkte vollkommen durcheinander geraten waren. Ich selbst war so unwissend gewesen, dass ich mich noch mit zweiundzwanzig Jahren anlässlich einer Party mit Lagerfeuer geweigert hatte, einem männlichen Lehrer die Hand zu geben, weil ich Angst hatte, davon schwanger zu werden. Meine Vorstellung von der Zeugung
stammte aus einer Zeile in einem Buch: »Sie hielten sich im Mondenschein bei den Händen Im Frühling hatten sie einen gesunden kleinen Sohn.« Ich wollte gerne mehr über das persönliche Leben der chinesischen Frauen wissen, und ich beschloss, mich über ihren unterschiedlichen kulturellen Hintergrund zu informieren.
© 2005 by Verlagsgruppe Droemer Knaur, München
Übersetzung: Sigrid Langhäuser