Männer sind wie Schuhe Roman

Männer sind wie Schuhe  Roman
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Produktbeschreibung

Lotta ist mit Jürgen glücklich verheiratet. Auch wenn ihre Ehe mehr an einen ausgelatschten Schnürschuh erinnert als an heiße High Heels. Doch dann taucht plötzlich Christian auf - und der bringt bei Lotta einiges durcheinander. Hera Lind wieder einmal in Bestform!
 

Klappentext zu „Männer sind wie Schuhe“

Witzig, mit einer Prise Ironie und viel Gefühl
Zugegeben, der Sparkassendirektor Jürgen war nie Lottas Traummann. Aber ihm hat sie drei entzückende Kinder und die eigene Musikschule zu verdanken. Das hält so lange, bis der Flötist Christian auftaucht und Lotta vor Augen führt, in welch ausgetretenen Schuhen sie durchs Leben geht. Jürgen schießt in seiner Eifersucht ein Eigentor nach dem anderen. Aber hat Lotta den Mut, die alten Latschen gegen die High Heels einzutauschen?

Bibliografische Angaben

2013, 384 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
Verlag: Diana
ISBN-10: 3453356926
ISBN-13: 9783453356924

Rezension

"Eine turbulente und rührend menschliche Liebesgeschichte um Träume, Eifersucht, Rache und das große Glück."

Autoren-Porträt von Hera Lind

Hera Lind, geboren 1957, ist eine erfolgreiche Romanautorin. Nach dem Studium der Germanistik, Musik und Theologie arbeitete sie hauptberuflich als Sängerin, bevor ihr gleich mit ihrem ersten Roman, "Ein Mann für jede Tonart", ein sensationeller Bestseller gelang. Weitere große Erfolge folgten, die allesamt auch verfilmt wurden. Ein weiterer Beweis für ihre Vielseitigkeit sind zwei eigene Fernsehshows. Hera Lind ist Mutter von vier Kindern und lebt mit ihrer Familie in Salzburg.

 

Lese-Probe

Männer sind wie Schuhe von Hera Lind


PROLOG

Männer sind wie Schuhe. Sie können uns größer und schöner wirken lassen, unsere positiven Seiten unterstreichen. Sie können uns bei Wind und Wetter über Stock und Stein tragen. Sie können uns den Rücken stärken, uns wunderbar wärmen und Halt geben. Sie können solide sein, aus unverwüstlichem Material. Sie können so kostbar sein, dass wir für sie auf vieles andere verzichten.

Oft wissen wir schon von Weitem, dass wir sie unbedingt besitzen wollen. Oder wir sehen sie an einer anderen Frau und könnten sie dafür erschießen. Andere sehen wir im Regal und wissen, dass wir sie niemals haben können. Von ihnen träumen wir bis ans Ende unseres Lebens.

Manchmal sind sie uns eine Nummer zu groß, dann wirken wir vergleichsweise plump. Wir riskieren ständig, sie zu verlieren, versuchen, so würdevoll wie möglich damit auszusehen, machen uns aber einfach nur lächerlich.

Andere sehen fantastisch aus, hinterlassen aber böse Spuren. Doch trotz der Schmerzen gehen wir mit ihnen weiter: Weil wir mit ihnen in der Öffentlichkeit gut dastehen. Weil wir einfach keine Besseren finden oder weil wir sie nun mal an der Hacke haben. Obwohl wir schon schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht haben und die Wunden gerade erst verheilt sind, kommen wir immer wieder in Versuchung, ihnen noch eine Chance zu geben.

Mit wieder anderen halten wir es nicht lange aus. Schon nach kurzer Zeit werfen wir sie in die Ecke und verfluchen sie. Oft fragen wir uns im Nachhinein, wie wir ausgerechnet an sie geraten konnten.

Wenn sie spitz sind und einen schlanken Fuß machen, hat man zwar aufregende Momente mit ihnen, aber im Alltag bewähren sie sich nicht. Die Bequemen wiederum sind meistens flach und langweilig. Die gefallen unserer Mutter.

Manche sind alt und ausgetreten. Irgendwann hilft dann auch die größte Liebe nicht mehr, und wir müssen sie schweren Herzens entsorgen.

Männer sind wie Schuhe. Die perfekten sind nicht leicht zu finden. Aber wenn wir sie gefunden haben, wollen wir sie gleich anbehalten.


LOTTA

»Nebenan sitzt schon wieder der Bäckermeister!« Nach zögerlichem Klopfen steckte meine Sekretärin Brunhilde Zweifel ihren Kopf mit der grau melierten Kurzhaarfrisur zur Tür herein. Ihre Stimme klang verschwörerisch, und sie verdrehte genervt die Augen. »Sie wissen schon, der Gerngroß!«

»Ich kann jetzt nicht!« Mir brach der Schweiß aus. »Schicken Sie ihn weg. Sagen Sie ihm, ich bin in einer wichtigen Besprechung.«

»Frau von Thalgau.« Die Sekretärin zwängte ihre füllige Gestalt durch den Türspalt und parkte sie quasi im eingeschränkten Halteverbot zwischen Tür und Angel.

»Frau Zweifel, bitte! Sie sehen doch: Ich bin nicht allein.«

Ja, das tat sie allerdings. Wohlwollend ließ sie ihren Blick über den männlichen Besucher gleiten, der bei mir im Büro saß. Ihr Gesicht sprach Bände: Was für ein Prachtexemplar!, sagte es anerkennend. Und ich konnte ihr nur stumm recht geben. Der Soloflötist von den Wiener Philharmonikern war mir regelrecht zugeflogen! Sein Name war Christian Meran. Er hatte sich in unsere abgelegene Kleinstadt verirrt wie eine Nachtigall an einen Froschtümpel. Brunhilde Zweifel stand Bewunderung, aber auch Neid in den Augen.

»Liebe Frau Zweifel!«, sagte ich würdevoll. »Bitte! Tür zu und kein Bäckermeister heute!«

Heute war ein besonderer Tag, das spürte ich. Ein seltsames Gefühl keimte in mir auf, so ein leichtes, angenehmes Prickeln, das mich in diesen nach Bohnerwachs und Schülerschweiß riechenden Räumlichkeiten schon lange nicht mehr heimgesucht hatte. Vielleicht sogar noch nie.

Brunhilde Zweifel schüttelte bedauernd den Kopf. »Der Bäckermeister ist ... Sie wissen ja, nicht abzuschütteln.« Ein Recht, das sich Brunhilde ebenfalls herausnahm.

»Frau Zweifel. Bitte. Das ist Ihr Job. Schicken Sie ihn weg. Ich möchte jetzt nicht gestört werden.« Mein Blick wanderte unmissverständlich zur Tür. Am liebsten hätte ich ihre unförmige Gestalt eigenhändig wieder nach draußen geschubst. Aber sie sah mich an, als hätte ich einen Teller Kekse vor mir und würde mich weigern, ihr einen davon anzubieten.

»Wie gesagt, ich bin nicht zu sprechen. Für NIEMANDEN! «, zischte ich nachdrücklich, um meinen Gast Christian Meran gleich darauf strahlend anzulächeln. Der verfolgte den kleinen Disput interessiert, und um seine Mundwinkel zuckte es amüsiert. Mir wurde plötzlich schwach in den Knien.

»Und jetzt gehen Sie. Tür - von - außen - zu!«

»Aber Frau von Thalgau«, widersprach Frau Zweifel energisch. »Jeden kann ich wegschicken. Auch den amerikanischen Präsidenten. Aber den - den kriegen keine zehn Pferde aus dieser Musikschule! Sie wissen ja: der penetranteste Vater der ganzen Stadt.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war mir peinlich, so ratlos zu sein!

»Er will, dass seine Viktoria beim Konzert heute Abend neben dem Wiener Philharmoniker auf der Bühne sitzt!«

»Woher weiß er denn überhaupt, dass der Wiener Philharmoniker hier ist?«

»Keine Ahnung, aber Sie wissen ja: Er hört das Gras wachsen!«

Das Grinsen des Wiener Philharmonikers wurde immer breiter. Aber was der schöne Fremde nicht wissen konnte: Frau Zweifel hatte leider recht. Ich hatte noch nie in meinem Leben mit einem penetranteren Menschen zu tun gehabt als mit Bäckermeister Gerngroß. Der war felsenfest davon überzeugt, seine Tochter Viktoria habe mit ihrer Klarinette das Zeug zum Weltstar, doch ich würde ihr Talent aus Bösartigkeit oder Ignoranz einfach nicht anerkennen. Aber es gibt Momente im Leben, die kommen nicht wieder. Und das war so einer.

»Frau Zweifel, sagen Sie dem Bäckermeister, ich bin heute Morgen mit Blaulicht abgeholt worden. Ihnen wird schon irgendwas einfallen.« Ich schickte ein Lachen hinterher, das eine klitzekleine Spur zu schrill geriet.

»Der Bäckermeister hat Ihre Stimme schon gehört. Er wartet auf dem Flur und weiß, dass Sie im Hause sind.«

Ich stand entschlossen auf: »Der Bäckermeister hat jetzt keinen Termin.« Mit diesen Worten schloss ich energisch die Tür. Brunhilde Zweifel konnte gerade noch ihre wogenden Weichteile in Sicherheit bringen.

»Es tut mir leid«, sagte ich endlich wieder an Christian Meran gewandt und schluckte nervös. »Das sind so die Probleme einer Kleinstadtmusikschulleiterin.«

»Lassen Sie den Bäckermeister doch rein!« Der Flötist lächelte mich aufmunternd an. »Wenn er frische Brötchen dabeihat? «

»Sie kennen den Herrn nicht«, sagte ich dumpf. »Aber wenn Sie ihn kennen, machen Sie lieber eine Nulldiät.«

Der Bäckermeister litt eindeutig unter Größenwahn, was seine Tochter Viktoria anbelangte. Dabei war die Zwölfjährige wirklich begabt, und ich mochte das Mädchen auch sehr. Aber ihr Vater war das reinste Brechmittel. Die arme Vicki hätte wirklich einen anderen Vater verdient, nach allem, was sie schon hatte durchmachen müssen.

»Ich bin beeindruckt, wie Sie das hier alles managen!« Und das sagte ausgerechnet Christian Meran, die »goldene Flöte«! Ich hatte sie schon oft im Fernsehen gesehen, also alle beide, den Mann und seine Flöte, ganz groß in Nahaufnahme. Der Mann musizierte nicht nur hinreißend, er sah auch noch außergewöhnlich gut aus. Christian Meran hatte volles dunkles Haar, das ihm beim Spielen in die Stirn fiel wie in der Shampoowerbung. Und nun saß er hier bei mir in dieser muffigen Musikschule und war bereit, heute Abend spontan im Konzert mitzuspielen! In meinem Schülerkonzert! Ich lehnte mich Halt suchend ans Fenster. Meine roten Haare, die sich heute noch weniger bändigen ließen als sonst, umloderten förmlich mein Gesicht. Und das war schon rot genug vor lauter Aufregung.

Draußen ragte der weihnachtlich beleuchtete Kirchturm von Heilewelt in den Himmel. Schnee fiel lautlos auf das Blechdach der gegenüberliegenden Sparkasse und blieb dort liegen wie Puderzucker. So schön der Anblick auch war, erinnerte er mich doch an meine Hausfrauenpflichten. Jetzt hatte ich es noch nicht mal mehr geschafft, für den morgigen Heiligabend einzukaufen! Geschweige denn Vanillekipferl und Zimtsterne zu backen wie jede andere Hausfrau in Heilewelt. Mein Leben verlief hektisch bis chaotisch, ich tanzte auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig. Aber welche berufstätige Mutter tut das nicht? Dafür hatte ich einen echten Wiener Philharmoniker in unsere Musikschule locken können! Und nicht nur irgendeinen, sondern DEN Soloflötisten! Man kann eben nicht alles haben. Die Herren der Schöpfung beschimpft auch keiner als schlechte Hausmänner, nur weil sie beruflich aufgehalten werden. Hätte mein Lebensgefährte Jürgen Immekeppel beispielsweise Penelope Cruz für einen Bauspar-Werbespot in seine Sparkasse gelockt, hätte ICH da auf seinen Haushalts- pflichten bestanden? So nach dem Motto: Wo warst du, warum hast du nicht eingekauft und gekocht? Warum haben die Kinder Rotznasen, und wo sind die Geschenke? Warum steht der Baum noch nicht, und was guckst du so gestresst? Nur von uns Frauen wird das alles erwartet. Berufstätig, eine tolle Mutter und Hausfrau sein, super aussehen und immer gute Laune haben. Die Welt ist so was von unfair!


Aber Moment mal, warum schaute mich dieser Flötist denn so belustigt an? Hatte ich etwa Selbstgespräche geführt? Ich räusperte mich verlegen und klammerte mich an den Heizkörper hinter mir. Oh Gott! Heute Abend war DAS Konzert. Das Konzert, von dem die ganze Stadt seit Wochen sprach, ach, was sage ich: seit Monaten. Und ich hatte mich noch nicht mal geschminkt und meine tausend Sommersprossen abgedeckt, wo doch dieser schöne Musikus hier war. Leider auch der unsägliche Bäckermeister! Auf einmal herrschte Totenstille. Das Klimpern und Geigenkratzen, das Tröten und Blasen der Übenden schien wie auf Kommando verstummt zu sein. Nur mein Herzklopfen war weithin zu hören.

»Also...wo waren wir stehen geblieben?« Ich fuhr mir nervös über die Stirn. »Wie gesagt, ich bin überglücklich, dass Sie in unsere schöne kleine Stadt Heilewelt gekommen sind und uns bei unserem Konzert heute Abend unterstützen wollen.«

Ich fröstelte und schwitzte zugleich. Wir hatten überhaupt noch nicht über das Honorar geredet! Es würde hoffentlich nicht fünfstellig sein?! Panik erfasste mich. Dieser Weltklassemusiker war sicher nichts anderes gewöhnt. Ich würde mir seine goldene Flöte nie leisten können! Auch wenn die Heilewelter Sparkasse der Sponsor der Musikschule war - genauer gesagt mein Lebensgefährte Jürgen Immekeppel, der Direktor ebenjener Sparkasse -, musste ich mit diesem Geld gut haushalten.

»Es macht mir Spaß, mit Kindern zu musizieren«, erwiderte Christian Meran lächelnd. »Erstens liebe ich ›Peter und der Wolf‹. Und zweitens ... unter so charmanter Leitung!« Er schenkte mir einen vielsagenden Blick, und mein Magen zog sich plötzlich ganz komisch zusammen. »Ich habe Sie während der Proben beobachtet«, sagte er mit einem warmen Unterton. »Mit welchem Temperament und mit welch ansteckender Begeisterung Sie da ein Orchester aus hundert Kindern dirigieren!« In seinen braunen Augen lag Anerkennung. »Diese Kleinstadt kann sich glücklich schätzen, Sie zu haben.«

Ich machte den Mund auf, aber kein Ton kam heraus. Das hatte noch niemand zu mir gesagt. Im Gegenteil. Alle ließen mich immer spüren, wie dankbar ich sein müsse, diese Musikschule leiten zu dürfen. Mit dem Geld der Heilewelter Sparkasse, bei der ich dafür einen riesigen Kredit aufgenommen hatte. Verlegen massierte ich mir die Schläfen. Unfassbar, dass mir dieser Weltklassemusiker tatsächlich so zauberhafte Komplimente machte. Wenn der wüsste, was das für ein täglicher Nahkampf war! Die Schüler bekam ich inzwischen gut in den Griff - wenn nur die überehrgeizigen Eltern nicht wären! Ich dachte da vor allem an einen ganz bestimmten Bäckermeister, der im Begriff war, mir meinen Wiener Philharmoniker wegzunehmen. Er würde ihm viel Geld bieten, damit er seiner Vicki Privatstunden gab und sie dann als Meisterschülerin ... Abrupt schüttelte ich den Kopf.

»Ich weiß gar nicht, ob wir uns das überhaupt leisten können «, brachte ich schließlich krächzend hervor. Besser, man sprach die unangenehmen Dinge sofort an. »Unser Budget ist ebenso klein wie unsere Stadt«, stotterte ich mit glühenden Wangen.

Christian Meran gluckste. »Machen Sie sich wegen der Gage mal keine Sorgen. Ich sehe das als Benefiz-Auftritt. Morgen ist schließlich Weihnachten.« Er bekam jede Menge entzückende Lachfältchen, als er schelmisch hinzufügte: »Früher war ich bei den Pfadfindern, und unser Motto war: ›Jeden Tag eine gute Tat.‹«

Mein Herz machte einen nervösen Hopser, und ich strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Er spielte umsonst! Wie cool war das denn! Ich konnte mein Glück kaum fassen. Das machte unser Konzert zum Jahrhundert-Event! Das war etwas ganz anderes als das Gequietsche aus spuckedurchtränkten Schülerflöten, das ich meinem Publikum sonst zumutete! Am liebsten wäre ich dem Mann um den Hals gefallen! »Sie machen das gratis?«

Der Wiener Philharmoniker schielte auf den Briefkopf auf dem Schreibtisch, um meinen Namen noch einmal zu lesen: »Liebe Frau ... von Thalgau, es ist mir ein Vergnügen! Nachdem ich hier in der Nähe einen Meisterkurs abgehalten habe, kann ich auch noch einen Abend dranhängen.« Er sah mich aus seinen dunkelbraunen Augen warmherzig an. »Als ich auf der Durchreise Ihr Plakat sah, dachte ich: Toll, dass Sie als Direktorin einer Musikschule so ein anspruchsvolles Konzert auf die Beine stellen. Das unterstütze ich gern.«

Oh Gott, dachte ich. IST der süß! Den würde ich gern näher kennenlernen. Aber die Nachtigall war zu spät zum Froschtümpel gekommen. Da schwamm schon jede Menge Laich drin herum, ein Froschkönig schwang bereits das Zepter, und ich alte Kröte ... Ich musste mich dringend zusammenreißen! Schließlich war ich Mutter von drei kleinen Kindern! Und in festen Sparkassendirektor-Händen!

Der Flötist war noch nicht fertig: »Sie haben begabte Schüler.«

Ja!, dachte ich. Besonders die Klarinette spielende Tochter vom Bäckermeister. Der mich bestimmt gleich nerven wird bis zum Wahnsinn. »Na ja, all das habe ich nur aufbauen können, weil die Stadtsparkasse von Heilewelt diese Musikschule großzügig unterstützt!« Ich wies mit dem Kinn auf das Haus gegenüber mit dem grellen Sparkassenschild. Und dem Plakat »Wir sichern Ihren Kindern eine Zukunft«. Dort saß jetzt mein Lebensgefährte Jürgen Immekeppel an seinem Schreibtisch und kümmerte sich um seine Zahlen. Ich hatte ihn noch nie etwas anderes tun sehen. Na, gut, von ein paar wenigen Ausnahmen einmal abgesehen.

»Großartig«, sagte der Querflötist. Er hatte ein entzückendes Grübchen am Kinn. »Sie haben da was auf die Beine gestellt, was man dieser ... ähm ... abgelegenen Kleinstadt gar nicht zutrauen würde.«

»Kleinstadt ist ja noch geschmeichelt für Heilewelt«, beeilte ich mich zu sagen. »Eigentlich ist das eher eine Nachkriegssiedlung vom Reißbrett, die im Lauf der Jahre an die fünfzig Dörfer eingemeindet hat.« Ich rieb mir verlegen die eiskalten Hände. »Aber die Arbeit hier macht wirklich Spaß. Ich kann schalten und walten, wie ich will, habe engagierte Lehrer, hoch motivierte Eltern« - was erst recht geschmeichelt war, wenn man an den größenwahnsinnigen Bäckermeister dachte -, »und es gibt vielversprechenden Nachwuchs.« Ich ertappte mich dabei, wie ich versuchte, das Gespräch in die Länge zu ziehen.

Christian Merans Lippen kräuselten sich freundlich. »Sogar Ihre drei Kinder sind mit dabei, wie ich dem Programmheft entnommen habe?«

Ich errötete noch mehr. »Na ja, meine Zwillinge hauen auf Triangel und Trommel herum, und Paul, mein Achtjähriger, spielt schon ganz ordentlich Cello.«

»Da ist Ihr Mann sicher mächtig stolz auf seine Familie.«

»Ja. Dasister.«

Ich überlegte gerade, ob ich es doch noch schaffen würde, einen Gänsebraten im Supermarkt zu erbeuten, als es klopfte. Ich wusste es! Der Größenwahnsinnige. Der Bäckermeister. Am liebsten hätte ich ihn umgebracht. Noch lieber hätte ich noch stundenlang mit diesem gebildeten und überaus gut aussehenden Flötisten geplaudert.

Frau Brunhilde Zweifel zwängte sich erneut zur Tür herein. »Frau von Thalgau, er lässt sich nicht abwimmeln!«

Nein. Das hatte er noch nie getan. Im Gegenteil. Ich musste den Beckenboden anspannen, um das Wutpipi zu unterdrücken. Und da stand er auch schon, mit seinem starren Blick und der Hitlerfrisur. Seine unverwechselbare Gestalt überragte meine Sekretärin wie ein Leuchtturm eine dicke Düne.

»Lodda, nur zwei Minudn!«, schnarrte er in seinem scheußlichen fränkischen Dialekt.

Meine Halsschlagader pulsierte. Warum hatte es ihn nur ausgerechnet zu uns nach Niedersachsen verschlagen müssen? Und wie konnte er es wagen, einfach so hereinzuplatzen? Und mich »Lodda« zu nennen wie eine...dahergelaufene Fußballergattin? Jetzt, wo ich wirklich wichtigen Besuch hatte? Zwei Minuten bedeuteten bei ihm zwei Stunden. Er würde uns gleich einen Vortrag über das unglaubliche Talent seiner Tochter halten, darüber, dass sie eine sensationelle Weltkarriere hinlegen und damit Millionen und Abermillionen verdienen könne. Geld, das doch letztlich der ganzen Stadt, dem ganzen Land, ja dem Universum zugutekäme. Ich war mir sicher, dass er seit dem Unfalltod seiner Frau wahnsinnig geworden war. Im Grunde musste man Mitleid mit ihm haben. Erschöpft drückte ich den Rücken durch.

»Gerngroß, das geht jetzt nicht!« Seinen Vornamen hatte ich vor langer Zeit als unnützes Wissen verbucht. Ich hatte echt Wichtigeres im Kopf! Leider duzten wir uns, wie das zwischen den meisten Eltern und mir so üblich war. »Du siehst doch, ich bin in einer Besprechung!Mit einemWiener Philharmoniker!«

Doch davon ließ sich der Bäckermeister nicht abschrecken. Im Gegenteil. Jetzt hatte er ein neues Opfer gefunden.

»Des passt mir ganz genau. Des will ich ja grad erraichn. Des mer mit den internationalen Stars zusammenarbeidn. Da samma ganz vorrn dabai!« Er steckte meinem Gast die fleischige Hand hin: »Gerngroß. Ich bin der Vadda von der Viktoria. Die Vicki spielt die Klarinedde. Haben Sie die schon bemerkt?«

»Ich weiß nicht ...«

»Die Vicki kann man gar nicht übersehen, die sitzt nämlich ...«

»Gerngroß!«, zischte ich und ballte die Hände heimlich zu Fäusten.

»Ich mach die besten Bauernkrapfen im Umkreis von hundert Kilometern. Außerdem bin ich CDU-Mitglied und wär fast schon mal Börchermaister von Heilewelt geworden.«

Ich verdrehte genervt die Augen. Das wäre definitiv das Aus für unsere liebe Kleinstadt gewesen. Bäckermeister Gerngroß würde nicht mal davor zurückschrecken, einen Weltkrieg anzuzetteln, wenn seine Viktoria dadurch Karriere machen konnte. Mein Blick glitt ebenso Hilfe suchend wie wütend zu Brunhilde Zweifel, aber die hatte sich bereits mit erstaunlicher Wendigkeit aus der Gefahrenzone gebracht.

Christian Meran warf mir einen verständnisvollen Blick zu. »Auf Ihre Krapfen bin ich gespannt«, sagte er höflich zum aufgeregten Bäckermeister. »Und auf Ihre Tochter Vicki natürlich auch. Ich wollte sowieso gerade gehen.« Er griff nach seinem Flötenkoffer und wandte sich zur Tür.

Am liebsten hätte ich den Koffer genommen und ihn dem Bäckermeister über den Schädel gezogen! Er hatte es tatsächlich geschafft, meinen Besuch zu vertreiben!

Freundlich lächelnd gab Christian Meran mir die Hand: »Frau von Thalgau, wir sehen uns ja heute Abend im Konzert. Die Tempi haben wir besprochen, und wenn Sie so dirigieren, wie Sie die Musikschule leiten, werden wir nicht in Turbulenzen kommen.«

Ich wollte aber mit diesem Mann in Turbulenzen kommen! Allzu gern! Doch wer kommt in Heilewelt schon in Turbulenzen, wenn er drei Kinder und einen biederen Sparkassenleiter zu Hause hat? Der Einzige, der mir hier Turbulenzen machte, war ein größenwahnsinniger Bäcker, der sein behindertes Kind der Weltöffentlichkeit zum Fraß vorwerfen wollte. Aber das war doch kein Grund, einen Kinderstar aus ihr zu machen? Wenn Heilewelt ein Froschtümpel war, dann war der Bäckermeister der lauteste Frosch mit der größten Kehlkopf- blase. Irgendetwas in mir sträubte sich dagegen, sein vom Schicksal gebeuteltes Mädchen ins grelle Scheinwerferlicht zu zerren. Der Bäckermeister sollte lieber weiterhin kleine Brötchen backen - was er wirklich gut konnte - und hinter seinen Ofen gehen!

Gern hätte ich die filigrane Flötistenhand länger festgehalten, doch wieder wurde ich vom Bäckermeister verdrängt.

»Sagn S' mal.« Der Bäckermeister hinderte den Flötisten am Gehen und klopfte ihm jovial auf die Brust: »Sie sind doch bei einem Weltklasseorchester. Sie haben doch die besten Kontakte.«

Christian Meran schaute mich fragend an. Ich verdrehte die Augen. Ich wusste genau, was jetzt kam.

»Meine Vicki ist was ganz Besonderes. Man könnt sie weltweit vermarkten und richtig Kohle mit ihr machen. Sie sitzt nämlich ...«

»Sie sitzt im Orchester«, unterbrach ich ihn mit schneidendem Ton. »Wie viele andere Kinder auch.«

»Ja, aber sie spielt ausgesprochen gut Klarinedde. Und sie ist eben anders als die anderen. Des kommt gut rüber. Auch wer klassische Musik nicht mag, schaut hin, wenn des Mädel spielt.«

»Gerngroß!« Ich konnte mich gerade noch zurückhalten, ihm eine Stimmgabel an den Kopf zu werfen.

»Bildhübsch isse. Blonde lange Haare, ganz zartes Mädchen, wiegt kaum vierzig Kilo. Was könn mer denn da machn?«

Christian trat instinktiv einen Schritt zurück. »Das wird Frau von Thalgau Ihnen sicher sagen können. Schließlich ist sie die Direktorin dieser Musikschule.« Er zuckte hilflos mit den Achseln, als er mein wütendes Gesicht sah.

»Naa, die unterstützt mich net!« Der Bäckermeister war aufrichtig erbost. »Meine Vicki ist das Beste, was diese Musikschul zu biedn hat. Heilewelt könnte weltweit berühmt werden! Wir könnten die internationale Presse kriegn! Aber die Lodda will des net!«

»Ich will nur deine Tochter nicht in die Öffentlichkeit zerren, Gerngroß! Die soll hier eine schöne Kindheit haben, nach alldem, was ihr widerfahren ist!«

Christian Meran sah von einem zum anderen. Was ist ihr denn widerfahren?, schienen seine braunen Augen besorgt zu fragen. Außer diesem Vater? Kann es da noch eine Steigerung geben?

Der Bäckermeister wischte meine Einwände beiseite. »Sie als Profi müssen doch ihr Talent und ihr Vermarktungspotenzial erkennen. Des hat mit Mitleid nix zum tun! Die Vicki spielt heut Abend die Ende.«

»Das Ende?«, versuchte Christian Meran das Fränkische zu korrigieren.

»Die Ente«, übersetzte ich. »Nein, sie spielt die Katze. Die KATZE, Gerngroß. Die Oboe ist die Ente.«

»Wieso Mitleid?«, fragte Christian irritiert. »Wenn sie so begabt ist und so gut spielt?«

»Ihre Mutter ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen «, sagte ich mit belegter Stimme. »Und sie selbst wurde schwer verletzt.«

»Ende, Katse, des is doch wurscht!« Gerngroß baute sich vor Christian Meran auf: »Meine Vicki ist hochbegabt, auch ohne Beine! Mer ham en Test machn lassn, da war se drrraai! Da konnt se schon ›Alle maine Entchen‹ auf dem Klavier spieln! Fehläfrai!« Er packte Christian Meran an den Schultern. »Und jetzt nach dem Unfall könn mer se ganz toll vermarktn, das wär ein subber Image für die Musikschul. Da käm richtig Kohle rein.«

»Gerngroß!«, zischte ich warnend. »Es reicht.«

Der Bäckermeister klammerte sich am Flötisten fest: »Ich möcht Ihr fachmännisches Urteil einholn. Schaun S' sich des Madla an. Wie s' dasitzt. Ein Publikumsmagnet. Alle guggn nur auf meine Vicki. Sie muss zu ›Weddn dass‹!«

›Wetten, dass?‹ Christian Meran war sichtlich irritiert. »Als was?«

»Als Klarinettistin«, sagte ich trocken. »Die Noten lesen kann.«

»Meine Tochtä hat das Zeug zum Weltstar!« Der Bäckermeister packte den Flötisten am Ärmel. »Sie könne das doch bestimmt arrangiern! Sie kenne doch sichä den Gottschalk und die ganzen Leut vom ZDF!«

»Äh ... nein.« Christian Meran machte sich sanft los und trat noch einen Schritt zurück. Mehr ging nicht, denn dann kamen ich und das Fenster.

»Gerngroß, du vertreibst mir noch unseren wirklichen Weltstar «, stammelte ich betont fröhlich. »Nachher fliegt unser Vogel davon, noch bevor das Konzert begonnen hat!«

»Ach was! Ich lass mich nicht mehr ausbremsen von dir, Lodda! Du willst ja das Potenzial meiner Tochter net anerkenne! « Wütend funkelte mich der Bäckermeister an. »Du tust so, als wär sie irgendeine dahergelaufene kleine Schülerin wie alle andern, die von Tudn un Blasn keine Ahnung ham!« Ich schämte mich entsetzlich. Ich spürte, wie es in mir brodelte.

»Gerngroß, lass unseren Gast los!«

»Der will net kapiern! Genau wie du, Lodda! Mei Madla kann Weltkarriere machn! Aber nur solang se noch so klein ist! Die muss man JETZT vermarkten, JETZT! Später, wenn se aussieht wie alle anderen Rollstuhlfahrer, ist unser Pulver verschossen! « Er wandte sich erhitzt an den Flötisten, der sich hinter meinem Schreibtisch in Sicherheit gebracht hatte, während Frau Zweifel entsetzt durch den Türspalt spähte: »Ich hab schon alle Bäckerei-Großmärkte und Backwaren-Konzerne mit im Boot! Wenn meine Vicki erst berühmt ist, gibt es das VickiMohn- Hörnchen, das Vicki-Vollkorn-Brötchen und das Vicki- Schwatzbrot in jedem Supermarkt! Für den Knochenaufbau! Da steig mer ganz groß in die Werbung ein!«

»Gerngroß, das ist dermaßen deplatziert und geschmacklos ...« Ich schluckte.

»Vitamin B!« Der Bäckermeister hieb mit der Faust auf den Tisch. »Beziehunge! Meine Vicki braucht den Auftritt bei Weddn dass! Mit den Wiener Philharmonigern! Des lässt sich doch sichä ainrichtn! Sie kriegen von mir dafür lebenslang die Berliner gratis!«

»Wie? Die Berliner Philharmoniker?« Christian Meran war wirklich schlagfertig.

»Nein, SieWitzbold. Die Berliner Krapfen!«

Ich atmete schwer. Mir war die Situation völlig entglitten.

Christian Meran winkte ab: »Ach nein, vielen Dank. Ich versuche doch, in Form zu bleiben ...«

»Jetzt stellen S' sich doch nicht so stur!«, fiel ihm der Bäckermeister ins Wort. »Ich verköstige Ihr gesamtes Orchester lebenslang mit allen Backwaren, die Sie wollen. Vorausgesetzt, ihr lasst meine Vicki mit euch auftreten!«

Das artete fast in ein Handgemenge aus. Frau Zweifel überlegte bestimmt schon, die Polizei zu rufen. Ich schob mich zwischen die beiden Männer und versuchte meinen Gast zu schützen. Der legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter.

Erklärend drehte ich mich zu Christian Meran um: »Sie ist zwölf, und sie sitzt im Rollstuhl.«

»Ja, des isses ja gerade!« Der Bäckermeister raufte sich die Haare. »Kapiert des denn niemand hier in dieser verschissenen Kleinstadt? Mit den richtigen Partnern kann man die ideal vermarkten. Da kriegen wir viele Prominente mit ins Boot! Alle wollen doch was für behinderte Kinder tun, jetzt packen wir die Promis am Kragen!«

»Nur weil deine Vicki behindert ist, macht sie noch lange keine Weltkarriere!«

»Aber dieses Contergankind mit die kurzn Ärmchen! Der Sänger! Und die blinde Corinna! Behinderung sells!«

»Gerngroß, es REICHT!«

»Ich werde ganz sicher ein Ohr für Ihre Tochter haben.« Christian Meran zog seinen Anzug glatt und klopfte dem Bäckermeister tröstend auf die Schulter. »Aber aufgrund einer Behinderung pflegen die Wiener Philharmoniker niemanden einzustellen.«

»Weil die dumm sind!«, regte sich der Bäckermeister auf. »Wer will denn so einen Haufen langweiliger Männer im Frack fiedeln sehen? Ein blondes zartes Geschöpf im Rollstuhl dagegen ...«

»Herr Meran, danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben «, machte ich dem Spuk endgültig ein Ende.

Christian Meran schaffte es bis zur Tür. Bevor er ging, sagte er: »Bis heute Abend also. Und jetzt ruhen Sie sich so kurz vor dem Konzert noch ein bisschen aus.« Gelassen drehte er sich zum Bäckermeister um: »Kommen Sie, lassen wir die Dame allein.« Dankbar sah ich zu, wie Gerngroß hinter ihm her trottete, während mir mein Retter vielsagend zuzwinkerte.


ANITA

Nebenan schepperte das Gartentor. Ich schluckte und wagte nicht aufzublicken. Mist! Da kam Ursula Kobalik aus der Nachbarvilla angestapft. Sie würde doch jetzt nicht ... Warum musste sie denn immer ... Ja, hatte die denn überhaupt kein ... Da war sie schon.

»Wo ist er denn mal wieder, dein treuer Göttergatte?« Meine resolute Nachbarin aus der Villa schräg oberhalb unseres Hauses kam durch die offen stehende Terrassentür herein und steckte ihre Nase neugierig in meinen Kühlschrank. Ganz so, als würde Christian sich dort vor ihr verstecken!

Ich sah sie ratlos an. »Kann ich dir behilflich sein?« Irgendwie störte es mich, dass die robuste Ursula so tat, als gehörte ihr das Haus. Sie war meine Nachbarin, hielt sich sicherlich auch für meine Freundin. Aber wann hatte ich eigentlich vergessen, sie darauf hinzuweisen, dass es auf der Hausvorderseite auch eine Klingel gab?

»Hast du keinen Champagner da?«

»Doch, natürlich«, erklärte ich würdevoll. »Hier.« Ich öffnete den Getränkekühlschrank, der in die Bar integriert war. »Dom Perignon oder Moët & Chandon?« Ich drehte mich um und holte tief Luft. Ich würde sie ohnehin nicht so bald wieder loswerden, also konnte ich sie mir auch schöntrinken. »Ich hätte hier auch noch eine Piper Heidsieck, die hat Christian von einem Konzert mitgebracht. Oder einen ganz ordinären Mumm, den hat ihm eine Schülerin nach einem Meisterkurs geschenkt.« Irgendwie schaffte ich es, mir ein strahlendes Lächeln abzuringen.

Ursula lehnte sich erfreut an die Arbeitsplatte und rieb sich dieHände. »Och,gibmalher, wasoffenist.« Dann ließsiesich mit ihrem ausladenden Hintern auf einen Barhocker sinken und sah sich suchend um: »Ist er wieder auf Konzerttournee?«

»Ja, was denkst denn du!« Ich seufzte. »Einen Tag vor Heiligabend ist mein lieber Mann leider immer noch unterwegs.«

»Und du Arme musst hier ganz allein den Weihnachtsbaum aufstellen?«

»Also, wenn Christian bis morgen Vormittag nicht zurück ist ...« Ich schenkte der neugierigen Ursula ein Glas Champagner ein und prostete ihr zu. »Fröhliche Weihnachten jedenfalls. «

»Du, ich schick dir meinen Jarek rüber, der macht das!« Im Nu hatte Ursula Kobalik ihr Handy aus den Untiefen ihrer kaschierenden Gewänder gezogen und schrie hinein: »Jarek, wenn du bei uns drüben fertig bist, kommst du gleich rüber zu Frau Meran und stellst ihr den Baum auf! Aber zieh dir vorher die Stiefel aus, ihr Parkett ist schon geputzt!«

Sie grinste mich triumphierend an und leerte ihr Glas auf einen Zug. »Wer ist denn deine Putzfrau? Die ist ja wirklich klasse!«

»Also, ehrlich gesagt, habe ich das selbst gemacht.«

»Spinnst du? Du putzt selbst?«

»Na ja, meine letzte Perle hat mich verlassen.«

»Wieso hat die dich verlassen?«

Ursula Kobalik stützte die Hände in ihre massigen Hüften und sah mich an wie ein General einen kleinen Gefreiten, der nicht anständig gegrüßt hatte. Für den Moment schien es ihr die Sprache verschlagen zu haben.

»Sie hat geheiratet«, entschuldigte ich meine treue Perle Annegret. »Ihr Mann möchte nicht, dass sie putzt.«

»Was ist denn das für ein eingebildeter Schnösel?« Wütend steckte sich Ursula eine Zigarette an und qualmte mir die Küche voll. »Den Leuten geht's einfach zu gut!« Auf ihren Wangen erschienen hektische rote Flecken. Erneut wühlte Ursula Kobalik nach ihrem Handy und schnauzte hinein: »Olga? Du kommst mir bitte zum Putzen! Nein, nicht bei mir, sondern bei meiner Nachbarin, Frau Anita Meran! Die hellgelbe Villa rechts neben uns! Du weißt schon, die mit den Bremer Stadtmusikanten im Garten!«

Die Skulptur war ein Geschenk der Kobaliks gewesen. Zum Einzug. Sie fanden das stilvoll. Die Bremer Stadtmusikanten aus Marmor. Weil Christian ja Flötist war.

»Aber ich brauche gar nicht unbedingt ...«

»Pscht!« Ursula Kobalik legte ihren Finger auf die Lippen und bedeutete mir, sie nicht zu unterbrechen. »Ich weiß, dass morgen Heiligabend ist!«, schnauzte sie weiter ins Handy. »Aber diese arme Frau wurde von ihrer Putzfrau verlassen! Ja, was soll sie denn da machen! Was? Ja, meinetwegen, bring deine Schwester mit. Aber nur für den groben Dreck, den Rest machst du.« Triumphierend hielt sie mir ihr Glas hin, das ich gleich wieder füllte. »Hunde und Putzfrauen«, sagte sie zufrieden, »brauchen den gleichen klaren Ton.«

Moment mal! Wieso organisierte Ursula Kobalik mein Leben? Ich hatte sie schließlich nicht darum gebeten! Mir fiel kurzfristig keine Antwort ein. Ich legte den Kopf schräg wie ein Hund oder vielleicht auch wie eine Putzfrau, die nicht genau verstanden hat, was sie tun soll.

»Es soll doch alles wunderschön sein, wenn dein Mann wiederkommt!« Ursula Kobalik grinste breit, sodass ich einen Blick auf ihre weiß gebleichten Zähne werfen konnte. Mütterlich tätschelte sie mir die Schulter: »Du brauchst doch morgen Zeit, dich selbst schön zu machen. Also nicht, dass du nicht schön WÄRST! Aber ich wette, für deinen Christian machst du das ganze Programm: Beine rasieren, Duftmaske, Maniküre, Pediküre, Haare schön, Möpse schön ...« Sie lachte fett.

»Ach, Ursula!« Ich lachte auch. Was blieb mir auch anderes übrig? »Meinst du, das mache ich nur an Weihnachten und Ostern?«

»Nee. Ick weeß ja, dass de früher mal Model warst.« Wenn Ursula Kobalik ihre Vornehmheit vergaß, verfiel sie wieder in ihren Berliner Dialekt. »Und 'n Topmodel gleich dazu! Wenn ick heute die Heidi Klum und diese kleenen ordinären Jänse im Fernsehen sehe, denn denk ick imma, die hätten mal die Anita sehen sollen, als se jung und ledig war, wa!«

Sie lachte, dass ihr Doppelkinn schwabbelte. »Na ja, und jetzt sind deine Gören schon so hübsch wie de Mutta, wa! Die Große hat ja 'n Buuuusn! Det is ja der Hamma!«

Sie warf einen Blick auf unseren Konzertflügel, auf dem die gold gerahmten Fotos von unseren Töchtern standen: Grazia, die gerade strahlend ihren Golfpokal entgegennahm, und Gloria, die ganz verliebt ihr Pferd streichelte. »Wo sind se denn, die zwee Küken?«

»Bei ihren Freunden«, sagte ich lahm. »Vorglühen.«

»Wat issn det?« Ursula Kobalik nahm die Champagnerflasche und bediente sich einfachheitshalber selbst.

Das, was du gerade tust!, dachte ich leicht genervt. Aber ich traute mich nicht, das zu sagen. Ursula meinte es gut, das wusste ich, und sie hatte es auch nicht gerade leicht mit ihrem Wolfgang. So kam sie immer mal wieder auf ein Schwätzchen vorbei. Leider ging sie nie freiwillig. Ich musste mir immer einen Trick einfallen lassen, um sie wieder loszuwerden. Sie zog fragend eine Braue hoch, sodass ich mich gleich wieder wie in der Schule fühlte. Ein bisschen ertappt irgendwie.

»Wat machen die Mädels?« Ihre Stimme hatte einen entrüsteten Unterton.

»Sie trinken sich warm«, erwiderte ich lasch. »Für eine Party.«

»Und det erlaubste?!«

Ich kniff die Lippen zusammen. »Sie sind sechzehn und vierzehn, also was soll ich ihnen da noch verbieten? Außerdem vertraue ich ihnen.«

»Aba Sex ham se keenen, wa?!«

»Natürlich nicht«, erwiderte ich hastig. Also, alles musste Ursula Kobalik ja nun auch nicht wissen! Wenn sie allerdings weiterhin scheinbar zufällig sämtliche Schubladen öffnete, wie sie das gern beim Plaudern tat, würde sie bestimmt noch die Pille meiner Ältesten finden. Die ließ sie nämlich völlig ungehemmt überall herumliegen, genau wie ihren Nagellack, ihre Stringtangas und ihre Hygieneartikel. Wir waren ein moderner Frauenhaushalt - warum auch nicht? Deswegen störte es mich auch so, dass gleich ein fremder Jarek und morgen eine fremde Olga hier anrücken würden, um »unseren Dreck wegzumachen «. Das konnten wir selbst. Oder, um bei der Wahrheit zu bleiben: ICH selbst. Ich hatte ja sonst nichts zu tun.

»Das wäre auch fatal, wenn du jetzt schon Großmutter würdest «, sagte Ursula Kobalik und nahm das Foto von Christian und mir von der antiken Truhe, auf dem wir mit der Fürstin Seyn oder nicht Seyn auf dem Wiener Opernball zu sehen waren. »Dann hätte det schöne Leben hier ein Ende.«

»Aber Ursula, wo denkst du hin!« Ich schenkte ihr erneut das Glas voll, während ich immer noch beim ersten war.

»Ick wünsch dir jedenfalls nich so 'n überfressenen Enkel, wie ick een hab.« Ursula prostete mir fröhlich zu. »Meine Tochter hat sich gerade scheiden lassen, und nun steht se mit ihrem dicken Bengel quasi auf der Straße. Jetzt müssen wir ein Haus für sie finden.« Sie winkte ab, als sei das kein Thema für mich. »Und wo isser nu, der schöne Christian?« Ursula Kobalik musterte mich kontrollsüchtig.

»In irgend so einem Kaff namens Heilewelt«, sagte ich matt. »Da gibt er heute Abend noch ein Konzert in einer Musikschule. «

»Wat? In so einem Provinznest? Hat der det nötig?« Fragend rieb Ursula Kobalik Daumen und Zeigefinger aneinander. »Geht es euch etwa so schlecht?«

»Quatsch! Er fand den Namen lustig. Heilewelt.« Ich leerte hastig mein Glas. »Erst dachte ich, den Namen hat er sich nur ausgedacht, um mich zum Lachen zu bringen. Du weißt ja, wie Christian ist.«

»Na klar. Immer 'n lockeren Spruch auf den Lippen.«

»Aber es gibt diesen Ort wirklich. Und da er auf dem Weg lag, dachte er, er tut noch was Gutes.«

»Aha«, sagte Ursula Kobalik. »Na, Hauptsache, der Lauser kommt morgen pünktlich zum Fest.«

Der Lauser! Ich schluckte trocken. Aber sie war nun mal eine typische Berlinerin mit Kodderschnauze. Die reden so. Sie meinte es nicht böse, also überhörte ich es einfach.

»Natürlich«, sagte ich resigniert und hielt fragend die leere Flasche hoch. »Sollen wir noch eine aufmachen?«


LOTTA

Um fünf vor acht stand ich in meiner Künstlergarderobe, bereit für den Auftritt. Hundert aufgeregte Kinder saßen bereits auf der Bühne und stimmten ihre Instrumente. Ich verzog schmerzlich das Gesicht. Wie viele Möglichkeiten es doch gab, einen Ton zu verfehlen! War ich froh, dass ich wenigstens einen Profi dabeihatte! Christian Meran würde das Konzert auf jeden Fall retten, selbst wenn alles aus den Fugen geriet. Wenn er seinen »Vogel« so bravourös spielte, wie ich ihn aus dem Fernsehen kannte, konnten die anderen die reinste Kakofonie anstimmen. Nervös trippelte ich vor dem Spiegel herum und versuchte, meine Rückseite zu betrachten: Schließlich war es dieser Anblick, den das Publikum im Saal von mir bekommen würde. Wie sagte meine Mutter Margot immer? Du müsstest dich mal von hinten sehen, Kind! Kaschiere deinen Hintern. Mutter Margot meinte es nicht so: »Es ist ja nur zu deinem Besten. Man muss auch mal ein bisschen Kritik einstecken können.« Und das tat ich zur Genüge: Von Mutter Margot steckte ich Kritik ein, seit ich denken, sprechen und Tränen runterschlucken konnte. Und versuchte ihr mit meinen fünfunddreißig Jahren immer noch zu gefallen. Ihr etwas anderes abzuringen als »berechtigte Kritik«, für die ich »dankbar sein« könne. Ein banger Seufzer entrang sich meiner Brust. NEIN, ich war kein Model. Mein Hosenanzug von C &A hatte Größe vierzig. Na und? Und der länger geschnittene Blazer konnte meine, sagen wir mal, weiblichen Rundungen auch nicht komplett verbergen. Mein Hintern hielt zu mir - mit einer Treue und Loyalität, die mir nicht einmal meine nächsten Verwandten entgegenbrachten. Hatte ich mir da nicht zu viel zugemutet? Würden wir dieses schwierige Stück wirklich schaffen? Immerhin würde die örtliche Presse anwesend sein. Justus Schaumschläger vom Heilewelter Tagblatt wuselte jetzt schon in seiner unsäglichen Lederjacke hier herum und machte Fotos. Alle Eltern und Kinder zusammengenommen, die bereits im überfüllten Saal saßen, waren bestimmt nicht halb so aufgeregt wie ich. Das war das erste wirklich große Konzert in meiner eigenen Musikschule, und ich wollte es allen beweisen. Nicht zuletzt Jürgen Immekeppel, meinem Lebensgefährten, der mir damals den Kredit für meine Musikschule gewährt hatte.

Als es klopfte, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Oh Gott, jetzt bitte nicht irgendein Kind: »Frau von Thaaaaalgau, meine Geigensaite ist gerissen«, oder: »Ich kann mein Cello nicht finden!«, oder: »Meine Oma hat keinen Sitzplatz!«, oder: »Ich muss noch mal aufs Klo!« Cool bleiben. Ich war hier die Chefin. Ich räusperte mir die Angst von den Stimmbändern: »Herein?«

Wehe, wenn das jetzt wieder der Bäckermeister war! Der brachte es fertig, noch eine Minute vor dem Auftritt zu nerven! Ich würde ihn mit meinem Dirigentenstab erdolchen! Doch zu meiner Überraschung war es Jürgen. Er trug zur Feier des Tages seinen etwas knapp sitzenden braunen Sparkassenanzug mit dem blasslila Hemd und der grauen Krawatte. Er hatte sich einen akkuraten Seitenscheitel gezogen, was ihn noch biederer aussehen ließ als sonst. Irgendwie machte auch er einen erstaunlich nervösen Eindruck, was er rührend ungeschickt zu verbergen suchte. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Mit ihm waren noch ein Dutzend gelbe Sparkassenluftballons zur Tür hereingequollen. »Wir sichern Ihren Kindern eine Zukunft. « Und ein riesiger Blumenstrauß. Was sollte ich denn jetzt damit? Ach, er meinte es ja nur gut.