Im Land der Mitternachtssonne Roman

Im Land der Mitternachtssonne  Roman
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Produktbeschreibung

1929: Ronan will den Menschen, die er nach seinem Tod zurücklässt, ihre Wünsche erfüllen. Er beginnt bei seiner großen Liebe Tess. Mit ihr wagt er die Reise seines Lebens: nach Alaska. Denn Ronan will die Mitternachtssonne sehen, den Tag erleben, der niemals endet.
 

Klappentext zu „Im Land der Mitternachtssonne“

1929. Alaska, San Francisco und Hawaii. Sechs Wünsche stehen auf Ronans Liste. Sechs Gefühle. Nicht sich selbst will er sie erfüllen, sondern denen, die er zurücklässt, wenn er stirbt. Sie sollen die Lebensfreude entdecken, bevor es zu spät ist. Sein erstes Geschenk gilt seiner großen Liebe Tess. Sie hat ihren Mann und ihre Tochter verloren. Ronan fühlt mit ihr - doch Tess Schicksal gibt ihm auch den Mut, mit ihr die Reise seines Lebens zu wagen: den Flug nach Alaska. Er hat einen letzten Wunsch: Er will die Mitternachtssonne sehen, den Tag erleben, der nie endet ...

 

Lese-Probe

Im Land der Mitternachtssonne von Norah Sanders


Freundschaft
April 1929

1

Gefrorene Einsamkeit.

Wie eine Schneekugel, die erst noch geschüttelt werden muss, dachte Tess, während sie den zugefrorenen Fjord vor ihrem Haus überquerte. Über ihr wogte das Polarlicht durch den vor Kälte flirrenden Sternenhimmel. Unter den Schleiern aus Licht leuchteten die verschneiten Berge limettengrün, während der Himmel lavendellila glühte. Wie Kristallsplitter funkelten die Sterne.

Eine Windbö schob Tess vor sich her. Ihre Bewegungen waren kraftvoll und geschmeidig, und ihre Ski glitten leicht über den Schnee. Eiskristalle prasselten ihr ins Gesicht, aber Tess spürte sie nicht. In der eisigen Kälte dieser Frühjahrsnacht war ihr Empfinden eingefroren, genau wie ihre Gefühle. Nur den Schmerz konnte sie noch spüren, die Trauer und die Leere.

Unter ihren Ski knirschte das Eis, das wohl bald aufbrechen würde. Der Spring Breakup, der Frühjahrseisbruch, stand kurz bevor, und Tess suchte das Eis nach ersten Rissen ab. Nichts zu sehen. Ihr Husky, der einige Schritte zurückgefallen war, schloss wieder zu ihr auf. Er zog den Schlitten mit ihrer Ausrüstung, der Thermoskanne voll Kaffee und der Winchester. Ricky winselte, während er nun neben ihr hertrabte und immer wieder zu ihr aufsah. Er musste ihre aufgewühlte Stimmung gespürt haben. Seine blauen Augen blitzten. Er wusste, was jetzt kam.

Eine Woche war es her. In einer halben Stunde war es genau eine Woche her, dass ihr Mann und ihre kleine Tochter gestorben waren.

Ihre Tränen froren an ihren Wimpern fest, und sie musste blinzeln, als sie zum glühenden Himmel aufsah.

Jason und Sheena konnten sich nicht retten. Waren sie sofort tot? Oder starben sie unter Qualen, während sie von der Strömung unter das Eis gezogen wurden?

Dieser Tag hatte ihr Leben verändert. Für immer.

Mit dem Fellfäustling wischte sie die Tränen fort.

Okay, Tess, die letzte rote Laterne!

Tess holte sie vom Schlitten, wo die dreißig Petroleumlampen eben noch gegeneinander gescheppert hatten. Sie stellte sie am Ende der Reihe aufs Eis und entzündete sie. Dann zog sie die Pelzkapuze ihres Overalls tiefer über den Lederhelm mit der hochgeschobenen Fliegerbrille und blickte zurück auf die lange Reihe grüner, weißer und roter Petroleumleuchten. Sie markierten die Startbahn aus festgetrampeltem Eis und Schnee.

Da vorn, mitten in diesem verzauberten Winterland Alaska, leuchtete ihre geparkte Lockheed Vega im Schein der blassgrünen Lichtwirbel. Und dort drüben, vor der grandiosen Kulisse der verschneiten Berge, funkelten die Lichter ihrer Lodge.

»Ricky, mein Junge, los geht's!« Tess klopfte dem Husky auf die aufgeregt bebenden Flanken, und er legte die Ohren an und grinste erwartungsvoll. Sie hielt ihm ihre Hand hin, und er legte seine Pfote hinein und berührte mit der reifbedeckten Schnauze ihre Finger. Seine Lauscher stellte er dabei wieder auf. Echt süß, ihr Großer, der gerade sechs geworden war. Als Tess ihn geschenkt bekam, hatte das jiffelnde, flauschige Fellknäuel in ihre Hand gepasst. Als Welpe war er völlig verspielt gewesen. Wie ein Verrückter hatte er mit gerecktem Schwanz und aufgestellten Ohren auf ihrem Bett herumgetobt, als wären die weißen Daunendecken eine herrlich weiche Schneeverwehung, in die er sich ausgelassen japsend werfen konnte. Und wenn Ricky wie ein Eisbärenbaby in der warmen Wanne herumpaddelte und den Kopf über den Badeschaum reckte, hatte sie Tränen gelacht.

Als Tess ihm jetzt den Nacken kraulte, warf er den Kopf hoch und schnappte nach ihrer Hand, biss sanft zu und ruckelte daran. Das machte er immer, wenn er wie ein kleines Kind auf ihrem Schoß saß, mit dem Rücken gegen sie gelehnt und alle viere von sich gestreckt. Das war seine Art zu sagen: Ich liebe dich auch. Und ich passe auf dich auf. Albern, aber niedlich.

Und irgendwie rührend. Denn außer Ricky war ja niemand da, der sie in den Arm nahm, um sie zu trösten.

Mit dem lähmenden Schmerz, der sich in ihrem Körper festgesetzt hatte, musste sie allein klarkommen. Mit der Trostlosigkeit, der Wut, der Trauer, der Angst, dem Alleinsein. Und der Sehnsucht nach Liebe. Nach zärtlich geflüsterten Worten und leidenschaftlichen Berührungen.

Tess verstaute die Ski und die Stöcke im Schlitten. Dann raffte sie ihren pelzgefütterten Overall, den sie über ihrer Fliegerkombi aus verblichenen Jeans, Schnürstiefeln, Norwegerpullover, Seidenschal und Lederjacke trug, stellte sich hinten auf die Stahlkufen, setzte einen Fuß neben die Trittbremse und ergriff die Lenkstange. Ricky warf sich mit seinem ganzen Gewicht in die Brustgurte, der Schlitten ruckte an und glitt über den verharschten Schnee zurück zur Shooting Star.

Schneeschleier, fein wie Morgendunst, hüllten das neongelbe Flugzeug mit den knallblauen Seitenstreifen ein, und der Propeller glitzerte unter einer dünnen Schicht Raureif.

Tess sehnte sich nach der grenzenlosen Freiheit, nach der Schwerelosigkeit des Glücks, die sie nur in ihrer Vega oben am Himmel erleben konnte. Aber gleich war es so weit.


Sobald sie Ricky ausgeschirrt hatte, schob sie ihn die Tritte hinauf auf die Vega. Seine Pfoten kratzten knisternd über den Raureif, fanden aber keinen Halt, bis er mit wedelnder Rute auf der Tragfläche stand. Tess kletterte mit ihrer Tasche und der Winchester hinter ihm her und entriegelte das obere Cockpitfenster. Durch die Einstiegsluke sprang Ricky hinunter ins Cockpit, landete auf dem mit einem Grizzlyfell bezogenen Pilotensessel und blickte mit keck aufgestellten Ohren zu ihr hoch.

»Vergiss es, Kumpel. Ich fliege.«

Der Husky schüttelte sich die Eiskristalle aus dem dichten Winterfell, legte die Ohren an und sprang auf den heruntergeklappten Notsitz hinter dem Pilotensessel. Dort hockte er sich auf das zerfledderte National Geographic mit dem Artikel Alaska, The last Frontier über ihre Flugexpeditionen zur Erforschung der Wildnis nördlich des Yukon. Schwanzwedelnd grinste er Tess mit gebleckten Zähnen und heraushängender Zunge erwartungsvoll an.

»Braver Junge.«

Ricky japste zufrieden.

Weiße Atemwolken waberten vor den radiumerleuchteten Instrumenten vorbei, als sie sich ins Cockpit schob, auf den Pilotensitz glitt und die Luke über ihrem Kopf verriegelte. Zwischen den Kabeln, die vom Panel herabhingen, stellte sie ihre Füße auf die Pedale. Bevor sie sich anschnallte, zog sie Sheenas Teddybären aus der Tasche, die sie neben ihren Sitz gelegt hatte, und schob ihn in den Ausschnitt ihres Overalls. Der Teddy hieß Roosevelt und war tatsächlich ein Geschenk des ehemaligen Präsidenten Theodore Roosevelt an Shannon Conroy Brandon, die für Tess wie eine Mutter gewesen war. Shannon hatte das niedliche Plüschtier ihrer ... ja, was war Sheena eigentlich: ihre Enkelin? Na ja, beinahe! ... zur Geburt geschenkt.

»Also los!« Tess wischte mit ihren Fäustlingen aus Kaninchenfell über die Instrumente, die unter dem dichten Atemhauch rasch beschlugen. Dann schob sie die Pelzkapuze zurück, zog die Pilotenbrille nach unten und startete den vorgewärmten Motor. Bevor sie vorhin losgezogen war, um die Startbahn auszuleuchten, hatte sie die Maschine vollgetankt. Und, na klar, das wegen der Kälte abgelassene Öl nachgefüllt, die Plane vom Motor gezogen, die Bremsklötze weggekickt und die Sicherungsleinen gekappt, die das Flugzeug auf dem Eis verankerten.

Aus den Auspuffstutzen quollen weiße Qualmwolken, und mit einem schrillen Sirren sprang der Propellermotor an, ein Pratt & Whitney mit kraftvollen 457 PS. Tess schob den Gashebel vor. Alles klar so weit - der Motor war warm genug. Das Flattern wurde rasch zum ohrenbetäubenden Dröhnen, das die ganze Maschine und Tess mit ihr vibrieren ließ. Das Flugzeug bebte, als zerrte ein Sturm an den Tragflächen.

Ja, so mag ich das!, dachte Tess und genoss das wohlige Gefühl, das sich warm in ihrem Unterleib zusammenzog. Dieses Donnern, das ihr Herz schneller schlagen ließ, hatte ihr in den letzten Tagen viel Kraft geschenkt. Trost. Gelassenheit.

Nein, sie hatte nicht alles verloren, als ihr Leben über ihr eingestürzt war. Ihre Sehnsucht, ihr Traum von grenzenloser Freiheit, war ihr nicht fortgerissen worden. Träume konnten wahr werden. Sie würde sie wahr machen.

Ihre Welttournee würde sie wie geplant durchführen und mit ihrer Vega um den ganzen Erdball fliegen.

Vor Kurzem hatte der Medientycoon und Millionär William Randolph Hearst sie gebeten, auf dem Luftschiff Graf Zeppelin als erste Frau und als Pionierin der Luftfahrt wie Charles Lindbergh und Amelia Earhart die Welt zu umrunden. Start in der ersten Augustwoche in Lakehurst nahe New York City. Mit der Finanzierung der Weltumrundung hatte Will sich die Exklusivrechte an der Berichterstattung gesichert. Ein Flug um die Welt! O ja, Tess war sofort begeistert gewesen. Natürlich wollte sie fliegen! Aber nicht als Passagierin mit dem Zeppelin, o nein, Will, sondern mit dem eigenen Flugzeug! Eine Welttour? Will Hearst war völlig hin und weg gewesen. Tess Tyrell als erste Frau, die um die Welt flog! Was für eine Schlagzeile auf den Titelblättern seiner Zeitungen, was für eine Auflage für eine groß aufgemachte Fortsetzungsstory! Aber warum eigentlich nicht gleich ein Buch daraus machen, wie Charles Lindbergh und Amelia Earhart es getan hatten? Beide waren Bestseller geworden!

Monatelange Vorbereitungen in Honolulu, Darwin, Singapur, Kalkutta, Khartoum und New Orleans waren gefolgt. Aber nachdem Jason und Sheena vor einigen Tagen gestorben waren, lag natürlich alles auf Eis. Nein, auf keinen Fall wollte Tess Jasons Nachfolge als Geschäftsführer der Tyrell Commercial Company in Alaska antreten, worum Ronan als Aufsichtsratsvorsitzender sie gebeten hatte, sondern sich künftig ausschließlich ihrer Leidenschaft widmen: der Pionierfliegerei und der Jagd nach neuen Rekorden.

Schon seit sie zehn Jahre alt war, begeisterte sich Tess für das Fliegen. Shannon Conroy Brandon, die Mutter ihres besten Freundes Ronan aus den Zeiten gemeinsamer Sandkastenabenteuer, hatte sie mitgenommen, damals in San Francisco. Sie waren in einer DeHavilland im Tiefflug durch den Grand Canyon gedonnert. Ein unvergessliches Erlebnis! Fliegen - ja, das wollte Tess!

Ihre Taschen und Transportboxen für den Hopser nach Kalifornien hatte Tess am Nachmittag gepackt, als sie die Stille in der Lodge nicht mehr ausgehalten hatte. In San Simeon wollte sie mit Will Hearst in den nächsten Tagen die geplante Welttour besprechen. »Klar, kommen Sie auf einen Sprung vorbei, Tess. Im Hearst Castle kennen Sie sich ja inzwischen besser aus als die Stars und Sternchen, die ich aus Hollywood einfliegen lasse. Bleiben Sie zur Party am nächsten Freitag? Ich habe einen viel versprechenden jungen Schauspieler eingeladen: Clark Gable. Oh, da fällt mir ein, Cary Grant ist auch da. In dem Hollywoodepos, das über Sie gedreht wurde, spielt er die Rolle Ihres Mannes Jason, nicht wahr? Der Streifen ist übrigens als Best Picture für den ersten Academy Award nominiert. Haben Sie schon die Einladung zur Verleihung in Hollywood bekommen? Ja? Oh, Tess, es tut mir ja so leid. Ich bin immer noch erschüttert. Jason Tyrell war ein großartiger Mensch. Ich habe ihn sehr geschätzt. Sein Tod ist ein tragischer Verlust. Nein, Tess, ich verstehe, dass Sie nicht bis zur Party bleiben wollen, sondern sofort nach San Francisco zurückfliegen. Ihr Freund Ronan Brandon wird sich freuen.«

Als Tess sich mit den Pelzhandschuhen übers Gesicht wischte, fiel ihr Blick auf die Borduhr. Kurz vor zehn. In San Francisco war's jetzt kurz vor elf. Was Ronan wohl gerade tat? Als sie gestern telefonierten, sagte er, er sei die ganze Zeit in Gedanken bei ihr. »Liebes, ich bin immer für dich da«, hatte er geflüstert, selbst den Tränen nah. »Ich werde alles tun, um dich zu trösten und dir zu helfen, mit der Trauer und dem Schmerz klarzukommen.«

Sie stellte sich vor, wie er jetzt gerade zum Sternenhimmel blickte und an seine Sternschnuppe dachte - so hatte er sie immer genannt, weil ihn die Landelichter ihrer Lockheed Vega an eine Sternschnuppe erinnerten. Und weil immer Wünsche in Erfüllung gingen, wenn sie sich wiedersahen . . .

Nein, Tess, nicht daran denken!

Sie wollte sich nicht vorstellen, wie er seinen Arm um sie legte und seine Hand auf ziemlich provozierende Weise in die hintere Tasche ihrer Jeans schob. Wie er sie nah an sich zog und ihr einen Kuss auf den Mundwinkel hauchte. Wie sie seine zärtlichen Berührungen genießen würde. Wie sie sich nach ihm sehnte. Aber er war in Kalifornien, und sie war in Alaska. Zwischen ihnen lag ein weites Trümmerfeld zerstörter Träume, gescheiterter Ehen, verletzter Gefühle. Wut, Enttäuschung, Traurigkeit.

Aber das Herzklopfen blieb, wie am ersten Tag.


Eine Bö rüttelte die Maschine durch, die jetzt mit röhrendem Propeller auf den Kufen zum Start rumpelte. Tess schaltete die Taschenlampe an, die an einer Schnur von der Decke hing und den Kompass beleuchtete. Gut. Sie drehte die Vega gegen den Wind, bremste ab und überblickte die Startbahn. Startpunkt erste weiße Lampe. Dahinter flackerten die roten Petroleumlampen, die das Ende der ebenen Eisfläche markierten.

Ricky schob seine Schnauze unter ihrem Arm hindurch und winselte schrill. Tess knuddelte den silbrig weißen Husky, den Leithund ihres Schlittenteams, ordentlich durch und kraulte das dichte Fell in seinem Nacken. »Alles klar, Kumpel? Preflight check okay. All systems go. Ready for takeoff.«

Ricky richtete sich auf dem Notsitz auf und legte seine Schnauze auf ihre Schulter.

Der Himmel, den Tess durch den wirbelnden Propeller erkennen konnte, sah jetzt aus wie schwarzer Samt mit Glitzer. Eiskristalle prasselten gegen die Cockpitscheibe.

Tess schob den Gashebel weiter vor. Mit röhrendem Motor setzte die Vega sich in Bewegung. Mit harten Stößen glitten die Kufen über das wellige Eis der Startbahn, zuerst langsam, dann immer schneller. Vor ihr flackerten die grünen, weißen und roten Laternen und kamen schnell näher. Okay, jetzt das Höhenruder. Ein Blick zum Fahrtmesser. Fünfzig Meilen pro Stunde. Fünfundfünfzig. Sechzig. Tess zog das Steuer an, und die Vega, die plötzlich von einer Bö emporgerissen wurde, hob nach einem letzten harten Hopser ab. Steigflug mit acht Fuß pro Sekunde!

Ihr Herz machte einen Satz, und alles Schwere, das sie eben noch niedergedrückt hatte, fiel plötzlich von ihr ab. So war es jedes Mal. Kaum war sie gestartet, fühlte sie sich frei. »Cheerio!«

Sie trimmte die Maschine, richtete sie auf diese Weise aus und kontrollierte die Skalen der Instrumente. Nur sie gaben Auskunft über die Lage der Maschine, denn außer dem Sternenhimmel konnte sie durch die Cockpitfenster nichts erkennen. Wenn sie nicht gegen einen Berg wie den Mount Alyeska vor ihr krachen und abstürzen wollte, durfte sie nicht auf ihr Gefühl vertrauen, sondern musste sich auf die Instrumente verlassen. Die Zeiger der Skalen bewegten sich gemächlich. Wind: okay. Höhe: tausendachthundertvierzig Fuß. Airspeed: fünfundneunzig Meilen pro Stunde. Alles prima!

Noch im Steigflug setzte sie zu einer weiten Kurve an und blickte durch das rechte Seitenfenster hinunter zu ihrem Haus am felsigen Ufer des Fjords. Da unten lag die einsame Lodge in der Wildnis einige Meilen östlich von Hope. Deutlich konnte Tess die Stelzen erkennen, auf denen sie zum Schutz gegen eine Sturmflut errichtet worden war, und den langen Bootssteg, wo im Sommer ihre Gipsy Moth vertäut lag. Ihr anderes Flugzeug war mit Schwimmern ausgestattet. Im Busch war es oft schwierig, geeignete Landeflächen zu finden. Zu viele majestätische Bergketten wie die Chugach Mountains oder die Alaska Range, zu viele Flüsse wie der Yukon, der Matanuska, der Susitna oder der Tanana, zu viele zerklüftete Gletscher, hohe Fichten, Sümpfe und Seen. Mit ihrer Gipsy Moth konnte sie jedoch auf der kleinsten Wasserpfütze landen.

Hinter der Lodge begann die Wildnis von Kenai. Zwischen hohen, schneebedeckten Bergen und baumbestandenen Steilhängen führte ein Tal hinauf zum Sixmile Creek und zur Geisterstadt von Sunrise, die der letzte verbliebene Bewohner ein wenig zynisch schon in Sunset umbenennen wollte.

Im Sommer 1895 war am Sixmile Creek Gold gefunden worden. Über Nacht wurde ein großes Goldgräbercamp mit Hütten und Zelten aus dem Boden gestampft, und innerhalb von zwei Jahren war Sunrise eine der größten Goldrauschstädte in Alaska, mit drei Saloons, einem Restaurant und einem Post Office, das in der Handelsstation der Tyrell Commerical Company untergebracht war, damals noch Tyrell & Sons unter der Leitung der legendären Gründerin Caitlin Tyrell. Die Goldfunde am Yukon und am Tanana ließen die Stampeders weiterziehen, und Sunrise verfiel zu einer Geisterstadt. Der Handelsposten war vor sechs Jahren abgerissen und als Feuerholz verbrannt worden, als Jason nach dem Tod von Caitlins Enkel Colin, seinem Vater, die Geschäfte des Unternehmens in Alaska übernommen hatte.

Tess flog jetzt an der Küste entlang nach Westen. Am Ufer des Fjords flitzten baumbestandene Felsen unter ihr vorbei. Und dann kam auch schon Hope in Sicht.

Also gut, es war keine Geisterstadt. Downtown Hope mit seinen dreiundzwanzig Einwohnern versprühte nach all den Jahren immer noch den Charme eines Goldgräbercamps: verfallene Blockhütten mit Spitzenvorhängen vor den Fenstern und Blumenkästen neben der Verandaschaukel, davor rostende Lastwagen, die während der Schneeschmelze im Jahr Neunzehnhundert-weiß-nicht-wann im Schlamm der Main Street stecken geblieben waren.

Die fiesesten Alaska-Witze trafen auf Hope zu, zum Beispiel der hier: Es gibt drei Jahreszeiten - Winter, Immer-noch-Winter und Bald-wieder-Winter. Oder der: Der effektivste Mückenschutz in Alaska ist eine Schrotflinte. Und noch einer: Du rufst in San Francisco an und bestellst dir was Hübsches aus dem Versandhauskatalog. Alaska? Tut mir leid, Ma'am, wir liefern nicht außerhalb der USA! So lebte es sich in Hope am Rande des bekannten Universums. Einige der General Stores gab es tatsächlich schon seit 1896. Und im schwarzen Sand des Resurrection Creek konnten Freizeitgoldgräber immer noch Goldstaub waschen, für den sie in einem der Cafes ein Bärensteak mit Cranberrysauce und trotz der Prohibition eine Flasche Whiskey bekamen. Das einzige Restaurant entsprach tatsächlich dem alten You-know-you're-in-Alaska when . . .-Witz: Ja, es gab tatsächlich zwei Gewürze auf dem Tisch, Ketchup und Tabasco. Ziemlich romantisch, das alles - das hatte auch Jason gefunden, mit dem Tess dort kurz vor Weihnachten zu einem abenteuerlichen Candle-Light-Dinner gewesen war. Es war ihr zweiter Hochzeitstag gewesen.


Unter dem gleißenden Polarlicht, das wie die aufscheinende Morgendämmerung vor ihr lag, ging Tess zwischen den verschneiten Bergen auf Kurs Nordwest. Aufmerksam spähte sie nach unten, um das im Dunst liegende zerklüftete Eis nach markanten Punkten abzusuchen.

Die gefrorene Landschaft, die unter ihr vorbeiglitt, sah einfach fantastisch aus. Kaum zu glauben, dass das Eis vor einer Woche noch so fest gewesen war, dass Jason seine Huskys angeschirrt hatte, um mit dem Schlitten die dreißig Meilen nach Anchorage zu fahren und nicht das Flugzeug zu nehmen, das einzig vernünftige Transportmittel in der Wildnis Alaskas. Vor drei Tagen hatten die Temperaturen zu steigen begonnen, für hiesige Verhältnisse eine echte Hitzewelle, knapp über den Gefrierpunkt. Oh ja, Sheena hätte ihren Spaß gehabt: echt tolles Wetter für eine ausgelassene Schneeballschlacht mit Mommy und Daddy und einer Meute fröhlich kläffender, umherflitzender Huskys.

Im Dunkeln tastete Tess nach dem Bordbuch, das neben ihrem Sitz klemmte. Unter dem Eintrag von gestern Nacht notierte sie, ohne beim Schreiben wirklich hinzusehen - darin hatte sie ja Übung:

Start: Hope, Alaska, 29. April 1929, 22.07 Uhr. Besatzung: Tess Tyrell, Husky Ricky. Wetterlage: wolkenloser Sternenhimmel mit leuchtend grün schimmerndem Polarlicht. Eine Sinfonie aus Licht, die das Eis unter mir für Augenblicke taghell erleuchtet. Temperatur: minus 7 Grad Celsius. Steigflug Kurs 293 Grad. Geschwindigkeit 110 mph. Geplante Flugdauer: 20 Min. ETA: 22.30 Uhr. Ich empfinde keine Müdigkeit, nur Kälte, eisige Kälte.

Sie klappte das Bordbuch zu und schob es wieder neben den Pilotensitz. Unwillkürlich tastete sie nach Sheenas Teddy im Ausschnitt ihres Overalls, während ihr Blick immer wieder zur Borduhr, zum Kompass und zum Fahrtmesser huschte, um zu errechnen, wie weit es noch war. Der Gegenwind schien vierzig bis fünfzig Meilen zu betragen, und er wurde stärker, als Tess vom Turnagain Arm ins Cook Inlet einbog, an dessen nördlichem Ende Anchorage lag. In diesem Meeresarm, der im Süden zwischen Kenai und Kodiak in den Pazifik mündete, war das Eis bereits geborsten. Unter sich erkannte Tess schwarzes Wasser mit Treibeis, das im Schein des Polarlichts glühte wie ihre Cockpitinstrumente.

Da vorn konnte sie schon die Lichter von Anchorage sehen. Jetzt dauerte es nicht mehr lange. Gleich war sie bei Jason und Sheena!

Da vorn! Tess holte zu einer weiten Kehre aus, um den schwarzen Riss im Packeis im Tiefflug ansteuern zu können. Die Maschine bebte. Der Motor dröhnte metallisch, als sie das Steuersegment fester umfasste und die Füße gegen das Seitenruder stemmte. Sie drosselte die Geschwindigkeit von hundertzwanzig auf neunzig Meilen.

Ricky richtete sich auf dem Notsitz auf und winselte, als Tess das Seitenfenster entriegelte und der eisige Wind ins Cockpit fegte. Sie zog den Teddy aus ihrem Overall und setzte ihn sich auf den Schoß. Als Sheena zwei oder drei gewesen war, hatte sie sich genauso gegen sie gelehnt, als Tess sie mitnehmen musste, weil sie keinen Babysitter bekommen hatte. Die Erinnerung trieb ihr wieder die Tränen in die Augen.

Dort unten waren ihr Mann und ihre sechsjährige Tochter gestorben. Jason hatte Sheena mit dem Huskyschlitten von der Schule in Anchorage abgeholt, wo die Kleineganztags ein privates Betreuungsprogramm besuchte. Der Schlitten war durch das Eis gebrochen. Weder Jason noch Sheena konnten sich aus dem schwarzen Wasser retten. Nur einem Husky aus Jasons Team war es gelungen, sich aus den Gurten zu befreien, bevor der schwere Schlitten ihn wie die anderen in die Tiefe ziehen konnte. Nur durch ihn wusste Tess, was hier geschehen war. Die Suchaktion nach Jason und Sheena war am nächsten Morgen ergebnislos abgebrochen worden: keine Chance auf Rettung.

Den Ort, an dem ihre Liebsten starben, überflog Tess jede Nacht. Das half ihr, den Tag zu überstehen, und gab ihrem Leben, das völlig aus den Fugen geraten war, ein wenig Struktur. Um der Traurigkeit zu entkommen, die sie immer wiederüberwältigte, musste sie abheben und fliegen.

Doch der Ort, an dem sie trauern konnte, veränderte sich bereits, weil das Eis aufbrach und schmolz. Schon bald würde nichts mehr bleiben als ihre Erinnerungen an eine viel zu kurze Zeit des Glücks. Kein Abschied, kein gedankenverlorenes Lächeln, nicht einmal ein flüchtiger Kuss auf die Wange. Jason und sie hatten gestritten, bevor er nach Anchorage aufbrach. Und Tess hatte nun nicht mehr die Möglichkeit zu sagen: Es tut mir leid.

So unversöhnt auseinandergegangen zu sein fügte ihr einen großen Schmerz zu, der nicht so schnell vergehen würde. Es gab kein Grab, an dem sie trauern könnte, weinen, bereuen, um Vergebung bitten. Es gab keinen Jason mehr, mit dem sie sich versöhnen konnte, und keine Sheena, die sie in die Arme schließen und festhalten konnte. Es gab keine Möglichkeit, es beim nächsten Mal besser zu machen, keine Gelegenheit für ein verständnisvolles Gespräch. Es gab keine zweite Chance, bewusster zu leben, mehr Vertrauen zu wagen, mehr Liebe zu schenken.

Alles habe ich verloren, dachte Tess mit zugeschnürter Kehle, selbst die Angst vor dem Tod. Nur nicht meinen Lebensmut. Meinen Willen, allein weiterzuleben, auch ohne meinen Mann und meine Tochter. Die Trauer, die mich lähmt, zu überwinden. Den Schmerz. Die Kälte in mir und die Leere.

Wo war ich, als der Schlitten durch das Eis brach? In der Küche der Lodge, wo ich Sheenas Geburtstagstorte mit den sechs kleinen Kerzen mit einer Schokoglasur überzog? Haben Jason und Sheena da noch fröhlich gesungen und laut gelacht? Und als ich den Salon mit Wunderkerzen und goldglitzerndem Konfetti für die Party schmückte, haben ihre Herzen da schon aufgehört zu schlagen? Als ich die Geschenke für die Kinder aufbaute, waren sie da schon unter dem Eis?

Tess musste schlucken.

Sheena hatte sich eine Goldrauschparty für ihre Freunde gewünscht: zerrissene Jeans, ausgebleichte Shirts, Schaufel, Waschpfanne, Rüttelsieb, Blechteller, Wolldecke, Winchester, Whiskeyflasche, der ganze Plunder. Na klar, und natürlich Nuggets: große Schokoladenbrocken in glänzendem Goldpapier, die im ganzen Haus gesucht werden mussten. Was für ein Spaß! Die Kids wären völlig hin und weg! Und Ronan hatte sich geschüttelt vor Lachen, als Tess ihn am Telefon gebeten hatte, ihr die Goldgräberausrüstung seines Urgroßvaters zu schicken.

Charlton Brandon war ein Fortyniner gewesen. Während des kalifornischen Goldrauschs vor achtzig Jahren hatte er am American River Gold gefunden. Charlton war der Gründer der Brandon Corporation gewesen, jahrezehntelang ein erbitterter Konkurrent von Tyrell & Sons in Alaska. Das änderte sich erst nach dem Tod seiner ersten Frau, Caitlin Tyrell, als ihre Enkelin Shannon Tyrell Conroy das Zweihundertzwanzig-Millionen-Dollar-Unternehmen erbte. Nachihrer Heirat mit Josh Brandon, Ronans Vater, waren die Geschäftsfelder der drei weltweit operierenden Unternehmen Tyrell Commercial Company, Brandon Corporation und Conroy Enterprises zu einem Weltkonzern verflochten worden, den jetzt Ronan Brandon mitfester Handals Aufsichtsratsvorsitzender beherrschte. Tyrell-Brandon-Conroy war inzwischen einer der wertvollsten Konzerne der Welt. Die Börse in New York bewertete den Marktwert des Familienunternehmens auf eine Hand voll Dollar unterhalb einer Milliarde - Ronans brillantschwarzen Maybach mit den schicken weißen Ledersitzen nicht eingerechnet.

Die legendäre Goldgräberausrüstung seines Urgroßvaters, die ein Millionenerbe und einen Weltkonzern begründet hatte, stellte Ronan in seinem Vorstandsbüro in der California Street, Ecke Sansome aus. Aber klar, für sein Patenkind Sheena tat er alles. Vor wenigen Tagen war Charltons komplette Goldgräberausrüstung in einer großen Holzkiste mit Packstroh eingetroffen, und Tess hatte die Lodge für die Kinderparty in ein abenteuerliches Goldgräberlager anno 1849 verwandelt.

Stundenlang hatte Tess auf Jason und Sheena gewartet. Nach ihrem Streit mit Jason war sie immer noch ziemlich ärgerlich, und als ihr Butler Deke Clayton eintrat, um ihr zu sagen, dass Jasons Husky zurückgekehrt wäre, war sie sogar richtig wütend. Das leise Zittern in Mr Claytons Stimme hatte sie zuerst überhaupt nicht bemerkt. Doch dann hatte sie den vor Erschöpfung zitternden Husky gesehen. Und das Eis in seinem Fell.

»Ein Unfall?«, flüsterte Tess erschrocken.

»Offenbar ist der Hund ins Wasser gefallen, Ma'am.«

Panik stieg in ihr auf, und plötzlich begann ihr Herz zu rasen. Sie begriff: Etwas Schreckliches musste geschehen sein.

Ich komme!, war ihr einziger Gedanke.

Eine halbe Stunde: die Hunde anschirren, den Schlittenbeladen. Petroleumlampen, Feuerholz, Seile, Decken, eine Thermoskanne mit Kaffee und Whiskey, eine weitere mit heißer Suppe, Winterausrüstung anziehen, und los! Eine weitere halbe Stunde rasanter Fahrt mit Deke Clayton auf dem Eis. Tess hinten auf den Kufen schaute stur geradeaus. Auf die rennenden Huskys. Auf den Weg vor ihr. Auf das Eis.

Jason und Sheena brauchen mich. Ich muss zu ihnen. Ich muss sie retten.

Wie die furchtbaren Stummszenen eines Katastrophenfilms brachen die Angst und die Verzweiflung über Tess herein. Jason liegt nass und frierend auf dem Eis, den Arm um seine kleine Tochter gelegt, um sie zu wärmen? Ihre Lider flattern, Eis verklebt ihre seidigen Wimpern, ihre Lippen schimmern blassblau? Nein! Jason ist unter das Eis gezogen worden, aber Sheena, die auf dem beladenen Schlitten saß, konnte sich retten? Sie musste mit ansehen, wie ihr geliebter Daddy die Hände nach ihr ausstreckte, während er von der Meeresströmung in die schwarze Tiefe gerissen wurde? Nein, nein, nein! Sheena ist tot, aber Jason lebt? Er kauert auf dem geborstenen Eis und weint um die Tochter, für die er sich viel zu spät entschieden hatte, erst als sie drei war? O Gott, nein!

Ich muss ihnen beistehen! Ich darf sie nicht allein lassen. Ich will sie nach Hause bringen!

Dass beide tot sein könnten, daran dachte Tess nicht einen Augenblick.

Langsam jetzt! Und vorsichtig! Das Eis im Cook Inlet war geborsten! Sie konnten jederzeit mit dem schweren Schlitten einbrechen! Der Spring Breakup stand unmittelbar bevor!

Jasons Husky führte sie schließlich zur Unfallstelle: kein Schlitten, kein tropfnasser Überlebender, der zitternd auf dem Eis lag und zu erfrieren drohte, nichts. Nur Pfotentritte und Schlitten- spuren, die hier endeten. An den Rissen im Eis, durch die das Wasser darunter hatte aufsteigen und dann dünn gefrieren können. Das neue Eis sah genauso aus wie das alte. Das wurde Jason, der wie Tess seit Jahren in Alaska lebte und nun wirklich kein Cheechako mehr war, zum Verhängnis. Cheechako, so nannten die Leute in Alaska die Neulinge aus dem Süden, aus den Lower Fortyeight, die das Land, das Wetter und die Gefahren der Wildnis nicht kannten und die nicht wussten, dass man mit einer Winchester besser nicht auf Grizzlys schoss, sondern nur auf Moskitos, die hier in Alaska nur wenig kleiner waren.

Am nächsten Tag, Sheenas sechstem Geburtstag, fand die Trauerfeier auf dem Eis statt. Sheenas Schulfreunde hatten erfahren, dass sie die Schlittenfahrt nach Hause nicht überlebt hatte und dass sie nie mehr zurückkommen würde. Alle Kinder waren zur Absturzstelle gekommen, auch die Lehrerin. Wie oft hatte sie Tess Mut zugesprochen, wenn sie sich wieder einmal für eine schlechte Mutter hielt, weil sie so oft in Kalifornien und Alaska unterwegs war - als Testpilotin für neue Flugzeuge von Conroy Aviation und als Pionierfliegerin für die National Geographic Society. Tja, wenn Mommy wochenlang up here und down there mit dem Flugzeug unterwegs war und Daddy von Anchorage aus einen Weltkonzern leitete, musste die kleine Missy eben ins Internat. Oder?

Sheenas Lehrerin hatte Jason und Tess immer wieder versichert, dass ihre Kleine stolz auf ihre berühmten Eltern war: »Wirklich kein Problem, Ma'am, Sir!« Sie war es auch gewesen, die die beherzte Idee zu dieser Trauerfeier auf dem Eis gehabt hatte, wo sie alle von Sheena und ihrem Daddy Abschied nehmen konnten, wo Tess mit den Kindern über den Tod ihrer Tochter sprechen konnte.

Tess wurde es wieder eng in der Brust, und sie rang nach Luft, als sie sich erinnerte, wie sie alle im Kreis um das Loch im Eis herumgestanden hatten. Jeder hielt eine Kerze in der Hand. Eine Zündholzschachtel wurde herumgereicht, und die Kleinen durften ihre Lichter für Sheena selbst entzünden. Wer es allein nicht schaffte, dem half Tess dabei. Dann wurden selbst gebastelte Geschenke ins eiskalte Wasser geworfen, Grußkarten mit Glitzersternchen und Engelsflügelchen aus Daunenfedern und Wolken aus flauschiger Watte, beste Wünsche in wackeliger Kinderschrift. Ein Husky, der aussah wie Ricky, aus weichem Wolfspelz genäht, mit leuchtend blauen Augen. Ein Spielzeugauto aus rot lackiertem Holz. Eine Stoffpuppe mit langen blonden Haaren aus gelber Wolle, die zu zwei Zöpfen geflochten waren. Ein kleines Mädchen wollte die Puppe, die Sheena so ähnlich sah, gar nicht loslassen. Die Kleine weinte, und Tess nahm sie fest in die Arme. Sie musste die Puppe nicht ins kalte Wasser werfen und zusehen, wie sie unterging. Sie durfte sie behalten, liebhaben und sich dabei an Sheena erinnern.

Wirklich, es war jede Menge Spielzeug gewesen. Und Schokolade natürlich. Sheena hatte Schokolade geliebt, besonders die Ghirardelli-Schokolade, die Ronan ihr in San Francisco immer geschenkt hatte, wenn sie bei ihm zu Besuch waren. Als Sheena noch ganz klein war, zwei oder drei, war ihr Gesicht manchmal ganz mit Schokolade verschmiert. Ronan, ihr Patenonkel, hatte sich darüber immer kaputtgelacht - sein Sohn Cayden war im gleichen Alter.

Viele der Kinder wünschten Sheena das, was sie selbst gern gehabt hätten - das rührte Tess zu Tränen. Viel Spaß beim Spielen mit dem neuen Spielzeug. Und dass sie jetzt für immer bei ihrem lang ersehnten Daddy war, um dessen Liebe sie ihr halbes Leben gekämpft hatte. Und dass sie jetzt glücklich war.

»Sheena ist jetzt ein Engel im Himmel«, tröstete Tess ein kleiner Junge, der seine Hand in ihre geschoben hatte. »Sie fliegt über dem Polarlicht und guckt auf dich runter, und es tut ihr bestimmt ganz doll leid, dass sie dich traurig gemacht hat. Sie hatte dich nämlich ganz doll lieb.«

Tess war so gerührt gewesen, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Aber sie war glücklich, so bescheuert das klang. Die Anteilnahme der Kinder, die Sheena ebenso schmerzlich vermissten wie sie, berührte sie zutiefst, tröstete sie, richtete sie auf: Die Liebe und das Glück sind das Einzige, was du am Ende mitnehmen kannst. Du musst sie festhalten, für immer.

Im Tiefflug donnerte Tess jetzt über das geborstene Packeis hinweg und warf Sheenas zerkuschelten Teddy Roosevelt durch das offene Cockpitfenster hinunter aufs zerklüftete Eis. Dann ließ sie die Vega steil aufsteigen, um ihren Liebsten im Himmel, jenseits des Polarlichts, ein bisschen näher zu sein.

Das war der absolute Wahnsinn! Die wogenden blassgrünen Girlanden bildeten plötzlich einen zitternden Wirbel über dem Eis, der aussah wie ein Regenbogen. Und während Tess mit Tränen in den Augendarauf zuflog, wölbte sich der Lichtbogen plötzlich zu einem weiten Tor, das zu den Sternen hinaufzuführen schien. In der Mitte funkelte der Polarstern. Wie wunderschön!

Tess atmete tief durch.

Mit klopfendem Herzen und dröhnendem Motor schoss sie mit der Vega hinauf in den Sternenhimmel, so schnell und so steil, dass sie in den Sitz gedrückt wurde. Airspeed: hundertzwanzig Meilen pro Stunde, hundertdreißig, hundertvierzig. Der Zeiger war schon bald am Anschlag: Höchstgeschwindigkeit. Steigrate: tausenddreihundert Fuß pro Minute. Höhe: achttausend Fuß, achttausendfünfhundert, neuntausend. Die Luft wurde dünner. Neuntausendfünfhundert, zehntausend. Das Atmen fiel ihr schwer, und ihr Herz raste wie wild. Ricky jaulte panisch, die Vega bebte, und der Flugwurde immer unruhiger.

Doch je höher sie stieg, desto bewusster wurde ihr, dass sie dieses Tor zum Himmel niemals erreichen konnte.

Funken sprühten vor ihren Augen, und ihr Blickfeld verengte sich zu einem schwarzen Tunnel, in den sie mit Höchstgeschwindigkeit hineinzurasen schien.

Zu hoch, zu steil: Strömungsabriss! Der Auftrieb, der die Vega in den Himmel hinaufriss, brach zusammen!

Ruhig, Tess, ganz ruhig! Du bist Testpilotin, das machst du nicht zum ersten Mal! Okay, das Höhenruder! Jetzt! Geh in den Sturzflug und fang die trudelnde Maschine ab!

Geschafft! Sie atmete tief durch, drosselte den Motor, ließ die Vega einige Meilen gleiten und kurvte schließlich auf die Landerichtung ein. Über dem Turnagain Arm trimmte sie die Maschine um. Die erleuchtete Landebahn lag jetzt unmittelbar vor ihr.

Tess nahm das Gas weg und setzte zur Landung an. Fingerbreit um Fingerbreit zog sie das Höhensteuer zu sich heran. Die Geschwindigkeit verringerte sich stetig. Fünfundneunzig Meilen, neunzig, fünfundachtzig. Sie erhöhte den Anstellwinkel, um bei der geringen Geschwindigkeit noch genügend Auftrieb zu haben, und verlor dabei den Mount Alyeska vor ihr aus dem Blickfeld. Der Gleitwinkel wurde immer flacher, bis ihr Schatten sie schließlich einholte und die Vega noch vor der ersten Laterne sanft den verschneiten Boden berührte.

Touchdown!

Doch dann gab es plötzlich Probleme!

Die Kufen versanken in einer dicken Schicht aus halb getautem Schneematsch! Die Vega drohte stecken zu bleiben und sich in voller Fahrt zu überschlagen! Zwei, drei weiche Hopser im schlierigen Eis, dann startete Tess reaktionsschnell noch einmal durch.

Sofort zog sie die Vega wieder hoch und zog in geringer Höhe eine weite Kurve über dem Eis.

Da, die Kufenspur, die sie eben hinterlassen hatte, war voller Wasser! Das Eis hielt nicht mehr! Es würde schon bald bersten! Wie nahe war sie einer Katastrophe gewesen!

Tief durchatmend kurvte sie erneut auf die Landerichtung ein. Vor ihr flackerten die Laternen der Landebahn. Sie überflog die grünen Lichter, ging über den weißen tiefer, setzte erst neben der dritten roten Laterne auf und schoss hinaus in die Dunkelheit.

Gut, das Eis hielt.

Langsam glitt die Vega mit flatterndem Leitwerk über das unebene Eis hinüber zur Lodge.


Eine Welt aus Licht und Eis ...

Der Mann im Schatten der Bäume an der felsigen Steilküste rauchte mit ruhigen Bewegungen seine Zigarette und beobachtete aufmerksam, wie Tess ihr Flugzeug zur inzwischen hell erleuchteten Lodge vor ihm steuerte und neben dem Landungssteg auf dem Eis parkte. Vom Fahrtwind war er mit Reif bedeckt, sein Atem war während der langen Schlittentour in seinem Bart zu kleinen Eisklumpen erstarrt.

Was für eine Nacht! Und was für ein Stunt, typisch Tess!, dachte er und sah nach oben. Die blassgrünen Schleier des Polarlichts wehten über den kristallklaren Sternenhimmel. Ein fantastisches Naturschauspiel, das ihn nach all den Jahren in Alaska immer noch faszinierte. Und darunter, in ein unwirkliches Licht getaucht, die weite und unberührte Einsamkeit der tief verschneiten Chugach Mountains.

Wie lange war er nicht hier gewesen!

Wie Tess brauchte er die grenzenlose Freiheit. Kein Gestern, kein Morgen, nur der Augenblick, der zählt, das Hier und Jetzt. Die Weite Alaskas, die hohen Berge, die endlosen Wälder, die Stille und die Einsamkeit. Das Gefühl des Unterwegsseins ohne Weg und ohne Ziel war ein wunderschönes Erlebnis. Keine Grenzen, keine Straßen, nur Wildnis. Immer neue Landschaften in diesem Land der Extreme: die eisige Küstenebene des North Slope oben am Nordpolarmeer, das Labyrinth der Flussarme des Yukon mit seinen Sandbänken und Stromschnellen, die Gletscherwelt der Alaska Range, der majestätische Mount Denali, the Great One. Den Gedanken nachhängen. Die Gefühle ausleben. Frei sein. Kein Telefon, kein Geschäftstermin, kein Vorstandsmeeting. Einfach nur leben. Allein, nur für sich selbst.

Er zog auch den anderen Pelzfäustling aus, ließ ihn neben der getönten Schneebrille an der Kordel um seinen Hals hängen und schob die Fellkapuze seines gefütterten Parkas mit indianischer Perlenstickerei zurück. Trotz der Schneeschuhe und der kniehohen Mokassins spürte er bereits die Kälte in sich aufsteigen. Die Müdigkeit. Seit der Morgendämmerung war er unterwegs gewesen. Immer wieder hatte er eine kurze Rast eingelegt. Nicht weil seine Huskys erschöpft gewesen wären - die Hunde liefen bis zum Umfallen. Sondern weil er sich umgesehen hatte, ob er verfolgt würde. Es war noch nicht vorbei. Noch lange nicht.

Die Nachricht von Jasons und Sheenas Tod, die ihm ein Freund überbracht hatte . . . Tess ganz allein in der Lodge . . . Na ja, vielleicht vermuteten seine Verfolger ihn ja hier . . . und vielleicht richtete sich in diesem Augenblick der Lauf einer Winchester auf ihn...

Unwillkürlich tastete er nach dem geladenen Colt Peacemaker in seinem Patronengurt. Langsam glitt sein Blick an der majestätischen Bergkette auf der anderen Seite des Turnagain Arms entlang nach Westen. Kein bewegter Schatten, kein Schimmern von Stahl, nichts zu sehen, nichts zu hören außer dem Knistern und Knacken des abkühlenden Flugzeugmotors. Und hinter ihm? Sein Blick schweifte über die dicht bewaldeten Berge. Nein, er war allein.

Jetzt kletterte Tess mit Ricky aus dem Cockpit, sprang von der Tragfläche hinunter aufs Eis und sicherte die Vega. Das Öl ließ sie nicht wieder ab. Sie zog auch keine Segeltuchplane über den Motor. Er kannte sie gut genug, um sich zu fragen, was sie wohl vorhatte.

Er zog an seiner Lucky Strike, und während der Rauch sich mit seinem Atemhauch vermischte, lauschteerauf das ferne Heulen der Huskymeute nahe der Lodge. Tess hielt ihr Team in kleinen Hundehütten, die in regelmäßigen Abständen hinter dem großen Haus standen. Die Hunde waren nachts angekettet. Nur Ricky schlief in der Lodge. Er wachte vor ihrem Bett, und manchmal kroch er zu Tess unter die Decke. Der verschmuste Husky schlief gern warm und weich. Und morgens weckte er Tess, indem er für sie sang. Er saß dann vor ihrem Bett, reckte den Kopf und heulte laut Ooooooooh-wa-wa-wa-wa, blickte immer wieder zu Tess hinüber, und wenn sie sich nicht rührte, weil sie ausschlafen wollte, sprang er wie ein Verrückter um das Bett herum und heulte einfach weiter. Ooooooooh-waaah-ooooooooh! Echt toll, dieser Husky. Ein prima Kumpel.

Ricky hatte sein Team noch nicht bemerkt, sonst wäre er kläffend herangeschossen, als hätte er kein Recht mehr, hier zu sein. Aber Bonnie und die anderen?

Er blickte über seine Schulter zurück. Sein Team von Schlittenhunden verhielt sich völlig ruhig. Die Huskys, noch angeschirrt, hatten sich sofort in rasch gegrabene Schneemulden verkrochen und die buschigen Ruten über die wunden Füße und schneebedeckten Schnauzen gelegt. Im Schatten der Fichten warteten sie jetzt geduldig auf ihr Abendessen. Getrockneter Lachs, den er im Fluss hinter seiner Hütte in der Wildnis gefangen und auf Trockengestelle gehängt hatte, zu hoch für einen hungrigen Grizzly. Nach der Fütterung würdeerden Huskys die wunden Pfoten mit Seehundtran einreiben. Und ihnen für die Fahrt über den zugefrorenen Fjord die Booties anziehen. Die festen Lederstiefelchen hielten die empfindlichen Hundepfoten warm und schützten sie vor dem rauen Eis.

Auf dem Schlitten lag seine Ausrüstung für das Nachtlager. Der verbeulte Kochtopf, die rußgeschwärzte Kaffeekanne, der hart gefrorene Proviant, den er nachher am Feuer noch auftauen musste. Der Polarhase, den er vorhin geschossen und ausgeweidet hatte, war inzwischen bestimmt hart gefroren. Dazu gab's eine faustgroße Portion Bratkartoffeln mit Speck, die er mit der Axt von dem größeren Stück in seinem Vorratssack abschlagen musste, und vielleicht eine Dose scharfer Chilibohnen, die er in der Glut erhitzen konnte. Nach dem Essen würde er auf Fichtenzweigen neben dem Lagerfeuer seinen Schlafsack aus weichem Kaninchenfell ausbreiten und im Schein des Feuers noch ein bisschen in Jack Londons Der Ruf der Wildnis schmökern. Noch vor der ersten Morgendämmerung wollte er zur Absturzstelle hinüberfahren, und er hoffte, die Spuren würden ihn hinführen. Das war er Jason schuldig. Trotz allem, was geschehen war.

Der Mann zog an seiner Lucky Strike, und die Spitze glüht ein der kristallklaren Luft auf. Er brauchte jetzt wirklich einen Kaffee. Die Zigarette wärmte ihn nicht. Und bis das Essen aufgetaut war ...

Sein Blick glitt zurück zu Tess, die langsam die breite Holztreppe aus halben Baumstämmen zur Lodge hochstieg. In drei weiten Absätzen führten die wuchtigen Stufen hinauf zum Eingang mit der Schaukel aus Treibholz, die er für Sheena gebaut hatte.

Was für eine Frau! Aufrecht und stark!, dachte er bewundernd, als er Tess mit weit ausgreifenden Schritten in ihrem Fliegeroutfit die Veranda überqueren sah. Was für eine Haltung, mit der sie unerschütterlich dem Schicksal trotzte und unerschrocken dem Tod ins Auge blickte. Was für eine Gelassenheit!

Plötzlich blieb Tess stehen und schaute in seine Richtung. Er erstarrte-hatte sie die Glut seiner Zigarette bemerkt? Nein, nicht auf diese Entfernung! Sie konnte ihn nicht sehen, völlig unmöglich. Er hatte gelernt, wie man sich unsichtbar machte und mit der Wildnis verschmolz, um den Verfolgern zu entkommen. Schließlich hatte er keine Lust, mitten im Nirgendwo zu sterben. Nein, Tess durfte nie erfahren, dass er hier gewesen war. Viel zu gefährlich. Für ihn wie für sie.

Schließlich nahm Tess die Winchester von ihrer Schulter, warf einen kurzen Blick zurück zum Steilufer des Fjords, als spürte sie seine Anwesenheit, und dann verschwand sie mit Ricky im Haus.

Er nahm einen letzten tiefen Zug, drückte die Zigarette am verschneiten Stamm einer Fichte aus und schob die Kippe in die Tasche seines Parkas. Er durfte keine Spuren hinterlassen.

In den wabernden Atemhauch hinein flüsterte er: »Tess, bist du damals, als es um mich ging, auch so taff gewesen?«