Heute bin ich blond Das Mädchen mit den neun Perücken

Heute bin ich blond  Das Mädchen mit den neun Perücken
Produktcode: AD5595
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Produktbeschreibung

Als man bei Sophie van der Stap mit 21 Jahren Krebs diagnostiziert, möchte sie sich am liebsten verwandeln. Sie erkennt sich selbst nicht wieder bis sie neun Perücken kauft. Wie Sophie mit ihrer Krankheit fertig wird, ist einzigartig.
 

Klappentext zu „Heute bin ich blond“

Als man bei Sophie van der Stap mit 21 Jahren Krebs diagnostiziert, möchte sie sich am liebsten verwandeln. Sie erkennt sich selbst nicht wieder bis sie neun Perücken kauft. Wie Sophie mit ihrer Krankheit fertig wird, ist einzigartig: Nie zuvor hat jemand den Krebs derart freimütig, aber auch mit so viel Leichtigkeit beschrieben.
Mit vielen Bildern aus dem Film

Bibliografische Angaben

2013, 264 Seiten, 16 farbige Abbildungen, Maße: 12,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch, Aus d. Niederländ. v. Barbara Heller
Verlag: DROEMER KNAUR
ISBN-10: 3426785994
ISBN-13: 9783426785997

Autoren-Porträt von Sophie Van Der Stap

Sophie van der Stap, geboren 1983 in Amsterdam, studierte Politologie, als bei ihr Anfang 2005 Krebs diagnostiziert wurde. Ihre Erfahrungen mit der Krankheit hat sie in ihrem Bestseller "Heute bin ich blond" verarbeitet. Das Buch wurde unter der Regie von Marc Rothemund verfilmt. Zuletzt erschienen von Sophie van der Stap "Alle Träume auf einmal. Das Jahr, in dem ich wieder leben lernte" und der Roman "Was, wenn es Liebe ist".

Lese-Probe

Heute bin ich blond von SOPHIE VAN DER STAP


Donnerstag, 17. Februar 2005

»Sorry«, sage ich, als ich die Haare hinter mir auf dem Parkett sehe. »Das geht auf einmal so schnell.«
Die Frau sieht mich im Spiegel an. Ich habe Fotos von mir mitgebracht, um ihr zu zeigen, wie ich die Haare am liebsten trage.
Es sind die Fotos, die Martin vor drei Wochen gemacht hat, als ich noch meine eigenen Haare hatte. Seit meine Haarzellen den Kampf gegen die Chemo verlieren, sehe ich dem Mädchen auf den Bildern immer weniger ähnlich. Sie liegen auf dem Tisch, zwischen einem Perückenprospekt und einem gelbblonden Haarschopf, den die Frau mir eben gebracht hat. Vielleicht etwas in der Art? Ganz bestimmt nicht. Alle diese Frisuren machen mich zu einem Transvestiten, und als die Frau zu einer Perücke aus langen, dunklen Haaren greift, muss ich an den Gitarristen von Guns N' Roses denken, nur dass die Mähne auf meinem eigenen Kopf sitzt. Grauenhaft.
Der Perückenladen liegt in der Eingangshalle des AMC, des Akademisch Medisch Centrum in Amsterdam; im ersten Stock ist eine Kabine zum Anprobieren. Schön bequem für die Onkologiepatienten, die können nach der Infusion direkt dorthin. Neben mir sitzen meine Mutter, meine Schwester und Annabel, meine beste Freundin. Wir fühlen uns unbehaglich und sind alle ziemlich still, doch dann probiert Annabel eine der Perücken auf, und die Spannung löst sich. Sie sieht unmöglich aus. Wir müssen laut lachen.
Ich betrachte meine Schwester mit ihrer dunklen Hochfrisur. Toll sieht sie aus. Wie ich trägt sie ihr Haar am liebsten hinten hochgesteckt, mit einer leichten Welle vorn. Ich betrachte Annabels dichte schwarze Haare und dann wieder das glänzende Haar meiner Schwester, die Kurzhaarfrisur meiner Mutter und schließlich die Büschel, die bei mir noch übrig sind.
Die letzten drei Wochen ziehen im Schnelldurchlauf an mir vorüber, und ich begreife immer noch nicht, was ich hier soll. Was ich hier soll.
Ich will weg, mich verstecken in der Geborgenheit meiner vier Wände. Nicht nur vor meiner Krankheit, sondern auch vor den Reaktionen der anderen, die nur bestätigen, was ich vergessen will. Nachbarn, die mich mitleidig ansehen. Gemüsehändler, die mir eine Extratüte Vitamine in den Einkaufskorb packen. Freunde, die mich fest in den Arm nehmen. Meine Familie, die mit mir weint. Mit nassen Augen schaue ich in den Spiegel und lasse die Frau mit meinen neuen Haaren spielen. Von meinen vollen Lippen ist nur noch ein bestürzter Strich übrig, quer durch mein Gesicht. Je länger die Frau an meinen Haaren herumzupft, desto dünner wird der Strich und desto verzweifelter werde ich. Ich sehe einfach unmöglich aus. Soeben bin ich mir im Spiegel abhandengekommen.
Endlich verlasse ich die Kabine, mit einem Muttchenkopf, der nicht meiner ist. Es sieht potthässlich aus, und es juckt. Das ist keine Sophie mehr, nicht mal annähernd, das ist eine steife, langweilige alte Jungfer aus einem steifen, langweiligen Ort wie Wassenaar.
Die Frau redet mir aufmunternd zu. Wir stehen im Aufzug und fahren hinunter, weg von der Kabine, zurück in die Eingangshalle.
»Du musst dich erst damit anfreunden. Das geht nicht von heute auf morgen. Spiel ein bisschen damit, probier es aus, und in zwei Wochen bist das ganz du.«
Jaja. Ganz ich. Ich - eine steife alte Jungfer? Ich - eine Stella?
Ich drehe mich nach meiner Mutter um und sehe, dass auch sie feuchte Augen hat.
Die Verkäuferin ist schon zwanzig Jahre im Geschäft, sagt sie, eine der wenigen, die mit den hippen Frisuren aus Japan und China arbeitet. »Von da kommen die hübschen, modernen Frisuren. Genau das Richtige für junge Mädchen wie dich.«
Im Aufzug schaue ich noch einmal in den Spiegel, suche das Hippe, Junge, kann es aber nirgends entdecken. Ich sehe nur eine graue Maus mit einer Perücke auf dem Kopf.

Ich ging schon den zweiten Monat in der Klinik ein und aus, als ich in der Ambulanz von Doktor K. landete. An einem Donnerstag, Anfang Januar. Es war ein Tag wie jeder andere, denn ich wusste noch nicht, dass ich eine ganze Tumorfamilie in der Lunge sitzen hatte. Genauer gesagt, an der Haut, die meine Lunge umhüllt, auch Lungenfell oder Pleura genannt. Nach mehreren Terminen bei verschiedenen Ärzten und zwei Besuchen in der Notaufnahme, wartete ich nun in einer neuen Ambulanz. Auf einen neuen Arzt, neue Schwestern, eine neue Krankenakte.
Und da kam er, der x-te Weißkittel, der mich kurz untersuchen und mir später sein Beileid zu meiner schlimmen Prognose aussprechen sollte. Er trat an die Anmeldung seiner Ambulanz und öffnete meine Krankenakte, rief »Frau van der Stap«, blickte in den Raum und sah mich dann ruhig an. Eine ganz Junge, muss er gedacht haben. Und schon war es um mich geschehen: ein schöner Kopf, ein weißer Kittel und knapp über vierzig. Alles in allem durfte ich eine ganze Woche auf seiner Station logieren, aber der erste Blick hat schon genügt.
Frisch belebt durch meinen neuen Arzt schlenderte ich in sein weißes Zimmer. Thank God it's a man's world. Das Krankenhaus erwies sich als der ideale Ort, um meine sexuelle Einsamkeit zu vergessen. Dass auch dieser Weißkittel sehr angenehm war, wunderte mich nach all den Kitteln vorher überhaupt nicht. Ich lief nun schon zwei Monate mit schöner Regelmäßigkeit im Onze Lieve Vrouwe Gasthuis herum, von Ambulanz zu Ambulanz. Von oben nach unten, von vorn nach hinten. Hin und her. Acht Praktikanten, zwei Gynäkologen, ein Lungenarzt und drei Antibiotikabehandlungen, ohne Erfolg.
Meine Beschwerden waren noch genauso diffus wie am ersten Tag: ein komisches Stechen da und dort, eine verschleimte Lunge und ein paar Kilo weniger. Dazu ein extrem blasses Gesicht. Während meine Daten zum siebenhundertachtundsechzigstenmal erfasst wurden - eine zentrale EDV haben sie noch nicht in diesen Fabriken, in denen die größten Apparate die größten Wunder vollbringen -, sah ich mir meinen Arzt genauer an. Auf seinem Namensschild stand: DR. K., LUNGENHEILKUNDE. Auf Anfang vierzig schätzte ich ihn. Charmant, gutaussehend, gescheit: ein Schürzenjäger oder glücklich verheiratet? Oder vielleicht beides? Das googeln wir mal nach, dachte ich. Ein weißer Kittel verbirgt vieles, die Schuhe aber nicht. Schuhe mit Lochmuster, schwarzes Leder. Nicht schlecht, nicht gut - in seinem Alter eher gut als schlecht, lautete mein Urteil. Um den Hals ein Stethoskop.
Ich musste auf seiner Werkbank Platz nehmen und mein T-Shirt hochziehen; den schwarzen BH, den ich darunter trug, durfte ich anbehalten.
Er setzte mir das kalte Stethoskop erst an die Brust, dann an den fröstelnden Rücken.
Er horchte, ich seufzte.
Ich seufzte, er horchte.
Ich horchte, er seufzte.
Da stimme etwas nicht, meinte er. Richtig Angst machten mir diese zweifelnden Worte nicht. Ich war eher erleichtert, denn dass mit meinem Körper etwas nicht stimmte, hatte ich mir schon gedacht. Müdigkeit, Atembeschwerden, bleiche Wangen, das alles war neu. Die Lösung des Problems in der Tablettenpackung finden, dann weitermachen wie bisher - das war's, was ich wollte.
Ich wurde weggeschickt, durfte aber noch nicht nach Hause: erst zum Röntgen in die Radiologie im ersten Stock, dann noch mal wiederkommen. Mit meiner neuen Krankenakte unterm Arm zog ich brav ab. Noch war das Krankenhaus ein Abenteuer voller schöner, fürsorglicher und etwas autoritärer Männer. Wohin jetzt?
Zurück zu Doktor K., mit den Aufnahmen von meiner Lunge. Wieder nahm ich auf seiner Werkbank Platz. Diesmal in einem seiner Behandlungszimmer in einem Nebengebäude. ENDOSKOPIE UND LUNGENFUNKTIONSUNTERSUCHUNG lauteten die Wörter, die hier über meinem Kopf hingen.
»Die Bilder sehen nicht gut aus«, sagte Doktor K. »Da ist Flüssigkeit in deiner rechten Lunge, und die muss raus.«
»Raus?«
»Ja, durch eine Drainage in deinem Rücken.«
Ich schluckte. Ich wusste nicht, was eine Drainage ist, aber es klang nicht sehr schön, so ein Ding im Rücken zu haben.
Mein T-Shirt wanderte wieder hoch, und jetzt musste ich es sogar ganz ausziehen. Es geht aufwärts, dachte ich. Auch mein BH wurde aufgehakt. Mit Gänsehaut am Rücken und Gänsehaut an den Brüsten beäugte ich die lange, dicke Nadel, die Doktor K., seine Assistenzärztin - eindeutig eine Lesbe - und Floris, der Praktikant, in Augenschein nahmen. Anders gesagt: sechs Augen, auf meine runden Hügelchen gerichtet. Oder schauten sie doch nur auf die Nadel, die durch meinen Rücken direkt in meine Lunge gebohrt werden sollte? Floris war kaum weniger nervös als ich. Er blieb auf Abstand, führte Doktor K.s Anweisungen aus und hantierte etwas unbehaglich mit den Instrumenten seines Chefs.
Unterdessen erklärte mir die Assistenzärztin, was nun gleich geschehen würde, und warum sie es für nötig hielten, mir ein Leck ins Lungenfell zu bohren: »Man sieht auf den Bildern, dass sich zwischen deinem Lungenfell und der Lunge ein Dreiviertelliter Flüssigkeit angesammelt hat, und die pumpen wir mit der Drainage ab.«
»Ah.«
»Wenn gelber Eiter rauskommt, dann ist das nicht gut«, fuhr sie fort. »Dann sitzt da eine Entzündung.«
»Ah.«
Sie war eifrig mit der Dosierung des Betäubungsmittels zugange, aber leider nicht eifrig genug, denn ich spürte noch, wie mir die Nadel durch den Rücken ins Lungenfell stach. Au! Sofort war Doktor K. mit einem Wundermittel zur Stelle und nahm die Sache selbst in die Hand. Durch einen langen, durchsichtigen Schlauch sickerte die Flüssigkeit aus meinem Rücken heraus. Sie war zwar nicht gelb, aber, wie sich später herausstellte, auch nicht in Ordnung.
Wieder in der Ambulanz, wollte Doktor K. meine Handynummer haben. Aber gern.
Schon am nächsten Abend rief er an. »Ich kann mir keinen rechten Reim auf die Sache machen. Ich würde dich gern eine Woche stationär aufnehmen, dann können wir verschiedene Untersuchungen durchführen. Mit einer Endoskopie fangen wir an.«
»Einer Endowas?«
»Wir setzen seitlich an deinem Rücken einen zwei Zentimeter langen Schnitt und gehen da mit einer kleinen Kamera rein. Etwas Gewebe holen wir dabei auch gleich raus.«
»Oh ... Na, wenn's unbedingt sein muss ...« Trotzig legte ich auf, doch da kamen auch schon die ersten Tränen wegen des neuen Abenteuers, in das ich da hineingezogen wurde. Ich zitterte, und zum ersten Mal hatte ich Angst. Angst, mein Körper könnte ein Eigenleben führen.
»Der Arzt will mich einfach in seiner Nähe haben«, scherzte ich, als ich es meinen Eltern sagte, und wischte mir die Tränen ab. Aber dann lag ich da, in meinem weißen Zimmer, in meinem weißen Bett und meinem weißen Pyjama, zwischen den weißen Schwestern. Ein Schlauch in meiner Nase, eine Luftlunge von der Endoskopie und ein Tropf über mir - eine ganze Menge, aber alles andere als schön. Spannend, gut betreut, ruhig, traurig. Endlich den Wälzer ausgelesen. Doktor K. - der in meiner Phantasie inzwischen eine große Rolle spielte - kam jeden Tag und erkundigte sich, wie es mir und Anna Karenina ging. Mir besser als ihr, dachte ich da noch.
Eine Woche später saß ich mit meinem Vater in einem Raum der inzwischen vertrauten Ambulanz, uns gegenüber ein fremder, grober Klotz. Doktor K. sei eine Woche weg, auf einem Kongress. Es war an einem Mittwoch, am 26. Januar 2005. Zu Hause stand schon der Champagner kalt. Wir rechneten mit einer Infektion, schlimmstenfalls irgendeinem komischen Pilz, den ich mir auf meinen Reisen durch Indien und den Iran eingefangen hatte. Ein seltenes Sarkom - ein bösartiger Tumor - war zwar nicht auszuschließen, aber auch nicht zu erwarten, wie ich später erfuhr. Schon gar nicht in meinen Plänen. Damals fand ich es noch spannend, wenn ein neuer Arzt auf der Bildfläche erschien.
»Wir haben jetzt die Laborbefunde, und die sind nicht gut. Du hast Krebs.« Der ruppige Kollege meines geliebten Arztes saß mit verschränkten Armen auf Doktor K.s Schreibtisch.
Und da saß ich, mit offenem Mund.
Da lag ich, schluchzend auf dem Boden.
Da kroch ich, vor Schreck unter den Schreibtisch.
Es war vollkommen irreal. Zugleich aber nur zu real. Mein Vater schaute starr vor sich hin und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, mir zuliebe. Ich weiß noch, dass ich ihn ansah und dachte: Gerade haben sie Mamas Chemo hinter sich. Sie haben so viel durchgemacht. Und jetzt sitze ich hier.
Ein paar Monate zuvor hatte meine Mutter ihre letzte Chemotherapie gehabt, genau einen Flur und eine Treppe von dem Raum entfernt, in dem es nun mich mit voller Wucht traf. Aber sie ist wieder auf dem Damm, und ihre beiden Brüste sind noch dran.
Schließlich stand ich auf, versteckte mich in meinem dicken Wintermantel und wollte nur noch weg. Den Wintermantel trug ich, weil es im Januar kalt ist. Kalt im Onze Lieve Vrouwe Gasthuis. Kalt auf dem Weg von der Lungenheilkunde zur Onkologie. Nach neunhundertneunundneunzig Tränen zog ich mich in die Wärme des Mantels zurück und machte mich ungläubig auf den Weg. Und es wurde immer noch kälter. Ich musste flüchten, hätte die vergangenen paar Minuten meines Lebens am liebsten zurückgedreht. Niemand hatte diesen Alptraum mit mir und meinem Vater miterlebt. Es gab ihn noch nicht im Leben der Menschen um uns herum. Vielleicht war das Ganze deshalb so surrealistisch, aber gleichzeitig auch so schmerzhaft und einsam. Der Arzt fragte, wo ich hinwolle. Keine Ahnung. Ich wusste nur eins: Ich musste weg. Zurück in mein altes Leben.
In der Woche darauf sollte ich wieder zur Uni. An diesem Tag, in diesem Raum aber veränderte sich meine Welt vollständig - und nur meine. Die anderen Studenten liefen einfach weiter, um rechtzeitig zur Vorlesung zu kommen, in einer Hand einen Plastikbecher mit miesem Automatenkaffee, in der anderen ihr Frühstück oder die Morgenzeitung. Und nicht nur die Studenten, auch die - jetzt plötzlich schrecklichen, beängstigenden - Weißkittel verschwanden außer Sicht, um sich ihren neuen Prioritäten zu widmen. Nur meine Welt blieb zurück, und sie schien mehr und mehr zu einer ganz eigenen Welt zu werden.
Eine Viertelstunde später wurden wir in die onkologische Ambulanz weitergeschickt, die Abteilung für Krebspatienten. Dort bestätigten sich die vergangenen Minuten, und die Wahrheit nahm allmählich Gestalt an. So nüchtern, als ginge es um die Produktion von Autoreifen. Von dem Gespräch dort habe ich nur die ersten Wörter behalten: »aggressiv«, »selten«, »gestreut«. Von der Leber in die Lunge.
Ein Schlag. Au. Nicht gut, dachte ich, gar nicht gut. Und dann der letzte Satz des Arztes: »Das wegzukriegen ist schon allein eine Herausforderung. Aber die eigentliche Herausforderung kommt erst noch: zu erreichen, dass es auch wegbleibt.«
Noch ein Schlag. Muss ich sterben?, ging es mir durch den Kopf. Ich schaute schräg nach unten, dahin, wo Wand und Boden zusammentreffen.
Der nächste Schlag: »Wenn wir dir überhaupt helfen können, dann ...«
Wenn. »Wenn«, hatte er gesagt. Ja, dachte ich, ich muss sterben. Was soll ich noch mit meinem Leben?
Und noch ein Schlag: »Vierundfünfzig Wochen ... Chemo ... Knochen-CT... Wenn ... Wenn ... Wenn ...«
Ich musste da weg, ich konnte jetzt einfach nicht über den Zustand meiner Zellen oder meines Knochenmarks sprechen. Ich lief hinaus.
Mein Vater hörte sich den Rest an und beendete dann das Gespräch.
Wir mussten sofort in die Radiologie, wo man mir eine radioaktive Substanz spritzte. Mein Vater ging weg - um meine Mutter und meine Schwester anzurufen, wie sich später herausstellte. Aber ich dachte, na toll, wenn er das schon nicht aushält. Als er zurückkam, waren seine Augen gerötet, was er vergeblich zu verbergen suchte. Das ist das Schlimmste an dem ganzen Alptraum: ein Vater, der in die Knie geht, wenn er denkt, man schaut gerade nicht hin. Oder eine Mutter, die sich nachts am Telefon bei ihrer Schwester ausweint, auf der Treppe, weil sie glaubt, da höre ich sie nicht.
Die Spritze musste zwei Stunden wirken. Das gab uns gerade genug Zeit, um die Umgebung zu wechseln und uns zu Hause zu verkriechen.
»Das klingt nicht gut, Pap«, sagte ich, »das klingt überhaupt nicht gut.« Das ist der Anfang vom Ende, dachte ich.
»Bei deiner Mutter hat sich das auch erst alles so negativ angehört, Sophie«, antwortete mein Vater. »Das wird jetzt ein Scheißjahr, aber nächstes Jahr ist alles wieder beim Alten.«
»Was redest du denn da, hier geht's doch nicht um Brustkrebs! «
»So sind die Ärzte nun mal«, sagte er entschieden.
Und so sind Väter nun mal, dachte ich.
Als wir in unsere Straße einbogen, stand meine Schwester im Jogginganzug wartend vor dem Haus. Sie heißt Saskia, aber ich nenne sie nur Zus, Schwester. Manchmal sehen wir uns sehr ähnlich, manchmal überhaupt nicht. Wir haben die gleichen dunklen Augenbrauen und die gleichen vollen Lippen, aber das ist auch schon alles. Zu dem Zeitpunkt waren wir gerade nicht so eng. Wir hatten viel aneinander auszusetzen. Aber jetzt brauchte ich sie. Ich zitterte in ihren Armen. »Ich bin erst einundzwanzig, Zus«, stammelte ich, »und ich hab Krebs. Vielleicht sterbe ich.« Sie hielt mich fest an sich gedrückt, und ich spürte, dass sie auch zitterte. Weinend gingen wir ins Haus.
Ich schaute in den Spiegel und suchte nach etwas Fremdem, das nicht zu mir gehörte, das da nicht hinpasste. Einem fremden Krebs. Ich sah ein geisterhaft bleiches, verängstigtes Mädchen. Ich begriff nicht - sah ich mich selbst?
Ein Mädchen mit Krebs? Bin ich ein Mädchen mit Krebs?
Meine Mutter war inzwischen auf dem Weg nach Hause, in der Straßenbahn von Sloten zum Hauptbahnhof Amsterdam. Bestimmt saß sie in einer Ecke am Fenster, den Blick in die Ferne gerichtet. Vielleicht war die Bahn auch rappelvoll, und sie musste sich zwischen lauter regennassen Mänteln aufrecht halten. Oder hatte es schon wieder aufgehört zu regnen? Ich weiß es nicht mehr - so viele Tränen wegen Krebs. Ihr Krebs und jetzt mein Krebs. Wäre ich nur bei ihr gewesen, um sie zu stützen, obwohl ich mich selbst kaum auf den Beinen halten konnte. Sie war es, die mich stützte, als sie nach Hause kam, mich in die Arme nahm, als wollte sie mich nie mehr loslassen. Ich saß gerade auf dem Klo, als sie die Treppe heraufgestürzt kam. Schnell zog ich den Reißverschluss meiner Hose hoch und spülte den Angsturin hinunter. Meine Jeans schlotterten mir um den Po, vom Krebs, wie mir jetzt klar wurde.
Ihre Augen waren feucht, aber sie weinte nicht. »Wir schaffen das«, sagte sie mehrmals.
Ich zitterte, und ich nickte.
Nach einer Stunde mussten wir wieder in die Klinik, zur Knochen-CT. Knochen-CT - das klang bedrohlich.
Meine Mutter hatte selbst erst vor kurzem unter dem riesigen Apparat gelegen und führte mich behutsam zu ihm hin. Mein Vater, meine Schwester und meine Oma, die wir auch alarmiert hatten, saßen unten in dieser Scheißcafeteria des OLVG. Ich musste meinen Schmuck ablegen, die Kleider konnte ich anbehalten. Es war ein großer Raum, aber das Gerät erschien mir noch größer. Meine Mutter drückte mir ihre Kastanie in die Hand, als Glücksbringer, und ließ mich nicht wieder los, bis ich sie davon überzeugt hatte, dass ich ihr Mantra übernommen hatte: »Es sitzt nicht in meinen Knochen. Es sitzt nicht in meinen Knochen. Es sitzt nicht in meinen Knochen.« Oder: »Ich sterbe nicht. Ich sterbe nicht. Ich sterbe nicht.«
Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten. In dieser Zeit wird man allein gelassen, wegen der Strahlung. Ich weiß noch, dass ich die plötzliche Stille sehr angenehm fand. Ich schlief sogar ein, und das war herrlich. Das Aufwachen umso schrecklicher.
Wir verließen den Raum und setzten uns auf die Stühle im Flur. Warum, weiß ich nicht mehr, den Befund sollten wir ja erst in der folgenden Woche bekommen. Vielleicht mussten wir uns einfach einen Moment ausruhen. Der Helfer, der zu dem riesigen Apparat gehörte, kam heraus und sagte, es sehe gut aus. Ich begriff nicht - hatte darüber nicht mein neuer Arzt zu befinden? Erst dachte ich, er wollte nur sagen, dass die Aufnahme gelungen war. So von wegen »gutes Licht« und »richtige Haltung«. Meine Mutter begriff zum Glück sofort. Offenbar stand uns die Spannung so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass der Junge uns die gute Nachricht gleich überbringen wollte, inoffiziell. Dreimal musste er sie wiederholen, bis sie zu mir durchdrang. Ich flog ihm um den Hals, und meine Mutter auch. Zwei Wangen, zwei Frauen, zwei Abdrücke. Wir rannten die Treppe hinunter, zu meinem Vater. Er kam uns schon vom Ende des Flurs entgegen. Ich lief auf ihn zu und rief: »Papa, Papa, es sitzt nicht in den Knochen! Meine Knochen sind frei, ich werde wieder gesund!« Ich warf mich in seine Arme, und er ging in die Knie. Später erzählte er mir, dieser Augenblick sei ihm am deutlichsten in Erinnerung geblieben aus der ganzen schlimmen Zeit. Aber die Untersuchungen waren noch nicht beendet. Am nächsten Tag musste ich zur Knochenmarkpunktion. Ich wollte nicht wieder in die Klinik, ich hasste meinen neuen Arzt und alles, was bei ihm herumlief. Er warnte mich vor den Schmerzen, aber in dem Moment waren mir die Schmerzen egal. Er holte eine lange Nadel und einen Schraubenzieher hervor und verschwand mit seinen Geräten Richtung Hüfte. Meine Hüfte. In meine Hüfte rein.
Ein kleines Loch blieb zurück, auf das die Schwester ein großes weißes Pflaster klebte. »So, das war's. Das hast du wirklich gut gemacht.« Es war eine liebe Schwester mit einem kurzen Männerhaarschnitt und auffälligen Ohrringen. Wir hatten sofort einen Draht zueinander, wahrscheinlich, weil sie meine Mutter noch kannte. Die hielt meine Hände und sah mir gerade in die Augen. Ich zitterte vor Angst. Angst vor Ärzten mit unheimlichen Wörtern. Angst vor Krebs. Und vor allem Angst vor dem, was noch kommen würde.


Aus dem Niederländischen von Barbara Heller

Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2008