Er ist wieder da

Er ist wieder da
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Produktbeschreibung

Was wäre, wenn ...?

Ein alter Bekannter betritt erneut die politische Weltbühne: Adolf Hitler ist wieder da...

Sommer 2011: Adolf Hitler erwacht auf einem leeren Grundstück in Berlin-Mitte. Ohne Krieg, ohne Partei, ohne Eva. Im tiefsten Frieden, unter Tausenden von Ausländern und Angela Merkel. 66 Jahre nach seinem vermeintlichen Ende strandet er in der Gegenwart und startet gegen jegliche Wahrscheinlichkeit eine neue Karriere - im Fernsehen.
 

Klappentext zu „Er ist wieder da“

Sommer 2011. Adolf Hitler erwacht auf einem leeren Grundstück in Berlin-Mitte. Ohne Krieg, ohne Partei, ohne Eva. Im tiefsten Frieden, unter Tausenden von Ausländern und Angela Merkel. 66 Jahre nach seinem vermeintlichen Ende strandet der Gröfaz in der Gegenwart und startet gegen jegliche Wahrscheinlichkeit eine neue Karriere - im Fernsehen. Dieser Hitler ist keine Witzfigur und gerade deshalb erschreckend real. Und das Land, auf das er trifft, ist es auch: zynisch, hemmungslos erfolgsgeil und auch trotz Jahrzehnten deutscher Demokratie vollkommen chancenlos gegenüber dem Demagogen und der Sucht nach Quoten, Klicks und "Gefällt mir"-Buttons. Eine Persiflage? Eine Satire? Polit-Comedy? All das und mehr:
Timur Vermes' Romandebüt ist ein literarisches Kabinettstück erster Güte.

Bibliografische Angaben

2012, 17. Aufl., 396 Seiten, Maße: 13,9 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
Verlag: Eichborn
ISBN-10: 3847905171
ISBN-13: 9783847905172

Autoren-Porträt von Timur Vermes

Timur Vermes, geb. 1967, studierte in Erlangen Geschichte und Politik und wurde dann Journalist. Seit 2007 veröffentlichte er als Ghostwriter vier Bücher, zwei weitere sind in Vorbereitung.

 

Autoren-Interview



Wie begegnet der Leser von heute dem „Führer"? Mit welchen Leserreaktionen rechnen Sie?

Timur Vermes: Der Leser begegnet Hitler direkt, vermutlich direkter als je zuvor: Er sitzt in Hitlers Kopf, das ganze Buch hindurch. Wie die Leser darauf reagieren, ist schwer zu sagen: Es wird einige geben, die sich weigern, das mitzumachen - und zwar aus Prinzip. Die Mehrheit wird wahrscheinlich feststellen, dass man es dort ganz gut aushalten kann und dass die Perspektive recht vergnüglich ist. Nicht für Hitler, aber für den Leser. Und dann hoffe ich auf das, was nach einem guten Kinobesuch kommt: Die Diskussion - darf man das? Hat der Autor geschummelt, um Hitlers Kopf weniger schlimm zu machen? Oder ist man am Ende selber so abgebrüht?

Was hat Sie dazu veranlasst, Hitler zum Protagonisten Ihres Romans zu machen? Wie sind Sie auf die Grundidee gekommen, Hitler wieder auferstehen zu lassen?

Timur Vermes: Ein Zufall: Ich bin im Türkei-Urlaub an einem Buchstand vorbeigekommen, der „Hitler's Second Book" anbot. Ich wusste nur von „Mein Kampf", also hielt ich auf Anhieb das „Zweite Buch" schon für eine Parodie oder eine dreiste Fälschung, jedenfalls schoss mir als Nächstes durch den Kopf: „Dann kann ich ja genauso gut das dritte Buch schreiben". Man kann auch sagen: Ich hatte die Idee aus Ahnungslosigkeit. Wenn ich damals schon gewusst hätte, dass Hitler tatsächlich ein zweites Buch geschrieben hat, hätte ich nur „Aha" gesagt oder „sieh an" und wäre einfach weiter gegangen.

Christoph Maria Herbst gibt Ihnen recht: „Satirisch, saukomisch. Und bei allem Lachen bleibt ein Rest Gänsehaut", sagt er über Ihren Roman. Was war Ihnen beim Schreiben wichtiger: dass Ihre Leser lachen oder dass sie Gänsehaut kriegen?

Timur Vermes: Beides ist gleich wichtig, aber von beiden Zutaten braucht man natürlich nicht dieselbe Menge. Und Gänsehautbücher gibt's ja über Hitler schon genug.

Wie sind Sie beim Schreiben des Buches vorgegangen? Haben Sie Hitlers Originalschriften und Bücher gelesen? Wie haben Sie für dieses Buch recherchiert?

Timur Vermes: Material gibt es ja endlos. Insofern war es wichtig, sich klar zu machen, was ich brauche: Ich musste wissen, wie Hitler sich darstellen würde, wenn er ein Buch über sich schreiben würde. Und genau für diesen Fall gab es schon eine Blaupause: „Mein Kampf". Parallel dazu brauchte ich noch Quellen, wie Hitler sprach, wenn er nicht auf einer Bühne stand, wie er argumentierte - die „Monologe aus dem Führerhauptquartier".

Und flankierend noch ein oder zwei seriöse Biographien, um die eigenen Eindrücke mit denen anderer Autoren abzugleichen, damit man nicht irgendwann völlig daneben liegt.

Wie lange haben Sie an dem Buch gearbeitet?

Timur Vermes: Ein halbes Jahr. Das ging zügig, auch deshalb, weil die Handlung sich weitgehend von selbst ergab. Er wacht auf dem Grundstück auf, er braucht zunächst Hilfe, etc. Und dann wusste ich ziemlich früh, wie das Buch enden sollte. Ich will also von A nach B, und als Transportmittel habe ich diese sehr eigene Hitlerlogik - das rollte dann sehr schnell ab. Ich halte das auch nicht für ein schlechtes Zeichen.

Gab es Reaktionen aus Ihrem Umfeld auf Ihr außergewöhnliches Schreibprojekt? Haben Sie während des Schreibens offen davon erzählt oder es sogar bewusst geheim gehalten?

Timur Vermes: Naja, meine Frau sagte des Öfteren: Ich kann den Führer nicht mehr hören. Weil ich alle Nase lang irgendwas aus „Mein Kampf" vorgelesen habe, was ich für skurril hielt. Generell habe ich das Projekt nicht weitererzählt, aus zwei Gründen: Erstens, weil ich Angst hatte, mir käme jemand zuvor - es ist ja eigentlich verblüffend, dass nicht schon längst jemand das gemacht hat. Und zweitens, weil ich zugleich nicht so recht vermitteln konnte, was drinsteckt. Ich habe einmal einem wirklich engen Freund am Telefon erzählt, was ich mache: Hitler erwacht heute in Berlin. Und ich habe förmlich die Höflichkeit gehört und wie er gleichzeitig denkt: „Auweia, hoffentlich kriegt der bald wieder einen vernünftigen Auftrag." Und dann schieb ich noch hinterher „Das ist aber schon witzig! Das wird echt gut!", und dann merkt man sofort, wie alles noch verzweifelter klingt, und dann lässt man's lieber.

Wird in Deutschland, Ihrer Meinung nach, zu wenig gelacht? Was macht für Sie einen guten Witz aus?

Timur Vermes: Die richtige Lachdosis kenne ich nicht, das ist wohl eher was für den Herrn Hirschhausen. Und ob ein Witz gut ist, hängt letztlich davon ab, ob jemand drüber lacht.

Darf man über Hitler Witze machen? Und dann noch als Deutscher? Wie ernst sollte man Ihr Buch nehmen?

Timur Vermes: Natürlich darf man über Hitler Witze machen, das ist ja das Schöne an einer Demokratie. Aber Sie werden in dem Buch kaum Witze über Hitler finden.

Sondern?

Timur Vermes: Witze mit Hitler. Das fand ich auch das Reizvolle daran: Wir lachen nicht über Hitler, wir lachen mit Hitler. Anfangs sieht das manchmal noch anders aus, da ist er noch unbeholfen, verwirrt, aber je länger das Buch dauert, desto weniger ist er der Dumme. Das hat es, meines Wissens, bisher tatsächlich noch nicht gegeben. Und da fragt man sich schon, ob man das darf.



Und? Darf man?

Timur Vermes: Ja, aber ich fand, ich müsste mich dafür an ein paar Spielregeln halten. Erstens: Hitler wird nicht für die Gags zurechtgebogen, ich nehme den Originalhitler. Und damit pflanze ich mit den meisten Gags eine Hitlerinformation in den Leser: Wenn er lacht, hat er meistens irgendwann vorher wieder ein Stück Hitlerlogik verstanden. Nicht übernommen, hoffentlich, aber doch so weit nachvollzogen, dass er Hitlers Reaktion erklären kann.

Ich fürchte, man kann das Buch ganz schön ernst nehmen. Gottseidank ist mir das beim Schreiben nicht aufgefallen.

Der GröFaZ lässt sich nicht davon beirren, dass Deutschland sich verändert hat. Er bleibt ganz er selbst und findet schnell ein begeistertes Publikum. Ist Deutschland doch noch voller Nazis oder was passiert da?

Timur Vermes: Ja, was passiert da? Sie haben doch selbst soeben ein ganzes Buch in Hitlers Kopf verbracht, ohne dauernd zu denken „was für ein böser, böser Mensch". Sind Sie jetzt ein Nazi?

Ich finde, das Erschreckende ist, dass man gar kein Nazi sein muss, um es mit Hitler auszuhalten, um stellenweise sogar auf seine Seite zu rutschen.

Den Machern von „Der Untergang" wurde seinerzeit vorgeworfen, Adolf Hitler zu menschlich, fast sympathisch dargestellt zu haben. Hatten Sie solche Kritiken und Reaktionen beim Schreiben im Kopf?

Timur Vermes: Nein, weil ich ja angesichts des kniffligen Themas beim Schreiben nicht davon ausgehen konnte, dass irgendein Kritiker das Buch in die Hand nimmt oder, dass sich überhaupt ein Verlag dafür interessiert. Und jetzt bin ich gerne bereit, mich mit Kritikern zu streiten. Aber ums gleich zu sagen: Ich glaube nicht, dass man den Teufel an seinen Hörnchen erkennt.

Was meinen Sie, wie würde Adolf Hitler auf Ihre Beschreibungen zu seiner Person reagieren?

Timur Vermes: Er würde sagen: „Ich weiß wirklich nicht, was es da zu lachen gibt."

Sie haben seit 2007 vier Bücher als Ghostwriter veröffentlicht. Wie kommt es, dass Sie nun mit Ihrem Roman „Er ist wieder da", erstmals öffentlich die literarische Bühne betreten?

Timur Vermes: Weil ich den Weg zum Roman schwer fand. Ghostwriting ist ja ganz angenehm, weil jemand anderes die ganzen Geschichten bereits erlebt hat, und ich muss sie nur noch aufschreiben. Und wenn man „Er ist wieder da" anguckt, ist es ja im Grunde auch wieder ein bisschen Ghostwriting.

Welche Bezeichnung trifft Ihrer Meinung nach am besten auf Ihr Buch zu? Ist es eine Persiflage, eine Parodie, eine Satire oder schlicht Polit-Comedy?

Timur Vermes: Ein Germanist würde wohl sagen: Es ist ein Schelmenroman. Und die Hauptfigur ist ein Schelm, der Böses dabei d

 

Lese-Probe

Er ist wieder da von Timur Vermes


Erwachen in Deutschland

Das Volk hat mich wohl am meisten überrascht. Nun habe ich ja wirklich das Menschenmögliche getan, um auf diesem vom Feinde entweihten Boden die Grundlagen für eine Fortexistenz zu zerstören. Brücken, Kraftwerke, Straßen, Bahnhöfe, ich habe die Zerstörung all dessen befohlen. Und inzwischen habe ich es auch nachgelesen, wann, das war im März, und ich denke, ich habe mich in dieser Beziehung ganz klar ausgedrückt. Alle Versorgungseinrichtungen sollten vernichtet werden, Wasserwerke, Telefonanlagen, Produktionsmittel, Fabriken, Werkstätten, Bauernhöfe, jegliche Sachwerte, alles, und damit meinte ich auch: alles! Da muss man sorgfältig vorgehen, da darf bei so einem Befehl kein Zweifel bestehen bleiben, das kennt man ja, dass dann vor Ort der einfache Soldat, dem verständlicherweise in seinem Frontabschnitt der Überblick, die Kenntnis der strategischen, taktischen Zusammenhänge fehlt, dass der dann kommt und sagt: »Ja, muss ich denn wirklich auch diesen, diesen, sagen wir einmal Kiosk hier anzünden? Kann der nicht dem Feind in die Hände fallen? Ist das denn so schlimm, wenn dem Feind der Kiosk in die Hände fällt?« Das ist natürlich schlimm! Der Feind liest ja auch eine Zeitung! Er treibt Handel damit, er wird den Kiosk gegen uns wenden, alles, was er vorfindet! Man muss alle, und ich unterstreiche es nochmals, alle Sachwerte zerstören, nicht nur Häuser, auch Türen. Und Türklinken. Und dann auch die Schrauben, und nicht nur die großen. Die Schrauben muss man herausdrehen und sie dann unbarmherzig verbiegen. Und die Tür muss man zermahlen, zu Sägemehl. Und dann verbrennen. Denn der Feind wird sonst unnachsichtig selber durch diese Tür ein und ausgehen, wie es ihm gerade beliebt. Aber mit einer kaputten Klinke und lauter verbogenen Schrauben und einem Haufen Asche, da wünsche ich dem Herrn Churchill viel Vergnügen! Jedenfalls sind diese Erfordernisse die brutale Konsequenz des Krieges, das ist mir immer klar gewesen, insofern konnte mein Befehl auch gar nicht anders gelautet haben, auch wenn der Hintergrund meines Befehles ein anderer war.

Jedenfalls ursprünglich.

Es war nicht mehr zu leugnen, dass sich das deutsche Volk zuletzt im epischen Ringen mit dem Engländer, mit dem Bolschewismus, mit dem Imperialismus als das unterlegene erwiesen hatte und damit seine Fortexistenz selbst auf dem primitivsten Stadium eines Jäger- und Sammlertums, ich sage es schlicht: verwirkt hatte. Von daher hat es auch jegliches Anrecht auf Wasserwerke, Brücken, Straßen verspielt. Und auch auf Türklinken. Deshalb gab ich den Befehl, und ein wenig auch der Vollständigkeit halber, denn natürlich habe ich damals auch gelegentlich ein paar Schritte vor und um die Reichskanzlei getan, und man muss es da unwiderruflich zur Kenntnis nehmen: Der Amerikaner, der Engländer, sie hatten uns mit ihren Fliegenden Festungen in Hinsicht auf meinen Befehl schon großflächig eine beträchtliche Menge Arbeit abgenommen. Ich habe die Umsetzung dieses Befehls in der Folgezeit natürlich nicht in allen Einzelheiten kontrolliert. Man kann sich vorstellen, ich hatte viel zu tun, die Niederringung des Amerikaners im Westen, die Abwehr des Russen im Osten, die städtebauliche Weiterentwicklung der Welthauptstadt Germania und so weiter, aber mit den übrigen Türklinken hätte die deutsche Wehrmacht meiner Einschätzung nach fertigwerden müssen. Und insofern hätte es dieses Volk eigentlich nicht mehr geben dürfen. Es ist aber, wie ich jetzt feststelle, noch immer da.

Das ist mir einigermaßen unbegreiflich.

Andererseits: Ich bin ja auch da, und das verstehe ich genauso wenig.


I.

Ich erinnere mich, ich bin erwacht, es dürfte früher Nachmittag gewesen sein. Ich öffnete meine Augen, ich sah über mir den Himmel. Er war blau, leicht bewölkt, es war warm, und mir war sofort klar, dass es für April zu warm war. Man konnte es fast heiß nennen. Es war vergleichsweise still, über mir war kein Feindflieger zu sehen, kein Geschützdonner zu hören, keine Einschläge in der Nähe, keine Luftschutzsirenen. Ich registrierte auch: keine Reichskanzlei, kein Führerbunker. Ich wandte den Kopf, ich sah, ich lag auf dem Boden eines unbebauten Grundstücks, umgeben von benachbarten Häuserwänden, aus Ziegeln gemauert, teilweise von Schmutzfinken beschmiert, ich ärgerte mich sofort und beschloss spontan, Dönitz herbeizuzitieren. Ich dachte zuerst gar, wie in einem Halbschlummer, ja liegt denn Dönitz auch hier irgendwo herum, dann siegte die Disziplin, die Logik, ich erfasste rasch die Eigenwilligkeit der Lage. Ich kampiere üblicherweise nicht unter freiem Himmel.

Zuerst überlegte ich: Was hatte ich am Vorabend getan? Über unmäßigen Alkoholkonsum brauchte ich mir keine Gedanken machen, ich trinke ja nicht. Ich erinnerte mich, zuletzt mit Eva auf einem Sofa gesessen zu haben, auf einem Plumeau. Ich erinnerte mich auch, dass ich oder wir dort in einer gewissen Sorglosigkeit saßen, ich hatte meines Wissens beschlossen, die Staatsgeschäfte einmal ein wenig ruhen zu lassen, wir hatten keine weiteren Pläne für den Abend, Essen gehen oder Kino oder dergleichen kam selbstverständlich nicht infrage, das Unterhaltungsangebot der Reichshauptstadt war zu diesem Zeitpunkt, nicht zuletzt auch meinem Befehl gemäß, bereits erfreulich ausgedünnt. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob in den folgenden Tagen Stalin in die Stadt kommen würde, es war zu diesem Zeitpunkt des Kriegsverlaufs nicht vollständig auszuschließen. Was ich aber mit Sicherheit sagen konnte, war, dass er hier so vergeblich nach einem Lichtspieltheater gesucht haben dürfte wie in Stalingrad. Ich glaube, wir hatten dann noch ein wenig geplaudert, Eva und ich, und ich hatte ihr meine alte Pistole gezeigt, weitere Details waren mir bei meinem Erwachen nicht geläufig. Auch weil ich unter Kopfschmerzen litt. Nein, die Erinnerung an den Vorabend brachte mich hier nicht weiter.

Ich entschloss mich also, das Heft des Handelns zu ergreifen und mich mit meiner Situation näher auseinanderzusetzen. In meinem Leben habe ich gelernt, zu beobachten, zu betrachten, auch oft kleinste Dinge wahrzunehmen, die mancher Studierte gering schätzt, ja ignoriert. Ich hingegen kann dank jahrelanger eiserner Disziplin von mir ruhigen Gewissens sagen, ich werde in der Krise kaltblütiger, noch überlegter, die Sinne werden schärfer. Ich arbeite präzise, ruhig, wie eine Maschine. Ich fasse methodisch zusammen, was ich an Informationen habe: Ich liege auf dem Boden. Ich sehe mich um. Neben mir lagert Unrat, es wächst Unkraut, Halme, hier und da ein Busch, auch ein Gänseblümchen ist dabei, Löwenzahn. Ich höre Stimmen, sie sind nicht zu weit entfernt, Schreie, das Geräusch fortgesetzten Aufprallens, ich sehe in die Richtung der Geräusche, sie rühren von einigen Buben her, die dort Fußball spielen. Es sind keine Pimpfe mehr, für den Volkssturm wohl noch zu jung, sie sind vermutlich in der HJ, aber offensichtlich derzeit nicht im Dienst, der Feind scheint eine Ruhephase eingelegt zu haben. Ein Vogel bewegt sich im Geäste eines Baumes, er zwitschert, er singt. Für manchen ist das nur ein Zeichen heiterer Laune, aber in dieser ungewissen Lage, angewiesen auf jede Information, und mag sie noch so klein sein, kann der Kenner der Natur und des alltäglichen Überlebenskampfes daraus folgern, dass keine Raubtiere anwesend sind. Direkt neben meinem Kopfe befindet sich eine Pfütze, sie scheint im Schrumpfen begriffen, es hat wohl vor längerer Zeit geregnet, seither aber nicht mehr. An ihrem Rand liegt meine Schirmmütze. So arbeitet mein geschulter Verstand, so arbeitete er auch in diesem irritierenden Momente.

Ich setzte mich auf. Es gelang mir problemlos, ich bewegte die Beine, die Hände, die Finger, ich schien keine Verletzungen zu haben, der körperliche Zustand war erfreulich, ich war wohl vollständig gesund, von den Kopfschmerzen einmal abgesehen, sogar das Zittern meiner Hand schien fast völlig nachgelassen zu haben. Ich sah an mir herab. Ich war bekleidet, ich trug die Uniform, den Rock des Soldaten. Er war etwas schmutzig, wenn auch nicht zu sehr, verschüttet war ich also nicht gewesen. Erde befand sich darauf, wie mir schien auch Krumen von Gebäck, Kuchen oder dergleichen. Der Stoff roch stark nach Treibstoff, vielleicht Benzin, es mochte daher rühren, dass Eva möglicherweise versucht hatte, meine Uniform zu reinigen, allerdings mit übertriebenen Mengen Reinigungsbenzin, man hätte meinen können, sie hätte einen ganzen Kanister über mich gekippt. Sie selbst war nicht da, auch sonst schien mein Stab derzeit nicht in der Nähe. Ich klopfte den gröbsten Schmutz von meinem Rocke, von meinen Ärmeln, als ich eine Stimme vernahm.

»Ey, Alter, kiek ma!«

»Ey, wat'n det für'n Opfa?«

Ich schien einen hilfsbedürftigen Eindruck zu machen, das hatten die drei Hitlerjungen vorbildlich erkannt. Sie beendeten ihr Fußballspiel, näherten sich respektvoll, das war verständlich, den Führer des Deutschen Reiches plötzlich in unmittelbarer Nähe zu erleben, auf einer Brachfläche, die gemeinhin zu Sport und körperlicher Ertüchtigung genutzt wird, zwischen Löwenzahn und Gänseblume, das ist auch für den jungen, noch nicht voll gereiften Mann eine ungewöhnliche Wendung in seinem Tagesablauf, dennoch eilte die kleine Schar herbei, dem Windhunde gleich, bereit zu helfen. Die Jugend ist die Zukunft!

Die Buben versammelten sich mit einem gewissen Abstand um mich, musterten mich, woraufhin der größte unter ihnen, offenbar der Kameradschaftsführer, sich an mich wandte:

»Allet klar, Meesta?«

Bei aller Besorgnis kam ich nicht umhin, das vollständige Fehlen des Deutschen Grußes zu registrieren. Gewiss, die reichlich formlose Ansprache, die Verwechslung von »Meister« und »Führer« mochte der Überraschung geschuldet sein, in einer weniger verwirrenden Situation hätte sie womöglich ungewollt Heiterkeit hervorrufen können, wie sich ja oft selbst im erbarmungslosen Stahlgewitter des Schützengrabens die bizarrsten Possen ereignen, dennoch muss der Soldat freilich auch in ungewohnten Situationen bestimmte Automatismen zeigen, das ist der Sinn des Drills - wenn diese Automatismen fehlen, dann ist die ganze Armee keinen Pfifferling wert. Ich richtete mich auf, es fiel nicht ganz leicht, ich schien schon länger gelegen zu haben. Dennoch rückte ich den Rock gerade, reinigte notdürftig mit einigen wenigen, leichten Schlägen die Hosenbeine. Dann räusperte ich mich und fragte den Kameradschaftsführer:

»Wo ist Bormann?«

»Wer is'n ditte?«

Es war nicht zu fassen.

»Bormann! Martin!«

»Kenn ick nich.«

»Nie jehört.«

»Wie siehta'n aus?«

»Wie ein Reichsleiter, zum Donnerwetter!«

Irgendetwas war hier absolut ungewöhnlich. Ich befand mich zwar offenbar noch immer in Berlin, war jedoch augenscheinlich des gesamten Regierungsapparats beraubt. Ich musste dringend zurück in den Führerbunker, und, so viel schien mir klar, die anwesende Jugend konnte dabei keine große Hilfe sein. Zunächst galt es, den Weg zu finden. Das gesichtslose Areal, auf dem ich mich befand, konnte überall in der Stadt sein. Aber ich musste ja nur hinaus auf die Straße treten, in dieser anscheinend schon länger andauernden Feuerpause würden wohl Passanten, Berufstätige, Droschkenfahrer genug unterwegs sein, um mir den Weg zu weisen.

Vermutlich wirkte ich den Hitlerjungen nicht hilfsbedürftig genug, sie machten den Eindruck, als wollten sie ihr Fußballspiel wieder aufnehmen, jedenfalls wandte sich der größte nun zu seinen Kameraden um, wodurch ich seinen Namen lesen konnte, den ihm seine Mutter auf das geradezu grellbunte Sportleibchen gewirkt hatte.

»Hitlerjunge Ronaldo! Wo geht es zur Straße?«

Die Reaktion war dürftig, ich muss leider sagen, dass die Truppe so gut wie nicht aufmerkte, einer der beiden Kleineren zeigte jedoch im Gehen schwunglos mit dem Arm auf einen Winkel des Grundstücks, in dem sich bei näherer Betrachtung tatsächlich ein Durchgang andeutete. Ich machte mir im Geiste einen Vermerk im Sinne von »Rust entlassen« oder »Rust entfernen«, seit 1933 war der Mann im Amt, und gerade im Bildungswesen ist kein Platz für eine derart bodenlose Schlamperei. Wie soll ein junger Soldat den siegreichen Weg nach Moskau finden, in das Herz des Bolschewismus, wenn er nicht einmal seine eigenen Befehlshaber erkennt!

Ich bückte mich, hob meine Mütze auf und lief, sie aufsetzend, mit festem Schritte in die gewiesene Richtung. Es ging um eine Ecke, dann folgte ich einem schmalen Durchweg zwischen hohen Wänden, an dessen Ende das Licht der Straße leuchtete. Eine scheue Katze drängte sich an der Wand an mir vorbei, sie war bunt gefleckt und ungepflegt, dann tat ich noch vier, fünf Schritte und trat hinaus auf die Straße.

Mir stockte der Atem angesichts des gewaltigen Ansturms von Licht und Farbe.

Ich erinnerte mich, die Stadt zuletzt sehr staub- oder auch feldgrau wahrgenommen zu haben, auch mit erheblichen Trümmerbergen und Beschädigungen. Doch vor mir lag nichts dergleichen. Die Trümmer waren verschwunden oder zumindest sauber entfernt, die Straßen geräumt. Stattdessen standen an den Straßen- rändern zahlreiche, ja zahllose bunte Wagen, die wohl Automobile sein mochten, aber sie waren kleiner, und dennoch schienen bei ihrem Entwurf überall die Messerschmitt- Werke federführend mitgewirkt zu haben, so fortschrittlich muteten sie an. Die Häuser waren sauber gestrichen, in unterschiedlichen Farben, die mich mitunter an Zuckerwerk in meiner Jugend erinnerten. Ich bekenne, mir wurde ein wenig schwindelig. Mein Blick suchte nach Vertrautem, ich sah eine schäbige Parkbank auf einem Grünstreifen jenseits der Fahrbahn, ich machte einige wenige Schritte, und ich schäme mich nicht zu sagen, dass sie womöglich etwas unsicher gewirkt haben können. Ich hörte ein Läuten, das Bremsen von Gummi auf Asphalt, und dann schrie mich jemand an.

»Sachma, geht's noch, Alter! Biste blind?«

»Ich - ich bitte um Entschuldigung ...«, hörte ich mich sagen, erschrocken und erleichtert zugleich. Neben mir stand ein Radfahrer, wenigstens dieser Anblick war mir vergleichsweise vertraut, doppelt zumal. Wir hatten nach wie vor Krieg, er trug zum Schutze einen von vorherigen Angriffen wohl stark beschädigten, eigentlich völlig durchlöcherten Helm.

»Wie läufst'n du überhaupt rum!«

»Ich - Verzeihung - ich ... ich muss mich hinsetzen.«

»Du solltest dich eher mal hinlegen. Und zwar für länger!«

Ich rettete mich auf die Parkbank, ich werde wohl etwas blass gewesen sein, als ich mich darauf fallen ließ. Auch dieser jüngere Mann schien mich nicht erkannt zu haben. Es gab hier schon wieder keinen Deutschen Gruß, die Reaktion sah aus, als habe er nur fast einen x-beliebigen, herkömmlichen Passanten gerammt. Und dieser Schlendrian schien die allseits geübte Praxis zu sein: Ein älterer Herr ging an mir vorbei, kopfschüttelnd, eine voluminöse Dame mit einem futuristischen Kinderwagen - ein weiteres vertrautes Element, doch auch dies vermochte meine desperate Lage nicht auswegreicher zu gestalten. Ich hatte mich erhoben, war mit um Festigkeit bemühter Haltung an sie herangetreten.

»Verzeihung, es mag Sie überraschen, aber ich ... benötige sofort den kürzesten Weg zur Reichskanzlei.«

»Sind Sie vom Stefan Raab?«

»Bitte?«

»Oder der Kerkeling? Einer von Harald Schmidt?«

Es mag an meiner Nervosität gelegen haben, dass ich etwas ungehalten wurde und sie am Arm packte.

»Reißen Sie sich zusammen, Frau! Sie haben Pflichten als Volksgenossin! Wir sind im Krieg! Was glauben Sie, was der Russe mit Ihnen macht, wenn er hierherkommt? Glauben Sie, der Russe wirft einen Blick auf Ihr Kind und sagt, oho, ein frisches deutsches Mädel, aber dem Kinde zuliebe will ich meine niederen Instinkte in meiner Hose lassen? Das Fortbestehen des Deutschen Volkes, die Reinheit des Blutes, das Überleben der Menschheit steht in diesen Stunden, diesen Tagen auf dem Spiel, wollen Sie vor der Geschichte das Ende der Zivilisation verantworten, nur weil Sie in Ihrer unglaublichen Beschränktheit nicht willens sind, dem Führer des Deutschen Reiches den Weg in seine Reichskanzlei zu weisen?«

Es überraschte mich beinahe nicht mehr, dass ich darauf keinerlei Reaktion erntete. Die Idiotin riss ihren Ärmel aus meiner Hand, sah mich entgeistert an und führte mit ihrer flachen Hand mehrere kreisförmige Bewegungen zwischen ihrem und meinem Kopf aus, eine deutlich missbilligende Geste. Es war nicht mehr zu bestreiten, irgendetwas war hier völlig außer Kontrolle geraten. Ich wurde nicht mehr wie ein Heerführer behandelt, wie ein Reichsführer. Die Fußballbuben, der ältere Herr, der Radfahrer, die Kinderwagenfrau - es konnte kein Zufall sein. Mein nächster Impuls war, die Sicherheitsorgane zu benachrichtigen, um die Ordnung wiederherstellen zu lassen. Doch ich zügelte mich. Ich wusste nicht genug über meine Situation. Ich brauchte mehr Informationen.

Eiskalt rekapitulierte mein jetzt wieder methodisch arbeitender Verstand die Sachlage. Ich war in Deutschland, ich war in Berlin, auch wenn es mir völlig unvertraut vorkam. Dieses Deutschland war anders, aber in einigen Dingen ähnelte es dem mir vertrauten Reich: Es gab noch Radfahrer, es gab Automobile, es gab also vermutlich auch Zeitungen. Ich sah mich um. In der Tat lag unter meiner Bank etwas, was einer Zeitung ähnelte, allerdings ein wenig zu aufwendig gedruckt. Das Blatt war farbig, mir vollkommen unvertraut, es hieß »Media Markt«, ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, etwas Derartiges genehmigt zu haben, und ich hätte es auch nie genehmigt. Die Informationen darin waren völlig unverständlich, Groll stieg in mir hoch, wie man in Zeiten der Papierknappheit mit so einem hirnlosen Dreck wertvolle Ressourcen des Volkseigentums unwiederbringlich verschleudern konnte. Funk konnte sich auf eine Standpauke gefasst machen, wenn ich wieder hinter meinem Schreibtisch saß. Aber jetzt brauchte ich zuverlässige Nachrichten, einen »Völkischen Beobachter«, einen »Stürmer«, ich wäre wohl sogar fürs Erste mit einem »Panzerbär« zufrieden gewesen. Tatsächlich befand sich unweit ein Kiosk, und sogar auf diese beträchtliche Entfernung hin war zu erkennen, dass er ein erstaunliches Angebot zu haben schien. Man hätte meinen können, wir säßen im tiefsten, faulsten Frieden! Ich erhob mich ungeduldig. Schon zu viel Zeit hatte ich verloren, es galt, rasch geordnete Verhältnisse wiederherzustellen. Die Truppe brauchte Befehle, womöglich wurde ich andernorts schon vermisst. Ich ging zügig auf den Kiosk zu.

Bereits ein erster näherer Blick gab interessante Aufschlüsse. Zahlreiche bunte Blätter hingen an der Außenwand, in türkischer Sprache. Offenbar verkehrten hier jüngst viele Türken. Mir musste in meiner Bewusstlosigkeit eine längere Zeitspanne entgangen sein, in der sich viele Türken nach Berlin begeben hatten. Das war bemerkenswert. Zuletzt war der Türke, ein im Grunde treuer Gehilfe des Deutschen Volkes, trotz erheblicher Bemühungen stets neutral geblieben, zum Kriegseintritt an der Seite des Reiches war er nie zu bewegen gewesen. Es schien nun aber so, dass während meiner Abwesenheit wohl jemand, wahrscheinlich Dönitz, den Türken überzeugt haben musste, uns zu unterstützen. Und die eher friedliche Stimmung auf der Straße ließ darauf schließen, dass der türkische Einsatz offenbar sogar eine kriegsentscheidende Wende herbeigeführt hatte. Ich staunte. Gewiss, ich hatte den Türken stets respektiert, aber derartige Leistungen hatte ich ihm nie zugetraut, andererseits hatte ich die Entwicklung des Landes aus Zeitmangel nicht detailliert verfolgen können. Die Reformen des Kemal Atatürk mussten dem Land einen geradezu sensationellen Schub verliehen haben. Es schien das Wunder gewesen zu sein, an das auch Goebbels stets seine Hoffnungen geklammert hatte. Mein Herz schlug mir nun voll heißer Zuversicht. Es hatte sich ausbezahlt, dass ich, dass das Reich auch in der Stunde der vermeintlich tiefsten Dunkelheit niemals den Glauben an den Endsieg aufgegeben hatte. Vier, fünf unterschiedliche türkischsprachige Publikationen in bunter Farbe legten ein unübersehbares Zeugnis ab von dieser neuen, von einer erfolgreichen Achse Berlin-Ankara. Nun, da meine größte Sorge, die Sorge um das Wohl des Reiches, auf so überraschende Weise gelindert schien, nun musste ich nur noch herausfinden, wie viel Zeit ich wohl in diesem merkwürdigen Dämmer auf dem brachliegenden Areal zwischen den Häusern verloren hatte. Der »Völkische Beobachter« war nicht zu sehen, er war vermutlich ausverkauft, ich warf daher einen Blick auf das nächste, vertrauter wirkende Blatt, eine sogenannte »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. Sie war mir neu, doch verglichen mit manchem anderen, was dort hing, erfreute mich die vertrauenerweckende Schrift der Titelzeile. Keinen Blick verschwendete ich auf die Meldungen, ich suchte das Tagesdatum.

Dort stand der 30. August.

2011.

Ich blickte auf die Zahl, fassungslos, ungläubig. Ich wandte den Blick zu einem anderen Blatte, der »Berliner Zeitung«, auch diese versehen mit einem tadellosen deutschen Schriftzug, und suchte das Datum.

2011.

Ich zerrte die Zeitung aus dem Halter, ich öffnete sie, ich schlug die nächste Seite auf, die übernächste.

2011.

Ich sah, wie die Zahl zu tanzen begann, höhnisch fast. Sie bewegte sich langsam nach links, dann rascher nach rechts, dann noch rascher wieder zurück, dem Schunkeln gleich, wie es bei den Volksmassen im Bierzelt beliebt ist. Mein Auge versuchte ihr zu folgen, sie zu fassen, dann entglitt mir die Zeitung. Ich spürte, wie ich vornübersank, ich suchte vergeblich Halt an den anderen Zeitungen im Regal, ich klammerte mich an den verschiedenen Blättern entlang zu Boden.

Dann wurde mir schwarz vor Augen.

II.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden.

Jemand legte mir etwas Feuchtes auf die Stirn.

»Geht es Ihnen gut?«

Über mich gebeugt war ein Mann, er mochte fünfundvierzig Jahre alt sein, vielleicht auch über fünfzig. Er trug ein kariertes Hemd, eine schlichte Hose, wie sie der Arbeiter trägt. Diesmal wusste ich, welche Frage ich zuerst stellen würde.

»Welches Datum haben wir?«

»Den mmmh - 29. August. Nein, halt, den 30.«

»Welches Jahr, Mann«, krächzte ich, mich aufsetzend. Der feuchte Lappen fiel mir unschön in den Schoß. Der Mann sah mich stirnrunzelnd an. »2011«, sagte er und musterte meinen Rock, »was haben Sie gedacht? 1945?« Ich suchte nach einer passenden Entgegnung, richtete mich dann aber lieber auf.

»Sie sollten vielleicht noch etwas liegen bleiben«, sagte der Mann, »oder sich hinsetzen. Ich habe einen Sessel im Kiosk.«

Ich wollte zunächst sagen, dass ich für Entspannung keine Zeit hatte, musste aber einsehen, dass meine Beine noch zu sehr zitterten. Also folgte ich ihm in seinen Kiosk. Er selbst nahm auf einem Stuhl in der Nähe des kleinen Verkaufsfensters Platz und sah mich an.

»Ein Schluck Wasser? Brauchen Sie etwas Schokolade? Einen Müsliriegel?«

Ich nickte, benommen. Er stand auf, holte eine Flasche Sprudel und goss mir davon in ein Glas. Aus einem Regal nahm er einen bunten Riegel, wohl eine Art eiserner Ration, in farbige Folie gehüllt. Er öffnete die Folie, entblößte etwas, das aussah wie industriell verpresstes Korn, und drückte es mir in die Hand. Die Versorgungsengpässe mit Brot schienen noch nicht behoben.

»Sie sollten mehr frühstücken«, sagte er. Dann setzte er sich wieder hin. »Drehen Sie hier irgendwo?«

»Drehen ...?«

»Na, eine Dokumentation. Einen Film. Hier wird ja ständig irgendwas gedreht.«

»Film ...?«

»Mensch, Sie sind ja ganz schön beieinander.« Er lachte und wies mit der Hand auf mich. »Oder laufen Sie immer so herum?«

Ich sah an mir herab. Ich konnte nichts Ungewöhnliches feststellen, natürlich abgesehen von dem Staub und dem Benzingeruch.

»Eigentlich schon«, sagte ich.

Es konnte freilich sein, dass ich im Gesichte verletzt war. »Haben Sie einen Spiegel?«, fragte ich.

»Sicher«, sagte er und zeigte darauf, »neben Ihnen, gleich über dem ›Focus‹.«

Ich folgte seinem Finger. Der Spiegel war orangefarben gerahmt, »Der Spiegel« hatte er sicherheitshalber darauf geschrieben, als ob man es sonst nicht gewusst hätte. Er steckte mit dem unteren Drittel zwischen irgendwelchen Magazinen. Ich sah hinein.

Mein Spiegelbild sah überraschend tadellos aus, sogar mein Rock wirkte gebügelt - vermutlich herrschte im Kiosk ein schmeichelhaftes Licht.

»Wegen der Titelstory?«, fragte der Mann. »Die haben doch auf jedem dritten Heft so eine Hitlergeschichte. Ich glaube, Sie müssen sich nicht noch intensiver vorbereiten. Sie sind gut.«

»Danke«, sagte ich abwesend.

»Nein, wirklich«, meinte er, »ich habe den ›Untergang‹ gesehen. Zweimal. Bruno Ganz, der Mann war exzellent, aber an Sie kommt er nicht ran. Die ganze Haltung ... man könnte meinen, Sie wären es.«

Ich blickte auf: »Ich wäre was?«

»Na, als wären Sie der Führer.« Dabei hob er beide Hände, er legte Mittel- und Zeigefinger jeweils zusammen, krümmte sie vornüber und zuckte mit ihnen zweimal auf und ab. Ich mochte es kaum glauben, aber es schien so, dass dies nach sechsundsechzig Jahren alles war, was vom einstmals strammen Deutschen Gruß noch existierte. Es war erschütternd, aber immerhin ein Zeichen, dass mein politisches Wirken zwischenzeitlich nicht vollkommen folgenlos geblieben war.

Ich klappte den Arm zurück, den Gruß erwidernd: »Ich bin der Führer!«

Er lachte wieder: »Wahnsinn, das wirkt so natürlich.«

Ich konnte mich mit seiner penetranten Heiterkeit nicht recht befassen. Mir wurde meine Lage nach und nach bewusst. Wenn dies kein Traum war - und dafür dauerte es deutlich zu lange -, dann befand ich mich tatsächlich im Jahre 2011. Dann war ich also in einer Welt, die mir völlig neu war, und ich musste annehmen, dass ich umgekehrt auch für diese Welt ein neues Element darstellte. Wenn diese Welt auch nur ansatzweise logisch funktionierte, dann erwartete sie von mir, entweder 122 Jahre alt zu sein oder, was wahrscheinlicher war, seit Langem tot.

»Spielen Sie auch andere Sachen?«, fragte er. »Habe ich Sie schon mal gesehen?«

»Ich spiele nicht«, antwortete ich, wohl etwas barsch.

»Natürlich nicht«, sagte er und machte ein merkwürdig ernstes Gesicht. Dann zwinkerte er mir zu. »Wo treten Sie auf? Haben Sie ein Programm?«

»Selbstverständlich«, entgegnete ich, »seit 1920! Sie werden als Volksgenosse ja wohl die 25 Punkte kennen.«

Er nickte eifrig.

»Trotzdem, ich hab Sie noch nirgends gesehen. Haben Sie einen Flyer? Oder eine Karte?«

»Leider nein«, sagte ich betrübt, »die Karte ist im Lagezentrum.«

Ich versuchte mir darüber klar zu werden, was ich als Nächstes tun musste. Es schien einleuchtend, dass auch in der Reichskanzlei, dass selbst im Führerbunker ein 56-jähriger Führer auf Unglauben stoßen konnte, ja sicher stoßen würde. Ich musste Zeit gewinnen, meine Optionen analysieren. Ich brauchte eine Bleibe. Mir wurde plötzlich schmerzlich bewusst, dass ich keinen Pfennig Geld in der Tasche hatte. Für einen Moment erinnerte ich mich unangenehm an die Zeit im Männerwohnheim, 1909. Sie war notwendig gewesen, gewiss, sie hatte mir Einblicke verschafft, wie sie keine Universität der Welt vermitteln kann, und dennoch, es war diese Phase der Entbehrungen keine Zeit gewesen, die ich genossen hätte. Die finsteren Monate schossen mir durch den Kopf, die Missachtung, die Geringschätzung, die Unsicherheit, das Bangen um das Nötigste, das trockene Brot. Grüblerisch, abwesend biss ich in das seltsame Folienkorn.


Es schmeckte erstaunlicherweise süß. Ich musterte das Produkt.

»Ich mag die auch«, sagte der Zeitungskrämer, »wollen Sie noch einen?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte jetzt größere Probleme. Es galt, das schlichteste, das primitivste tägliche Auskommen zu sichern. Ich brauchte Unterkunft, etwas Geld, bis ich weitere Klarheit gewonnen haben würde, ich brauchte vielleicht eine Arbeit, wenigstens vorübergehend, bis ich wusste, ob und wie ich wieder meine Regierungstätigkeit würde aufnehmen können. Bis dahin war eine Form des Broterwerbs nötig. Vielleicht als Maler, vielleicht in einem Architekturbüro. Selbstverständlich war ich mir fürs Erste auch nicht zu schade zu körperlicher Arbeit. Natürlich wären meine Kenntnisse für das Deutsche Volk bei einem Feldzug vorteilhafter eingesetzt gewesen, aber in Unkenntnis der aktuellen Lage war das illusionär. Ich wusste ja nicht einmal, mit wem das Deutsche Reich überhaupt gerade eine gemeinsame Grenze hatte, wer sie zu verletzen suchte, gegen wen man zurückschießen konnte. Insofern musste ich mich wohl zunächst mit dem Einbringen der Fähigkeiten meiner Hände bescheiden, vielleicht beim Bau eines Aufmarschgeländes oder eines Autobahnabschnitts.

»Jetzt mal im Ernst«, drang die Stimme des Zeitungskrämers an mein Ohr. »Sie sind noch Amateur? Mit der Nummer?«

Das wiederum fand ich reichlich flegelhaft. »Ich bin kein Amateur!«, beschied ich ihm mit Nachdruck. »Ich bin doch keiner von diesen bürgerlichen Faulpelzen!«

»Nein, nein«, beschwichtigte der Mann, der mir im Grunde seines Herzens recht ehrlich zu scheinen begann. »Ich meine, was machen Sie denn beruflich?«

Tja, was machte ich beruflich? Was sollte ich angeben?

»Ich ... ich habe mich momentan etwas ... zurückgezogen «, umschrieb ich vorsichtig meine Lage.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, eiferte der Krämer, »aber wenn Sie wirklich noch nicht ... das ist doch unglaublich! Ich meine, hier kommen öfter welche vorbei, die ganze Stadt ist voller Agenturen, voller Filmfritzen, Fernsehfiguren, die freuen sich immer über einen Tipp, über ein neues Gesicht. Und wenn Sie keine Karte haben - ich meine, wo erreiche ich Sie denn? Haben Sie eine Telefonnummer? E-Mail?«

»Äh ...«

»Oder wo wohnen Sie?«

Damit traf er einen wahrlich wunden Punkt. Andererseits schien er nichts Unehrenhaftes im Schilde zu führen. Ich beschloss, es zu riskieren.

»Das mit der Wohnung ist derzeit etwas ... wie soll ich sagen ... ungeklärt ...«

»Na ja, oder vielleicht haben Sie eine Freundin, bei der Sie wohnen?«

Für einen Moment dachte ich an Eva. Wo mochte sie wohl sein?

»Nein«, murmelte ich ungewohnt niedergeschlagen, »eine Gefährtin habe ich nicht. Mehr.«

»Ouh«, sagte der Krämer, »verstehe. Die Sache ist wohl noch recht frisch.«

»Ja«, bekannte ich, »das alles hier ist ... recht frisch für mich.«

»Lief nicht mehr gut in letzter Zeit, hm?«

»Das ist wohl zutreffend«, nickte ich, »der Entsatz- angriff der Gruppe Steiner ist unverzeihlicherweise ausgeblieben. «

Er sah mich irritiert an: »Mit Ihrer Freundin, meinte ich. Wer war schuld?«

»Ich weiß nicht«, bekannte ich, »letzten Endes wohl Churchill.«

Er lachte. Dann sah er mich längere Zeit nachdenklich an.

»Ihre Einstellung gefällt mir. Passen Sie auf, ich mach Ihnen einen Vorschlag.«

»Einen Vorschlag?«

»Ich weiß ja nicht, was Sie für Ansprüche haben. Aber wenn Sie nichts Besonderes brauchen, dann können Sie ein oder zwei Nächte hier übernachten.«

»Hier?« Ich sah mich im Kiosk um.

»Können Sie sich das Adlon leisten?«

Da hatte er wohl recht. Ich sah betreten zu Boden.

»Sie sehen mich - praktisch mittellos ...«, gab ich zu.

»Na also. Ist ja auch kein Wunder, wenn Sie sich mit Ihrem Können nicht nach draußen wagen. Sie dürfen sich nicht verstecken.«

»Ich habe mich nicht versteckt!«, protestierte ich. »Das lag am Bombenhagel!«

»Jaja«, winkte er ab, »also noch mal: Sie bleiben ein, zwei Tage hier, und ich spreche mal ein, zwei Kunden von mir an. Die neue ›Theater heute‹ ist gestern gekommen und eines von den Filmblättern, das holen die jetzt nach und nach alle ab. Vielleicht kriegen wir was hin. Ehrlich, eigentlich müssten Sie nicht mal was können, die Uniform allein haben Sie schon super hinbekommen ...«

»Das heißt, ich bleibe jetzt hier?«

»Fürs Erste. Tagsüber bleiben Sie bei mir, falls jemand kommt, kann ich Sie gleich vorstellen. Und wenn niemand kommt, hab ich wenigstens was zu lachen. Oder haben Sie was anderes zum Unterkommen?«

»Nein«, seufzte ich, »das heißt, bis auf den Führer

bunker ...« Er lachte. Dann hielt er inne. »Sagen Sie, Sie räumen mir doch den Kiosk nicht

aus?« Ich sah ihn empört an: »Sehe ich aus wie ein Verbre

cher?« Er sah mich an: »Sie sehen aus wie Adolf Hitler.« »Eben«, sagte ich.