Eine Handvoll Worte(Roman)

Eine Handvoll Worte(Roman)
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Produktbeschreibung     

Eine Handvoll Worte(Roman)

"Du sollst wissen, dass du mein Herz, meine Hoffnungen in deinen Händen hältst." Bewegend und romantisch!

Die Journalistin Ellie durchforstet sie ihr Zeitungsarchiv nach einer Geschichte - und findet einen Liebesbrief aus den Sechzigerjahren: Ein Mann bittet seine Liebste, ihren Ehemann zu verlassen und mit ihm zu fliehen. Ellie stellt Nachforschungen an: Wer hat den Brief geschrieben? Wer war die Frau, an die er sich richtete? Und was ist aus den beiden Liebenden geworden? Bald schon spürt sie, wie sie selbst immer mehr in das Netz aus Leidenschaft, Ehebruch und Verlust hineingezogen wird.

 

Klappentext zu „Eine Handvoll Worte“

Du sollst wissen, dass du mein Herz in deinen Händen hältst.
1960. Jennifer Stirling müsste eigentlich glücklich sein: Sie führt ein sorgloses Leben an der Seite ihres wohlhabenden Mannes. Doch ihr Herz gehört einem anderen und er bittet sie, alles für ihn aufzugeben.
2003. Ellie Haworth hat ihren Traumjob gefunden: Sie ist Journalistin bei einer der führenden Zeitungen Londons. Eigentlich müsste sie glücklich sein. Doch der Mann, den sie liebt, gehört einer anderen.
Eines Tages fällt Ellie im Archiv ein Jahrzehnte alter Brief in die Hände: Der unbekannte Absender bittet seine Geliebte, ihren Ehemann zu verlassen und mit ihm nach New York zu gehen. Als Ellie diese Zeilen liest, ist sie erschüttert. Was ist aus den beiden und ihrer Liebe geworden? Sie stellt Nachforschungen an und stößt auf Jennifer: eine Frau, die alles verloren hat. Alles, außer einer Handvoll kostbarer Worte. Am Ende ist es nicht nur Jennifers Leben, das sie für immer verändern wird, sondern auch ihr eigens.
Wer die Liebe nicht kennt, kennt nichts. Wer sie hat, hat alles.

Bibliografische Angaben

2013, 592 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Taschenbuch, Deutsch, Übersetzung: Balkenhol, Marion
Verlag: Polaris Verlag
ISBN-10: 3499267764
ISBN-13: 9783499267765
Erscheinungsdatum: 04.10.2013

Rezension

"Ein großartiger, gefühlvoller und berührender Roman." Sophie Kinsella

"Eine dramatische und romantische Geschichte von verschollenen Briefen, gebrochenen Herzen und der Hoffnung auf ein glückliches Ende." Marie Claire

"Man bekommt richtig Lust, wieder einmal selbst einen Liebesbrief zu schreiben." Glamour

"Ein hinreißend romantisches Buch, über das man fast seinen eigenen Liebsten vergisst." Independent on Sunday

"Voller Emotionen und packend ab der ersten Seite." Woman

Autoren-Porträt von Jojo Moyes

Jojo Moyes, geboren 1969, hat Journalistik studiert und für die „Sunday Morning Post" in Hongkong und den „Independent" in London gearbeitet. Sie hatte bereits eine Reihe von Romanen veröffentlicht, bevor ihr mit „Ein ganzes halbes Jahr" der große Durchbruch gelang. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich der Roman zum Überraschungserfolg. Jojo Moyes lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern auf einer Farm in Essex

Leseprobe

Eine Handvoll Worte von Jojo Moyes
Aus dem Englischen von Marion Balkenhol und Jojo Moyes


Prolog
Bis später x

Ellie Haworth erblickt ihre Freunde in der dicht gedrängten Menge und schlängelt sich an die Bar. Sie stellt ihre Tasche an ihre Füße und legt ihr Handy auf den Tisch. Die anderen sind schon ziemlich angeheitert - man merkt es an ihrer Lautstärke, den ausholenden Armbewegungen, dem kreischenden Gelächter und den leeren Flaschen auf dem Tisch. »Spät dran.« Nicky hält die Armbanduhr hoch und droht Ellie mit dem Zeigefinger. »Und jetzt sag nicht, ›ich musste noch eine Geschichte zu Ende schreiben‹.« »Interview mit der Frau des betrogenen Abgeordneten. Tut mir leid. Es war für die morgige Ausgabe«, sagt sie, gleitet auf den leeren Sitz und schenkt sich aus einer angebrochenen Flasche ein Glas ein. Sie schiebt ihr Handy über den Tisch. »Na schön. Das Unwort des Abends zur Diskussion: ›später‹.« »Später?« »Als Schlusspunkt. Heißt das morgen oder heute noch? Oder ist es nur so eine entsetzliche Vorliebe unter Teenagern, die eigentlich überhaupt nichts zu sagen hat?« Nicky späht auf das leuchtende Display. »Da steht ›später‹ und ein ›x‹. Das ist wie ›Gute Nacht‹. Ich würde sagen, morgen.« »Auf jeden Fall morgen«, sagt Corinne. »›Später‹ ist immer morgen. « Sie hält kurz inne. »Es könnte auch übermorgen heißen.« »Es ist sehr lässig.« »Lässig?« »Das könnte man auch dem Postboten hinwerfen.« »Du würdest deinem Postboten einen Kuss schicken?« Nicky grinst. »Kann schon sein. Er sieht toll aus.« Corinne betrachtet die Nachricht. »Ich finde das nicht fair. Es könnte einfach nur heißen, dass er eilig war und woandershin musste.« »Ja. Zu seiner Frau zum Beispiel.« Ellie warf Douglas einen warnenden Blick zu. »Was denn?«, fragt er. »Ich will damit doch nur sagen, meint ihr nicht, ihr seid über den Punkt hinaus, an dem ihr SMS-Sprache dechiffrieren solltet?« Ellie kippt ihren Wein hinunter und beugt sich dann über den Tisch. »Okay. Ich brauche noch was zu trinken, wenn ich hier belehrt werden soll.« »Wenn du mit jemandem so vertraut bist, dass du in seinem Büro Sex mit ihm hast, dann denke ich, sollte man ihn doch bitten können, etwas klarzustellen, wenn man ihn vielleicht zum Kaffee trifft.« »Wie geht es denn in der SMS weiter? Und sag mit jetzt bitte nicht, es geht um Sex in seinem Büro.« Ellie schaut auf ihr Handy und scrollt die Textnachrichten herunter. »›Kompliziert, von zu Hause anzurufen. Dublin nächste Woche, Planung aber noch nicht sicher. Später x.‹« »Er hält sich alles offen«, sagt Douglas. »Es sei denn ... verstehst du ... er ist sich der genauen Planung nicht sicher.« »Dann hätte er gesagt ›rufe aus Dublin an‹. Oder auch ›Ich fliege mit dir nach Dublin‹.« »Nimmt er seine Frau mit?« »Nie. Das ist eine Geschäftsreise.« »Vielleicht nimmt er eine andere mit«, murmelt Douglas in sein Bier. Nicky schüttelt nachdenklich den Kopf. »Mein Gott, war das Leben nicht einfacher, als sie dich anrufen und mit dir sprechen mussten? Dann konnte man wenigstens am Klang ihrer Stimme hören, ob man abgewiesen wurde.« »Ja«, schnaubt Corinne. »Und du konntest stundenlang zu Hause neben dem Telefon sitzen und darauf warten, dass sie anrufen. « »Oh, die Abende, die ich so verbracht habe ...« »... das Freizeichen zu prüfen, hat funktioniert ...« »... und dann den Hörer aufknallen, falls das genau der Augenblick war, in dem sie anriefen.« Ellie hört sie lachen und erkennt die Wahrheit hinter ihrem Humor, aber insgeheim wartet sie darauf, dass das Display plötzlich aufleuchtet, weil jemand anruft. Ein Anruf, der in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit und der Tatsache, dass es »zu Hause kompliziert« ist, nicht eintreffen wird. Douglas bringt sie zu Fuß nach Hause. Er ist der Einzige von ihnen vieren, der mit einer Partnerin zusammenlebt, doch Lena, seine Freundin, ist groß im Geschäft bei der Öffentlichkeitsarbeit für Technologie und abends oft bis zehn oder elf im Büro. Lena hat nichts dagegen, wenn er mit seinen alten Freundinnen ausgeht - sie hat ihn ein paar Mal begleitet, aber für sie ist es schwer, die Wand aus alten Witzen und Andeutungen zu durchbrechen, die mit fünfzehn Jahren Freundschaft einhergeht; meistens lässt sie ihn allein kommen. »Und, was geht denn so bei dir, großer Junge?« Ellie stößt ihn an, als sie einem Einkaufswagen ausweichen, den jemand auf dem Bürgersteig hat stehen lassen. »Du hast da drinnen überhaupt nichts von dir erzählt. Es sei denn, ich habe alles verpasst.« »Nicht viel«, sagt er und zögert. Er schiebt die Hände in die Hosentaschen. »Wobei das eigentlich nicht stimmt. Ähm ... Lena will ein Kind haben.« Ellie schaut zu ihm auf. »Wow.« »Und ich auch«, fügt er hastig hinzu. »Wir sprechen seit Ewigkeiten darüber, aber wir haben jetzt entschieden, dass nie der richtige Zeitpunkt ist, also können wir auch gleich damit anfangen.« »Du alter Romantiker.« »Ich bin ... ich weiß nicht ... eigentlich nicht so richtig glücklich darüber. Lena soll ihren Job behalten, und ich werde mich zu Hause um das Kind kümmern. Vorausgesetzt natürlich, dass alles normal abläuft und ...« Ellie versucht, ihre Stimme neutral zu halten. »Und das möchtest du auch?« »Ja. Mir gefällt mein Job ohnehin nicht. Schon seit Jahren nicht. Sie verdient ein Vermögen. Ich glaube, es wird ganz nett, den ganzen Tag mit einem Kind herumzuspielen.« »Elternschaft ist ein bisschen mehr als herumspielen ...«, fängt sie an. »Das weiß ich. Pass auf ... auf dem Bürgersteig.« Sacht steuert er sie um den Hundekot herum. »Aber ich bin dazu bereit. Ich muss nicht jeden Abend in den Pub. Ich möchte die nächste Phase. Das soll nicht heißen, dass ich nicht gern mit euch allen ausgehe, aber manchmal habe ich mich schon gefragt, ob wir nicht alle ... verstehst du ... ein bisschen erwachsener werden sollten.« »O nein!« Ellie versetzt ihm einen Klaps auf den Arm. »Du bist zur dunklen Seite übergewechselt.« »Na ja, mir geht es mit meinem Job nicht so wie dir. Dir bedeutet er alles, nicht wahr?« »Fast alles«, gesteht sie. Schweigend gehen sie ein paar Straßenzüge weiter, lauschen den Sirenen in der Ferne, den zuschlagenden Autotüren und den gedämpften Auseinandersetzungen der Stadt. Ellie gefällt dieser Teil des Abends, von Freundschaft gestützt, vorübergehend befreit von den Unsicherheiten, die mit dem Rest ihres Lebens verbunden sind. Sie hat einen schönen Abend im Pub hinter sich und wird zu ihrer gemütlichen Wohnung gebracht. Sie ist gesund. Sie hat eine Kreditkarte mit jeder Menge ungenutzter Kapazität, Pläne fürs Wochenende, und sie ist die Einzige unter ihren Freundinnen, die noch kein einziges graues Haar entdeckt hat. Das Leben ist schön. »Denkst du jemals an sie?«, fragt Douglas. »An wen?« »Johns Frau. Glaubst du, sie weiß es?« Schon war Ellies Glücksgefühl vergangen. »Das weiß ich nicht.« Und als Douglas schweigt, fügt sie hinzu: »Ich bin mir sicher, wenn ich an ihrer Stelle wäre, wüsste ich es. Er sagt, die Kinder sind ihr wichtiger als er. Ich rede mir ein, vielleicht ist sie im Grunde ihres Herzens froh, dass sie sich um ihn keine Sorgen machen muss. Verstehst du, ihn glücklich zu machen.« »Das ist aber jetzt Wunschdenken.« »Kann sein. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, dann lautet die Antwort nein. Ich denke nicht an sie, und ich fühle mich nicht schuldig. Weil ich glaube, es wäre nicht passiert, wenn sie glücklich gewesen wären, oder ... verstehst du ... verbunden.« »Ihr Frauen habt so eine irrige Ansicht über Männer.« »Glaubst du, er ist glücklich mit ihr?« Sie sieht ihn forschend an. »Ich habe keine Ahnung, ob oder ob nicht. Ich glaube nur nicht, dass er unglücklich mit seiner Frau sein muss, um mit dir zu schlafen. « Die Stimmung ist umgeschlagen, und vielleicht lässt Ellie deshalb seinen Arm los und bindet sich den Schal fester um den Hals. »Du hältst mich für einen schlechten Menschen. Oder ihn.« Jetzt ist es ausgesprochen. Dass dieser Gedanke von Douglas kam, dem unvoreingenommensten unter ihren Freunden, versetzt ihr einen Stich. »Ich halte niemanden für schlecht. Ich denke nur an Lena und was es für sie heißen würde, mein Kind auszutragen, und dann die Vorstellung, ich würde sie hintergehen, nur weil sie sich dafür entschieden hat, meinem Kind die Aufmerksamkeit zu schenken, die meinem Gefühl nach mir ...« »Also hältst du ihn tatsächlich für einen schlechten Menschen.« Douglas schüttelt den Kopf. »Es ist bloß ...« Er bleibt stehen und schaut in den Abendhimmel, bevor er seine Antwort formuliert. »Ich meine, du solltest vorsichtig sein, Ellie. Diese ganzen Versuche, zu interpretieren, was er meint, was er will, das ist doch Scheiße. Du verschwendest deine Zeit. Meiner Meinung nach ist alles für gewöhnlich ganz einfach. Jemand mag dich, du magst ihn, ihr liiert euch, und damit hat es sich auch schon.« »Du lebst in einem schönen Universum, Doug. Schade nur, dass es dem echten nicht ähnlich ist.« »Okay, lass uns das Thema wechseln. Schlecht, so was nach ein paar Drinks anzusprechen.« »Nein.« Ihre Stimme wird schärfer. »In vino veritas und so. Ist schon gut. Wenigstens weiß ich jetzt, wie es dir damit geht. Und von hier aus kann ich allein weitergehen. Sag Lena einen schönen Gruß von mir.« Die letzten beiden Straßen bis zu ihrem Haus legt sie im Laufschritt zurück, ohne sich noch einmal zu ihrem alten Freund umzudrehen. Die Nation wird Kiste für Kiste eingepackt, um in das neue, verglaste Gebäude an einem gleißenden, urbanisierten Kai im Osten der Stadt umzuziehen. Das Büro ist von Woche zu Woche leerer geworden: Wo sich einst Presseerklärungen, Akten und archivierte Zeitungsausschnitte auftürmten, sind nur noch abgeräumte Schreibtische, unvermutet glänzende, laminierte Flächen dem kalten Schein der Neonröhren ausgesetzt. Andenken an vergangene Reportagen sind ans Tageslicht gekommen, wie Beutestücke aus einer archäologischen Ausgrabung, Flaggen von königlichen Jubiläen, verbeulte Metallhelme aus fernen Kriegen und eingerahmte Urkunden für längst vergessene Auszeichnungen. Überall liegen Kabel herum, Teppichfliesen sind entfernt, große Löcher in die Decken geschlagen worden, was theatralische Auftritte von Gesundheits- und Sicherheitsexperten und unzählige Besucher mit Klemmbrettern nach sich zog. Die Ressorts Werbung, Kleinanzeigen und Sport sind schon an den Compass Quay umgesiedelt worden. Die Samstagszeitschrift, Personal- und Finanzwesen bereiten sich auf ihren Umzug in den nächsten Wochen vor. Das Feuilleton, Ellies Abteilung, wird zusammen mit den Nachrichten folgen und in einer sorgfältig choreografierten Volte umziehen, sodass die Samstagsausgabe noch in den alten Büros an der Turner Street erscheinen wird, die Montagsausgabe wie durch Zauberei an der neuen Adresse. Das Gebäude, in dem die Zeitung fast hundert Jahre untergebracht war, sei nicht mehr zweckdienlich, so lieblos wurde es formuliert. Der Geschäftsleitung zufolge spiegelt es die dynamische, stromlinienförmige Natur moderner Nachrichtenerfassung nicht wider. Es hat zu viele Stellen, an denen man sich verstecken kann, bemerken die Zeitungsschreiber schlecht gelaunt, während sie von ihren Plätzen abgepflückt werden wie Napfschnecken, die sich hartnäckig an einen durchlöcherten Rumpf klammern. »Wir sollten es feiern«, sagt Melissa, die Ressortchefin des Feuilletons, aus ihrem fast leeren Büro. Sie trägt ein hellgrünes Seidenkleid. Bei Ellie hätte es ausgesehen wie das Nachthemd ihrer Großmutter; bei Melissa sieht es so aus, wie es ist - Haute Couture. »Den Umzug?« Ellie wirft einen Blick auf ihr Handy, das abgeschaltet neben ihr liegt. Die anderen Feuilletonisten um sie herum schweigen, Notizblöcke auf den Knien. »Ja. Gestern Abend habe ich mit einem der Bibliothekare gesprochen. Er sagt, es gibt jede Menge Akten, in die jahrelang kein Blick geworfen wurde. Ich möchte etwas auf den Frauenseiten, das fünfzig Jahre her ist. Wie Verhalten sich verändert hat, Mode, womit Frauen sich beschäftigt haben. Fallstudien, nebeneinander, damals und heute.« Melissa schlägt eine Akte auf und zieht verschiedene Fotokopien im A3-Format heraus. Sie spricht mit der Selbstsicherheit eines Menschen, der es gewohnt ist, dass man ihm zuhört. »Zum Beispiel aus unserem Kummerkasten: ›Was um alles in der Welt kann ich tun, damit meine Frau sich schicker anzieht und attraktiver macht? Mein Einkommen beträgt 1500 Pfund jährlich, und ich fange an, mich in einer Verkaufsorganisation hochzuarbeiten. Ich werde sehr oft von Kunden eingeladen, aber in den letzten Wochen musste ich ihnen ausweichen, weil meine Frau, ehrlich gesagt, grässlich aussieht‹.« Rundum wird leise gegluckst. »›Ich habe versucht, es ihr sacht beizubringen, und sie sagt, sie mache sich nichts aus Mode oder Schmuck oder Make-up. Offen gestanden, sieht sie nicht aus wie die Frau eines erfolgreichen Mannes, und das hätte ich gern von ihr‹.« John hat Ellie einmal gesagt, seine Frau habe nach den Kindern das Interesse an ihrer äußeren Erscheinung verloren. Er wechselte das Thema, sobald er es angeschnitten hatte, als hätte er das Gefühl, seine Worte seien ein noch größerer Betrug, als mit einer anderen Frau zu schlafen. Ellie ärgerte sich über diese Andeutung von männlicher Loyalität, andererseits bewunderte sie ihn ein wenig dafür. Aber es ist in ihrer Phantasie hängengeblieben. Sie hat sich seine Frau vorgestellt: schlampig in einem verdreckten Nachthemd, ein kleines Kind an sich gedrückt, hält sie ihrem Mann eine Standpauke wegen eines vermeintlichen Mangels. Am liebsten hätte Ellie ihm gesagt, sie würde niemals so zu ihm sein. »Die Fragen könnte man einer modernen Kummerkastentante stellen.« Rupert, der Samstagsredakteur, beugt sich vor und späht auf die anderen Fotokopien. »Dessen bin ich mir nicht so sicher. Hör mal, wie die Antwort lautet: ›Vielleicht ist Ihrer Frau noch nie in den Sinn gekommen, dass sie in Ihrem Schaufenster ausgestellt werden soll. Falls sie überhaupt über so etwas nachdenkt, sagt sie sich womöglich, dass sie verheiratet, sicher und glücklich ist, warum sollte sie sich Mühe geben?‹ « »Aha«, sagt Rupert. »›Der tiefe, tiefe Friede des Doppelbetts‹.« »›Ich habe erlebt, dass es Mädchen, die sich verlieben, genauso bemerkenswert rasch passiert wie Frauen, die in der anheimelnden Verpackung einer langjährigen Ehe herumprötteln. Mal sind sie schick wie frische Farbe und kämpfen heroisch um eine schmale Taille und gerade sitzende Nähte, sorgsam mit Parfüm betupft. Irgendein Mann sagt ›Ich liebe dich‹, und schon wird aus diesem reizenden Mädchen fast ausnahmslos eine Schlampe‹.« Kurz ertönt höfliches, zustimmendes Gelächter. »Wofür entscheidet ihr euch, Mädels? Heroisch um die schlanke Taille kämpfen oder eine glückliche Schlampe werden?« »Ich glaube, ich habe vor Kurzem einen Film zu dem Thema gesehen«, sagt Rupert. Sein Lächeln versiegt, als er merkt, dass das Gelächter verstummt ist. »Mit dem Stoff können wir viel anfangen.« Melissa deutet auf die Mappe. »Ellie, kannst du heute Nachmittag ein bisschen herumsuchen? Vielleicht findest du noch was. Wir blicken vierzig, fünfzig Jahre zurück. Hundert wären zu befremdlich. Der Redakteur möchte gern, dass wir den Umzug in einer Weise beleuchten, die unsere Leser packt.« »Ich soll das Archiv durchforsten?« »Ist das ein Problem?« Nicht, wenn man gern in dunklen, mit schimmelndem Papier vollgestopften Kellern sitzt, die von gestörten Männern mit stalinistischer Denkart bewacht werden und offensichtlich seit dreißig Jahren kein Tageslicht mehr gesehen haben. »Ganz und gar nicht«, verkündet sie strahlend. »Ich bin mir sicher, dass ich etwas finden werde.« »Hol dir ein paar Hilfskräfte, die dich unterstützen, wenn du willst. Ich habe gehört, dass zwei im Modeschrank herumlungern.« Ellie sieht über die boshafte Befriedigung auf den Gesichtszügen ihrer Redakteurin hinweg bei dem Gedanken, den neuesten Trupp Anna-Wintour-Möchtergerns in die Innereien der Zeitung zu schicken. Ellie denkt nur, Mist, da unten ist kein Handy-Empfang. »Ach, übrigens, Ellie, wo warst du heute Morgen?« »Wie?« »Heute Morgen. Ich möchte, dass du den Artikel über Kinder und Verlust umschreibst. Ja? Niemand wusste anscheinend, wo du warst.« »Ich war unterwegs zu einem Interview.« »Mit wem?« Ein Experte für Körpersprache, denkt Ellie, hätte Melissas nichtssagendes Lächeln richtig als Knurren gedeutet. »Anwalt. Informant. Ich hatte gehofft, etwas über Sexismus in Anwaltskanzleien herauszufinden.« Sie hat es ausgesprochen, noch ehe ihr klar wird, was sie sagt. »Sexismus in der Stadt. Klingt nicht sehr originell. Sorg dafür, dass du morgen rechtzeitig an deinem Schreibtisch sitzt. Spekulative Interviews sind deine Privatsache. Ja?« »Okay.« »Gut. Ich möchte eine Doppelseite für die erste Ausgabe, die am Compass Quay erscheint. So etwas wie plus ça change.« Sie kritzelt in ihr ledernes Notizbuch. »Hauptbeschäftigungen, Kleinanzeigen, Probleme ... Bring mir noch heute Nachmittag ein paar Seiten, und wir werden sehen, was du hast.« »Wird gemacht.« Ellie lächelt so strahlend und fachmännisch wie sonst keine im Raum, als sie hinter den anderen das Büro verlässt. Den heutigen Tag habe ich in einem neuzeitlichen Äquivalent des Fegefeuers verbracht, tippt sie, hält inne, um einen Schluck Wein zu trinken. Büro des Zeitungsarchivs. Willst du dich erkenntlich zeigen, erfindest du nur Zeug. Er hat ihr über sein Hotmail-Account eine Nachricht geschickt. Er selbst nennt sich Bürohengst; ein Scherz zwischen ihnen. Sie schiebt die Füße auf dem Stuhl unter sich, wartet und versucht, den Apparat kraft ihres Willens zu zwingen, seine Antwort zu schicken. Du bist eine schreckliche Barbarin. Ich liebe Archive, lautet die Antwort auf dem Bildschirm. Erinnere mich daran, dass ich dich bei unserem nächsten heißen Rendezvous mit in die British Newspaper Library nehme. Sie grinst. Du weißt, wie man eine Frau glücklich macht. Ich gebe mir die größte Mühe. Der einzige menschliche Bibliothekar hat mir einen Riesenstapel loses Papier gegeben. Nicht gerade spannende Bettlektüre. Aus Angst, das könnte zu sarkastisch klingen, setzt sie einen Smiley an den Schluss und flucht, als ihr einfällt, dass er einmal einen Essay für die Literary Review geschrieben hat, in dem es darum ging, dass dieser Smiley Sinnbild für alles sei, was mit der modernen Kommunikation nicht stimme. Das war ein ironischer Smiley, fügt sie hinzu und steckt sich die Faust in den Mund. Moment. Telefon. Der Bildschirm wird still. Telefon. Seine Frau? Er sei in einem Hotelzimmer in Dublin, mit Blick über das Wasser, hat er ihr gesagt. Dir würde es gefallen. Was sollte sie dazu sagen? Dann nimm mich nächstes Mal mit? Zu anspruchsvoll. Bestimmt? Klang fast sarkastisch. Ja, hatte sie schließlich geantwortet und dabei einen langen, ungehörten Seufzer ausgestoßen. Das alles sei ihre eigene Schuld, sagen ihre Freundinnen. Dem hat sie nichts entgegenzusetzen, was ungewöhnlich für sie ist. Sie hat ihn auf einer Buchmesse in Suffolk kennengelernt, bei der sie den Auftrag hatte, diesen Thrillerautor zu interviewen, der ein Vermögen gemacht hatte, nachdem er eher literarische Angebote ausgeschlagen hatte. Sein Name ist John Armour, sein Held, Dan Hobson, fast eine Karikatur mit seinen altmodischen, männlichen Eigenschaften. Sie hat ihn beim Lunch interviewt und eine fade Verteidigung des Genres erwartet, vielleicht ein wenig Nörgelei über das Verlagswesen - sie fand es immer ziemlich ermüdend, Schriftsteller zu interviewen. Sie hatte mit einem dickbäuchigen Mann in mittleren Jahren gerechnet, der nach jahrelanger Schreibtischarbeit auseinandergegangen war. Doch der große, gebräunte Mann, der sich erhob, um ihr die Hand zu schütteln, war schlank und sommersprossig und glich eher einem südafrikanischen Farmer. Er war witzig, charmant, selbstironisch und aufmerksam. Er drehte das Interview um, stellte ihr Fragen zu ihrer Person und legte ihr dann seine Theorien über den Ursprung von Sprache dar, seiner Meinung nach verkomme Kommunikation zu gefährlicher Schlaffheit und Hässlichkeit. Als der Kaffee kam, wurde ihr klar, dass sie fast vierzig Minuten lang nichts notiert hatte. »Mögen Sie denn den Klang nicht?«, fragte sie, als sie das Restaurant verließen und wieder zur Buchmesse zurückgingen. Das Jahr ging dem Ende entgegen, und die Wintersonne war hinter den Gebäuden der ruhiger werdenden Hauptstraße abgetaucht. Sie hatte zu viel getrunken und den Punkt erreicht, an dem ihr Mundwerk immer frech drauflosplapperte. Sie hatte das Restaurant nicht verlassen wollen. »Wovon?« »Spanisch. Hauptsächlich italienisch. Ich bin mir sicher, dass mir deshalb italienische Opern so gut gefallen und ich die deutschen nicht ausstehen kann. Diese vielen harten, gutturalen Laute. « Er dachte darüber nach, und sein Schweigen zerrte an ihren Nerven. Sie stammelte: »Ich weiß, es ist furchtbar unmodern, aber ich liebe Puccini. Mir gefallen die Gefühlswallungen, das gerollte R, das Stakkato der Wörter ...« Sie verstummte, als sie merkte, wie lächerlich hochtrabend sie sich anhörte. Er blieb in einem Hauseingang stehen, warf kurz einen Blick auf die Straße hinter ihnen und wandte sich dann wieder an sie. »Ich mag keine Opern.« Dabei schaute er sie direkt an. Als wollte er sie herausfordern. Tief im Bauch spürte sie, wie etwas nachgab. O Gott, dachte sie. »Ellie«, sagte er, nachdem sie fast eine Minute dort gestanden hatten. Zum ersten Mal sprach er sie mit dem Vornamen an. »Ellie, ich muss noch etwas aus meinem Hotel holen, bevor ich zur Messe zurückgehe. Würden Sie mitkommen?« Noch bevor er die Zimmertür hinter ihnen zumachte, fielen sie übereinander her, pressten sich aneinander, küssten sich gierig, während ihre Hände der drängenden, fieberhaften Choreografie des Ausziehens folgten. Später würde sie ihr Verhalten staunend wie eine Art Aussetzer betrachten. Hunderte Male hat sie es vor ihrem geistigen Auge noch einmal ablaufen lassen, hat dabei die Bedeutung, das überwältigende Gefühl ausradiert und nur Einzelheiten stehen lassen. Ihre Unterwäsche, alltäglich, unangemessen, über einen Hosenbügler geworfen; wie sie danach unter dem gemusterten Quilt des Hotels auf dem Boden wahnsinnig gekichert hatten; wie er am späten Nachmittag fröhlich und mit unangebrachtem Charme seinen Schlüssel bei der Empfangsdame abgegeben hatte. Zwei Tage später rief er an, als der euphorische Schock jenes Tages gerade in etwas eher Enttäuschendes überging. »Du weißt, dass ich verheiratet bin«, sagte er. »Du liest meine Artikel.« »Ich habe restlos alle Verweise auf dich bei Google abgefragt und gelesen«, sagte sie leise. »Ich war noch nie ... untreu. Ich kann noch immer nicht ganz in Worte fassen, was passiert ist.« »Ich gebe der Quiche die Schuld«, scherzte sie und zuckte zusammen. »Du machst etwas mit mir, Ellie Haworth. Ich habe achtundvierzig Stunden lang kein Wort geschrieben.« Er machte eine Pause. »Bei dir vergesse ich, was ich sagen will.« Dann bin ich dem Untergang geweiht, dachte sie, denn sobald sie seine Nähe gespürt hatte, seinen Mund auf ihrem, hatte sie gewusst - trotz allem, was sie ihren Freundinnen jemals über verheiratete Männer gesagt hatte, woran sie je geglaubt hatte -, dass sie nur den leisesten Hinweis von ihm brauchte, dass er ihr gegenüber nur in etwa anerkennen musste, was geschehen war, und sie wäre verloren. Auch nach einem Jahr hat sie noch nicht angefangen, nach einem Ausweg zu suchen. Fast eine Dreiviertelstunde später ist er wieder online. Unterdessen hat sie den Computer stehen lassen, sich noch einen Drink gemacht, ist ziellos in der Wohnung herumgelaufen, hat ihre Haut in einem Spiegel im Bad unter die Lupe genommen, dann verstreute Socken eingesammelt und in den Wäschekorb gesteckt. Sie hört das »Ping« einer neuen Nachricht und lässt sich auf ihren Stuhl fallen. Tut mir leid. Sollte nicht so lange dauern. Hoffe, morgen reden zu können. Keine Anrufe, hat er gesagt. Handyrechnungen haben Einzelnachweise. Bist du jetzt im Hotel?, tippt sie rasch. Ich könnte dich in deinem Zimmer anrufen. Das gesprochene Wort war ein Luxus, eine seltene Gelegenheit. Herrgott, sie brauchte seine Stimme. Muss zu einem Dinner, meine Schöne. Tut mir leid - bin schon zu spät dran. Bis später x Und weg ist er. Sie starrt auf den leeren Bildschirm. Inzwischen wird er mit langen Schritten das Hotelfoyer durchqueren, die Empfangsdamen bezaubern und in einen Wagen steigen, der ihm von der Messeleitung zur Verfügung gestellt wird. Heute Abend wird er beim Dinner eine Rede aus dem Stegreif halten und dann wie üblich das belustigte, leicht schwermütige Gegenüber für alle sein, die so glücklich sind, an seinem Tisch zu sitzen. Er wird da draußen sein und sein Leben voll auskosten, während sie das ihre anscheinend dauerhaft zum Stillstand gebracht hat. Was zum Teufel macht sie? »Was zum Teufel mache ich?«, sagt sie laut und schaltet den Computer aus. Sie schreit ihren Frust an die Schlafzimmerdecke und wirft sich auf ihr großes, leeres Bett. Sie kann ihre Freundinnen nicht anrufen: Sie haben diese Unterhaltungen schon zu oft über sich ergehen lassen, und sie kann sich denken, wie deren Antwort lauten wird - wie sie nur lauten kann. Was Doug ihr gesagt hatte, war schmerzhaft. Aber umgekehrt würde sie ihnen allen dasselbe sagen. Sie sitzt auf dem Sofa und schaltet den Fernseher ein. Schließlich wirft sie einen Blick auf den Papierstapel neben sich, hievt ihn auf den Schoß und flucht auf Melissa. Ein Stapel Vermischtes, hatte der Bibliothekar gesagt, Artikel, die kein Datum trugen und keiner Kategorie zuzuordnen waren ... »Ich habe keine Zeit, sie alle durchzusehen. Wir stoßen auf viele ähnliche Stapel.« Er war der einzige Bibliothekar unter fünfzig da unten. Flüchtig hat sie sich gefragt, warum er ihr bisher noch nie aufgefallen ist. »Schauen Sie, ob Sie davon irgendetwas gebrauchen können.« Er hatte sich verschwörerisch vorgebeugt. »Werfen Sie weg, was Sie nicht haben wollen, aber sagen Sie nichts dem Chef. Wir sind im Moment in dem Stadium, in dem wir es uns nicht leisten können, jedes einzelne Blatt Papier zu überprüfen.« Bald wird deutlich, warum: ein paar Theaterrezensionen, eine Passagierliste für ein Kreuzfahrtschiff, ein paar Speisekarten von diversen Festessen im Rahmen der Redaktion. Sie überfliegt sie und wirft hin und wieder einen Blick auf den Fernseher. Hier gibt es nicht viel, das Melissa begeistern wird. Jetzt blättert sie in einem Stapel, der nach Krankenakten aussieht. Ausschließlich Lungenkrankheiten, stellt sie abwesend fest. Hat irgendetwas mit Bergbau zu tun. Sie will den ganzen Kram schon in den Mülleimer werfen, als ihr Blick auf eine hellblaue Ecke fällt. Sie zieht mit Zeigefinger und Daumen daran und holt einen handgeschriebenen Umschlag heraus. Er ist geöffnet worden, und der Brief darin trägt das Datum 4. Oktober 1960. Meine einzige, wahre Liebe, was ich gesagt habe, war auch so gemeint. Ich bin zu dem Schluss gekommen, der einzige Weg nach vorn besteht darin, dass einer von uns eine kühne Entscheidung trifft. Ich bin nicht so stark wie du. Als ich dir zum ersten Mal begegnete, hielt ich dich für ein zerbrechliches, kleines Ding, für jemanden, den ich beschützen musste. Jetzt ist mir klar, dass ich mich getäuscht habe. Du bist die Starke, die ein Leben mit dieser Liebe ertragen kann, die wir niemals ausleben dürfen. Ich bitte dich, mich nicht wegen meiner Schwäche zu verurteilen. Ich kann das alles nur aushalten an einem Ort, an dem ich dich nie sehen werde, nie von der Möglichkeit gequält werde, dich mit ihm zu sehen. Ich muss irgendwo sein, wo schiere Notwendigkeit dich in jeder Minute, jeder Stunde aus meinen Gedanken vertreibt. Das kann hier nicht sein. Ich werde die Stelle annehmen. Am Freitagabend werde ich um 7.15h am Bahnhof Paddington sein, Gleis 4, und nichts auf der Welt würde mich glücklicher machen, als wenn du den Mut fändest, mit mir zu gehen. Wenn du nicht kommst, werde ich wissen, dass das, was immer wir füreinander empfinden, nicht ganz reicht. Ich will dir keinen Vorwurf machen, Liebling. Ich weiß, die letzten Wochen haben dich unerträglich unter Druck gesetzt, und ich spüre dieses Gewicht deutlich. Ich verabscheue den Gedanken, ich könnte dir Unglück bringen. Ich werde ab Viertel vor sieben auf dem Bahnsteig warten. Du sollst wissen, dass du mein Herz, meine Hoffnungen in den Händen hältst. Dein B Ellie liest den Brief ein zweites Mal und stellt fest, dass ihre Augen sich unerklärlicherweise mit Tränen füllen. Sie kann den Blick nicht von der großen, geschwungenen Handschrift lösen; die Unmittelbarkeit der Worte springt sie noch an, nachdem sie über vierzig Jahre verborgen waren. Sie dreht das Blatt um und sucht auf dem Umschlag nach Hinweisen. Er ist adressiert an PO Box 13, London. Es könnte ein Mann oder eine Frau sein. Was hast du gemacht, PO Box 13?, fragt sie im Stillen. Dann steht sie auf, steckt den Brief vorsichtig wieder in den Umschlag und geht an ihren Computer. Sie öffnet die Mailbox und drückt auf »aktualisieren«. Nichts seit der Nachricht, die sie um fünf vor acht erhalten hat. Muss zu einem Dinner, meine Schöne. Tut mir leid - bin schon spät dran. Bis später x


Teil 1

Ich kann das alles nur aushalten an einem Ort, an dem ich dich nie sehen werde, nie von der Möglichkeit gequält werde, dich mit ihm zu sehen. Ich muss irgendwo sein, wo schiere Notwendigkeit dich in jeder Minute, jeder Stunde aus meinen Gedanken vertreibt. Das kann hier nicht sein. Ich werde die Stelle annehmen. Am Freitagabend werde ich um 7.15h am Bahnhof Paddington sein, Gleis 4, und nichts auf der Welt würde mich glücklicher machen, als wenn du den Mut fändest, mit mir zu gehen.

Mann an Frau, per Brief


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1960 Sie wacht auf.« Man hörte ein Rascheln, ein Stuhl wurde über den Boden gezogen, dann das helle Klicken von aufeinandertreffenden Vorhangringen. Zwei leise Stimmen. »Ich hole Mr Hargreaves.« Ein kurzes Schweigen trat ein, in dem sie sich langsam einer anderen Geräuschebene bewusst wurde - Stimmen, durch die Entfernung gedämpft, ein vorbeifahrendes Auto: Eigenartig, es schien ein ganzes Stück unter ihr zu sein. Im Liegen nahm sie es in sich auf, ließ es Gestalt annehmen, spielte in Gedanken Fangen, während sie ein Geräusch nach dem anderen zuordnete. An diesem Punkt wurde ihr der Schmerz bewusst. Er arbeitete sich in erlesenen Etappen hoch: zunächst ihr Arm, ein scharfes Brennen vom Ellbogen bis zur Schulter, dann ihr Kopf: dumpf, unbarmherzig. Der Rest ihres Körpers tat weh, so wie zu dem Zeitpunkt, als sie ... Als sie ...? »Er kommt sofort. Wir sollen die Fensterläden schließen.« Als sie ...? Ihr Mund war so trocken. Sie presste die Lippen aufeinander und schluckte unter Schmerzen. Sie wollte um Wasser bitten, doch die Wörter wollten nicht kommen. Sie schlug die Augen einen Spaltbreit auf. Zwei undeutliche Gestalten bewegten sich um sie herum. Jedes Mal, wenn sie glaubte, herausgefunden zu haben, was sie waren, bewegten sie sich wieder. Blau. Sie waren blau. »Du weißt, wer gerade von oben hereingekommen ist, ja?« Eine der Stimmen wurde leiser. »Eddie Cochranes Freundin. Die den Autounfall überlebt hat. Sie hat Songs für ihn geschrieben. Vielmehr im Gedenken an ihn.« »Sie wird nicht so gut sein, wie er war, jede Wette.« »Den ganzen Morgen hat sie Zeitungsleute bei sich gehabt. Die Oberschwester ist mit ihrem Latein am Ende.« Sie konnte nicht verstehen, was sie sagten. Der Schmerz in ihrem Kopf war zu einem pochenden, sausenden Geräusch geworden, wurde noch umfangreicher und intensiver, bis sie nur noch die Augen schließen und darauf warten konnte, dass es, oder sie, verschwand. Dann kam das Weiß, einer Woge gleich, und umfing sie. Dankbar stieß sie leise den Atem aus und ließ sich in die Umarmung zurückfallen. »Sind Sie wach, Liebes? Sie haben Besuch.« Über ihr war ein flackernder Reflex, ein Trugbild, das sich schnell bewegte, hierhin und dorthin. Plötzlich kam ihr die Erinnerung an ihre erste Armbanduhr, wie sie das Sonnenlicht mit dem Glasgehäuse an die Decke des Spielzimmers geworfen und hin und her bewegt hatte, woraufhin ihr kleiner Hund anfing zu bellen. Da war das Blau wieder. Sie sah, wie es sich bewegte, begleitet vom Rascheln. Dann war eine Hand an ihrem Handgelenk, ein kurzer, schmerzhafter Funke, bei dem sie aufschrie. »Ein bisschen vorsichtiger mit der Seite, Schwester«, schalt die Stimme. »Das hat sie gespürt.« »Tut mir entsetzlich leid, Mr Hargreaves.« »Der Arm muss noch einmal operiert werden. Wir haben ihn an mehreren Stellen genagelt, aber es haut noch nicht hin.« Eine dunkle Gestalt ragte über ihren Füßen auf. Sie bot ihre ganze Willenskraft auf, um sie zu stabilisieren, doch sie weigerte sich ebenso wie die blauen Gestalten, und sie ließ die Augen wieder zufallen. »Sie können sich zu ihr setzen, wenn Sie wollen. Mit ihr sprechen. Sie kann Sie hören.« »Wie sehen ihre ... anderen Verletzungen aus?« »Es wird Narben geben, fürchte ich. Besonders an dem Arm. Und sie hat einen ziemlichen Schlag am Kopf davongetragen, daher kann es eine Weile dauern, bis sie wieder die Alte ist. Aber in Anbetracht der Schwere des Unfalls können wir wohl sagen, dass sie einigermaßen glimpflich davongekommen ist.« Kurzes Schweigen trat ein. »Ja.« Jemand hatte eine Schüssel mit Obst neben sie gestellt. Sie hatte ihre Augen wieder aufgeschlagen, richtete ihren Blick darauf, bis Form und Farbe sich verfestigt hatten und sie zufrieden begriff, dass sie erkannte, was es war. Weintrauben, dachte sie. Und noch einmal wälzte sie das Wort still in ihrem Kopf: Weintrauben. Das war ihr wichtig, als würde es sie in dieser neuen Realität verankern. Dann waren die Trauben so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen waren, ausgelöscht von der dunklen, blauen Masse, die sich neben ihr niedergelassen hatte. Als sie näher kam, nahm sie schwachen Tabakgeruch wahr. Die Stimme, die dann ertönte, war behutsam, vielleicht sogar ein wenig verlegen. »Jennifer? Jennifer? Kannst du mich hören?« Die Wörter waren so laut; seltsam aufdringlich. »Jenny, Liebes, ich bin's.« Sie fragte sich, ob man ihr noch einmal einen Blick auf die Weintrauben gewähren würde. Das erschien ihr notwendig; kräftig, purpurrot, fest. Vertraut. »Sind Sie sicher, dass sie mich hören kann?« »Ziemlich, aber mag sein, dass sie die Kommunikation zunächst erschöpft.«


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