Die verbotene Geschichte

Die verbotene Geschichte
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Produktbeschreibung

 

Als sie die Einladung zur Beerdigungszeremonie einer gewissen "Miti" auf Papua-Neuguinea erhält, ahnt die Ärztin Katja nicht, dass ihre Reise Licht in die dunkelsten Geheimnisse ihrer Familie bringen und ihr eigenes Leben für immer verändern wird. Geschickt verwebt Annette Dutton die Geschichte zweier Frauen aus unterschiedlichen Jahrhunderten, beschwört die dramatische Geschichte Papua-Neuguineas und lässt schillernde historische Figuren wie die berühmt-berüchtigte Queen Emma lebendig werden.
 

 

Klappentext zu „Die verbotene Geschichte“

 

Als sie die Einladung zur Beerdigungszeremonie einer gewissen "Miti" auf Papua-Neuguinea erhält, ahnt die Ärztin Katja nicht, dass ihre Reise Licht in die dunkelsten Geheimnisse ihrer Familie bringen und ihr eigenes Leben für immer verändern wird.
Geschickt verwebt Annette Dutton die Geschichte zweier Frauen aus unterschiedlichen Jahrhunderten, beschwört die dramatische Geschichte Papua-Neuguineas und lässt schillernde historische Figuren wie die berühmt-berüchtigte Queen Emma lebendig werden.

Bibliografische Angaben

 

2013, 442 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
Verlag: DROEMER KNAUR
ISBN-10: 3426513358
ISBN-13: 9783426513354

Filiallieferung

 

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Rezension

 

"Magisch" -- LEA, 17.07.2013

"Die Autorin hat mit DIE VERBOTENE GESCHICHTE eine Familiensaga geschrieben, die mich vom ersten Augenblick an abgeholt hat. Man spürt das gewisse Etwas zwischen den Zeilen. Von der Idee her sowie den bildlich wunderbar beschriebenen Schauplätzen am anderen Ende der Welt, taucht der Leser ab in eine tolle Lektüre. Ein Geheimnis vom anderen Ende der Welt - faszinierend, stimmig, spannend." -- Blog Lesegenuss, 30.07.2013

"Leicht zu lesender Roman, der Gegenwart und Vergangenheit spannend und abwechslungsreich mit leidgeprüften, starken Protagonisten verknüpft und vor dem Hintergrund eines Familiengeheimnisses Südseeflair historisch, kulturell und sozial lebendig werden lässt." -- Blog Sinje-Blumenstein, 21.07.2013

"Eine leichte, gut lesbare Urlaubslektüre, von der man sich schnell gefangen nehmen lässt." -- Buchwurm.org, 19.07.2013

"Ein faszinierender Roman, der an viele historische Ereignisse angelehnt ist. Die Autorin beschreibt die Samoanische Landschaft und die Einheimischen so deutlich, dass der Leser sie geradezu förmlich vor sich sieht." -- Buchlemmi.de, 05.07.2013

"Ein sorgfältig recherchiertes und einfühlsam geschriebenes Buch über zwei Kulturen und ihre Verstrickungen." -- prberghoff.de, 25.06.2013

Autoren-Porträt von Annette Dutton

 

Annette Dutton, 1965 in Deutschland geboren, studierte Geisteswissenschaften in Mainz. Seither arbeitet sie als Fernsehproducerin und Autorin, zuletzt für ein Australien-Special der Wissenschaftsserie Galileo sowie die zweiteilige Australien-Reportage Der Zug der Träume . Mittlerweile lebt Annette Dutton seit elf Jahren in Australien, zusammen mit ihrem Mann John und Sohn Oscar.

Leseprobe

Die verbotene Geschichte von Annette Dutton


Köln, März 2010

Katja riss sich die weißen Stöpsel aus den Ohren und starrte mit offenem Mund durch die Windschutzscheibe. Instinktiv zog sie ihr linkes Bein in den Fahrerraum zurück und schlug die Tür zu. Sie sah, wie der Radfahrer vor ihr auf die belebte Gegenspur zuschlingerte. Während er sich bemühte, die Kontrolle zu behalten, schlug das Vorderrad ruckartig hin und her. Zwei Autofahrer versuchten, dem unberechenbaren Geschoss auszuweichen, und verrissen das Lenkrad Richtung Bürgersteig. Bremsen quietschten. Katja schloss die Augen und biss die Zähne aufeinander. Sie wartete auf den Aufprall. Doch stattdessen sauste wenig später eine Faust auf die Motorhaube ihres Sportwagens nieder. Sie fuhr zusammen und öffnete ungläubig die Augen. »Kannst du nicht aufpassen, du blöde Kuh?« Ein behelmter Männerkopf beugte sich durchs offene Fenster zu ihr herunter. Es erschien Katja unglaublich, doch der drahtige Typ im Rennfahrertrikot saß trotz des riskanten Ausweichmanövers noch immer im Sattel und stützte sich nun mit der Hand an ihrem Autodach ab. Sein wutverzerrtes Gesicht kam dem ihren so nahe, dass Katja schon befürchtete, er könne jeden Moment handgreifl ich werden. Unwillkürlich hob sie ihre Hände und legte sie zum Schutz auf Stirn und Schläfen. »Es tut mir leid. Ehrlich, ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte. Normalerweise ...« Sie biss sich auf die Unterlippe. Es musste ja wie Hohn in seinen Ohren klingen, wenn sie behauptete, dass sie sich sonst vor dem Aussteigen immer zuerst umschaute, ob jemand auf dem Radweg hinter ihr fuhr. »Sorry«, sagte sie deshalb nur leise und hob entschuldigend die Hände. »Dein sorry kannst du dir sonst wohin schieben! Verdammt, ich hätte tot sein können!« Katja begann trotz der Erleichterung zu zittern. Der Mann lebte. Das war alles, was zählte. Sie wusste, dass sie unter Schock stand. Dabei wollte sie so gerne etwas Passendes sagen, ihn zumindest fragen, ob er sich verletzt hatte und ob sein Rad in Ordnung war. Doch noch bevor sie die richtigen Worte fand, stieß sich der Radfahrer kraftvoll vom Auto ab und trat in die Pedale. »Scheißautofahrer«, hörte sie ihn noch fluchen, als er kopfschüttelnd davonfuhr. Katja barg ihr Gesicht in den Händen. Sie ließ die Stirn aufs Lenkrad sinken, schloss die Augen und begann zu weinen. Es stimmte, was er gesagt hatte. Sie hätte ihn tatsächlich umbringen können! Wer wüsste das besser als sie? Erst vorletzte Woche hatte sie gemeinsam mit den anderen Notärzten im Dienst ein sechzehnjähriges Mädchen versorgt, das auf dem Weg zur Schule von einer sich plötzlich öffnenden Wagentür in die Luft geschleudert worden war. Wahrscheinlich würde der Teenager für den Rest seines Lebens von der Hüfte abwärts gelähmt bleiben. »Alles in Ordnung mit Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?« Katja spürte den sanften Druck einer Hand auf ihrer Schulter. Langsam hob sie den Blick und strich sich eine Strähne ihres schulterlangen Haares hinters Ohr. Sie sah in das besorgte Gesicht einer älteren Dame, die durchs offene Fenster zu ihr hereinschaute. Katja schüttelte nur den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. »Nein danke. Es geht schon wieder.« Die Dame hob kurz die Brauen, als zweifle sie ihre Worte an, nickte schließlich und ging weiter. Katja seufzte. Bevor noch mehr geschah, sollte sie besser aussteigen. Sie stopfte ihren MP3-Player in die Handtasche und griff nach den beiden Einkaufstüten auf dem Rücksitz. Sie schüttelte sich, als könnte sie auf diese Weise das eben Erlebte loswerden. Schließlich stieg sie aus, schloss den BMW ab und überquerte zügig die Straße. Fünf Minuten später stand sie vor einem Mehrfamilienhaus, das sich mit seiner nüchternen Fassade aus den siebziger Jahren nahtlos in seine triste Nachbarschaft einfügte. Sie setzte die Tüten ab und fischte in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel. Als sie ihn nicht gleich finden konnte, füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen. Mein Gott, reiß dich zusammen! Endlich fühlte sie den Schlüssel zwischen ihren Fingern und schloss schnell die geriffelte Glastür auf. Sie stellte den Fuß in den Rahmen, nahm die Tüten und betrat den Flur. Die vier Stockwerke bis zu ihrer Dachterrassenwohnung bewältigte Katja zu Fuß, einen Fahrstuhl gab es nicht. Oben angekommen, öffnete sie die Tür, trat in den Eingangsbereich, lehnte sich für einen Moment mit dem Rücken gegen die Wand und atmete tief durch. Dann ging sie zur Küchentheke, wo sie die Tüten abstellte. Sie öffnete einen der Hängeschränke und suchte nach der Whiskyflasche, die sich dort irgendwo versteckt haben musste. Im mittleren Schrank wurde sie fündig. Sie griff nach einem Wasserglas und goss sich einen Daumenbreit vom Single Malt ein. Sie nahm einen großen Schluck und ließ sich mit einem hörbaren Seufzer auf den Barhocker sinken. Mit geübten Bewegungen kickte sie die flachen Sandalen von den Füßen. Eigentlich war es für Sandalen noch viel zu kalt, aber nach dem langen Winter war ihr heute einfach danach gewesen. Es war ja nur für den Heimweg und den Einkauf im Supermarkt. Im Krankenhaus trug sie ohnehin ihre Arbeitsschuhe. Sie stellte den Drink ab und ging zum anderen Ende des Raumes, dem Wohnbereich. Michael und sie hatten die Wohnung vor sechs Jahren nur unter der Bedingung gekauft, dass sie die Wände einreißen durften. Aus den vier schachtelartigen Zimmern schufen sie ein helles großes und ein kleineres, das als Schlafzimmer diente. An der niedrigen Decke konnten sie leider nichts ändern, doch dafür entschädigte sie die Dachterrasse mit Blick über den Rhein - der eigentliche Grund, weshalb sie sich für die Wohnung in Rodenkirchen entschieden hatten. Die bürgerliche, um nicht zu sagen spießige Nachbarschaft nahmen sie dafür ebenso in Kauf wie Katja die tägliche Fahrerei zur Uniklinik. Eine Weile suchte sie erfolglos nach der Fernbedienung; schließlich gab sie auf und ging in die Hocke, um die Anlage manuell einzuschalten. Sie drehte den Lautstärkeregler genau so weit nach rechts, wie es von den Honnefs unter ihnen gerade noch toleriert wurde. Nach mehreren unerfreulichen Begegnungen mit dem Rentnerehepaar war Michael auf die grandiose Idee verfallen, diesen mühselig verhandelten Grenzwert mit einem Tupfer Nagellack auf der Anlage zu markieren. Das fanden sie beide zwar idiotisch, aber seither klappte es mit den Nachbarn. Katja ging ins Badezimmer, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Vor zwei Jahren hatte sie auch im Bad kleine hochwertige Boxen installieren lassen, denn sie wollte selbst dort nicht mehr ohne Musik sein. Mit der Stille kamen die Gedanken, und die drehten sich immer nur im Kreis. Sie führten zu nichts, schmerzten aber wie am ersten Tag. Katja hielt ihr Gesicht bewegungslos in den Wasserstrahl, genoss das gleichförmige Prickeln auf der Haut. Gleichzeitig spürte sie das Hämmern der Bassgitarre. Als sie sich gerade zu entspannen begann, wurde sie von einem energischen Klopfen an der Badezimmertür unterbrochen. Zum zweiten Mal an diesem Tag fuhr sie erschrocken zusammen und kreuzte schützend die Arme vor der Brust. »Katja?« Ihre Mutter. War es tatsächlich schon sechs? Ihre Mutter hatte unbedingt zum Abendessen vorbeikommen wollen. Sosehr Katja die Absicht hinter diesem Besuch zu schätzen wusste, an diesem Tag wäre sie trotzdem lieber allein geblieben. Katja drehte das Wasser ab und stieg aus der Duschkabine. »Bin in zwei Minuten bei dir. Hol dir schon mal was zu trinken! «, rief sie durch die Tür, anstatt die Musik leiser zu stellen. »Ist gut.« Katja trocknete sich ab, schlüpfte in Unterwäsche und ihre Röhrenjeans und streifte sich ein schlicht geschnittenes T- Shirt mit langen Ärmeln über. Sie verzog das Gesicht kurz zu einer Grimasse, als sie sich mit festen Bürstenstrichen durchs handtuchtrockene Haar fuhr. In die Küche zurückgekehrt, stellte sie fest, dass ihre Mutter bereits die Plastiktüten geleert und die Einkäufe verstaut hatte. Die elegante Frau Mitte fünfzig stand in der Küche und würfelte Schalotten. Sie trug eine Hose aus fließendem Stoff, die ihrer schlanken Figur schmeichelte. Augen und Lippen waren dezent geschminkt. Das dunkelblonde Haar hatte sie hochgesteckt, was die Wirkung ihrer teuren Ohrringe noch verstärkte. Als sie Katja kommen hörte, hob sie den Kopf und legte das Messer zur Seite. Lächelnd kam sie um die Arbeitsfläche herum und nahm ihre Tochter in den Arm. »Ich wollte dich wirklich nicht erschrecken, Liebes, aber ich habe mir den Finger wund geklingelt, und weil ich doch den Schlüssel habe, dachte ich ...« »Ja, ja. Schon gut«, wiegelte Katja ab und wand sich aus der mütterlichen Umarmung. »Bin ja selbst dran schuld. Die Musik ... Hast du übrigens zufällig die Fernbedienung gesehen? « »Letztes Mal lag sie unter dem Sofa.« Margarete von Beringsen wandte sich wieder den Schalotten zu. Katja ging zur Sitzecke hinüber, deren dunkles Leder speckig glänzte. Sie legte sich flach auf den Boden und langte nach etwas. »Und da ist sie auch jetzt wieder. Was täte ich nur ohne dich?« Mit einem Ächzen kam sie wieder auf die Füße und stellte den Ton leise. Ihre Mutter schien darüber erleichtert. »Was machst du überhaupt in der Küche? Ich wollte doch für uns kochen.« »Ach, lass mir doch die Freude. Zu Hause komme ich doch eh nicht dazu.« Katjas Mutter deutete mit der Messerspitze auf die Knoblauchknolle und den kleinen Bund roter Chilis. »Das scharfe Zeugs überlasse ich allerdings gerne dir.« Das Fischgrätparkett knarzte, als Katja zur Küche hinüberging. »Meinst du, ich sollte den Boden neu versiegeln lassen?« Ihre Mutter hob die Schultern.

»Das würde wohl nichts ändern. Das Holz lebt, und was lebt, bewegt sich nun mal und macht dabei Geräusche.« Sie wandte sich zum Spülbecken, um die Petersilie zu waschen. Katja schluckte. Was lebt, bewegt sich und macht Geräusche. Lächerlich, dass sie die Worte ihrer Mutter so berührten. Entschlossen kämpfte sie die aufsteigenden Tränen nieder und machte sich daran, den Knoblauch und die Chilis sehr fein zu schneiden.

Die beiden Frauen saßen am Esstisch und aßen schweigend. Beide schienen sich auf die leisen Klänge zu konzentrieren. Mozart. Katja war nicht nach Unterhaltung zumute. Ihre Mutter schien dies zu spüren. Sie war gekommen, um ihre Tochter zu trösten, und Katja wollte sie auch gar nicht bewusst abweisen, obwohl sie glaubte, dass dieser fürsorgliche Besuch ihrer Mutter mehr half als ihr selbst. »Wirklich köstlich, diese Chili-Knoblauch-Spaghetti«, unterbrach Margarete von Beringsen die Stille. »Ich bin jedes Mal aufs Neue erstaunt, dass ich Chili überhaupt runter- bringe. Diese Entdeckung habe ich allein dir zu verdanken.« Sie legte das Besteck am Tellerrand ab und nahm einen Schluck vom Riesling. Dann schaute sie ihrer Tochter forschend ins Gesicht. Katja wandte den Blick ab. Eine Träne lief ihr über die Wange. Ihre Mutter beugte sich nach vorne. »Katja, willst du nicht mit mir reden?«, ermunterte sie die Tochter und berührte vorsichtig deren Hand. Katja atmete durch. Sie legte die Gabel zur Seite und sah ihrer Mutter in die Augen. »Ich hätte heute beinahe jemanden auf die Intensivstation geschickt.« Mit einem Kloß im Hals berichtete sie ihrer Mutter von dem Unfall.

»Geh nicht so hart mit dir ins Gericht. Ich wette, du hast an Michael gedacht, als das passierte, hab ich recht? Dieser Tag heute ... der Gedanke hat dich abgelenkt.« Sie drückte die Hand ihrer Tochter, Katja nickte stumm. Ihre Mutter deutete mit dem Kinn in Richtung Telefon. »Es blinkt schon, seit ich hier bin. Drei Anrufe. Willst du die Nachrichten denn nicht abhören?« Katja schüttelte den Kopf. »Später. Ich schaffe das jetzt nicht. Das werden seine Eltern sein und vielleicht ein, zwei Freunde, die sich noch an seinen Geburtstag erinnern.« Ihre Mutter nickte und drehte langsam mit der Gabel die Spaghetti auf. Katja wollte Wein nachschenken, doch Margarete von Beringsen hielt die Hand über ihr Glas. »Für mich bitte nicht mehr. Ich hab versprochen, noch auf einen Sprung bei Leni vorbeizuschauen. Eine ihrer neuen Künstlerinnen stellt aus, und sie hat mal wieder Angst, dass nicht genug Publikum zur Vernissage kommen könnte.« Sie schaute auf die Armbanduhr. »Großer Gott. Sei mir nicht böse, aber ich muss los.« Sie tupfte sich den Mund ab, warf die Serviette auf den noch halb vollen Teller, schob den Stuhl zurück und stand auf. Als ihre Mutter mit ihrer Handtasche im Bad verschwunden war, räumte Katja den Tisch ab und stellte das Geschirr ins Spülbecken. Sie nahm ihr Weinglas und ging nach draußen auf die Terrasse, wo sie sich in einen gepolsterten Korbsessel sinken ließ und nach Zigaretten und Feuerzeug auf dem Holztischchen neben ihr langte. Sie fingerte eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Dann lehnte sie sich zurück und stieß den Rauch wie einen langen Seufzer durch die Nasenlöcher aus. Ihr Blick glitt über den Fluss; der Abend war schnell heraufgezogen, so dass sie kaum noch unterscheiden konnte, wo das schmutzige Wasser aufhörte und das Grau des Himmels anfing. Die Lichter der Uferpromenade hätten dabei helfen können, doch aus irgendeinem Grund brannten sie noch nicht. Feiner Nieselregen fiel. Über die Brücke zu Katjas Rechter bewegten sich die Autos als schleichende Lichterkette hoch über dem Rhein. Katja hatte die Beine hochgezogen und mit den Armen umfasst, um sich vor der Kälte zu schützen. Die herannahende Nacht fühlte sich eher nach Winter an als nach Frühlingsanfang. Sie hörte, wie die Glastür geöffnet wurde. »Ach, hier bist du. Willst du nicht wieder hereinkommen? Du holst dir sonst noch den Tod.« »Gleich. Ich rauche nur schnell die Zigarette fertig.« Frau von Beringsen trat auf die Terrasse hinaus, schon im Mantel, und zog die Tür hinter sich zu. »Seit wann rauchst du denn wieder?« Die Stimme der Mutter klang überrascht, und sie setzte sich auf die Kante des anderen Sessels. »Nur ab und zu mal eine. Du brauchst dir keine Sorgen machen. « »Das tu ich aber.« Katja schwieg, während die Glut ihrer Zigarette in der trüben Dämmerung aufleuchtete und leise knisterte. »Ist es denn immer noch so schlimm?« Margarete von Beringsen sprach leise. »Es sind nun fast schon drei Jahre.« Katja antwortete nicht, hob stattdessen den Kopf und blies den Rauch in den kalten Himmel. Ihre Mutter legte der Tochter die Hand aufs Knie. »Hör mal, du darfst dich nicht so in deine Trauer fallen lassen. Du bist eine junge Frau, die noch alles vor sich hat. Du musst mehr rausgehen, unter Leute.«

»Mama, ich bin den ganzen Tag unter Leuten. Am Abend will ich meine Ruhe haben.« »Sicher. Trotzdem ... Katja, es fällt mir nicht leicht, aber irgendjemand muss es dir ja mal sagen. Und wenn deine Freunde es nicht tun ...« »Was denn, Mutter? Bitte winde dich nicht so.« »Also gut. Du lässt dich gehen. So, jetzt ist es raus. Dabei wäre es nun wirklich an der Zeit ...« Sie sah ihre Tochter genauer an und unterbrach sich selbst. »Deine Haare. Wann warst du das letzte Mal beim Friseur? Und dann diese alten ausgeleierten Klamotten. Immer nur Jeans, T-Shirt oder Pulli. Du würdest dich bestimmt viel besser fühlen, wenn du dich ein wenig zurechtmachen würdest.« »Du meinst, damit ich für einen anderen Mann attraktiv werde?« Noch bevor ihre Mutter Gelegenheit hatte, Einspruch zu erheben, sprach Katja weiter: »Wieso kannst du nicht verstehen, dass ich kein Interesse habe, mit jemandem auszugehen? Michael war die Liebe meines Lebens, und die Tatsache, dass er tot ist, ändert nichts daran.« Margarete von Beringsen setzte sich aufrechter hin und schlug die schlanken Beine übereinander. Ihre Finger zogen die Korbflechtenlinien nach. »Liebe meines Lebens. Herrgott, Katja, das sind große Worte. Ich glaube, du bist mit deinen 32 Jahren viel zu jung, um deine Gefühle so abschließend beurteilen zu können.« »Aber du kannst das, ja? Du kannst beurteilen, wann es mit meiner Trauer genug ist und an der Zeit, mich nach einem neuen Mann umzuschauen. Das meinst du doch, wenn du sagst, ich soll wieder raus ins Leben, oder?« »Ich meine nur, dass du zu jung bist, um für den Rest deines Lebens zu trauern. Auch wenn es dir jetzt noch schwerfällt, mir zu glauben, aber Gefühle verändern sich im Laufe der Jahre. Ich gebe zu, es hört sich abgeschmackt an, und doch ist es wahr: Die Zeit heilt alle Wunden.« Katja schnaubte verächtlich. »Ich weiß schon. Und eine neue Liebe ist wie ein neues Leben. Bitte, Mutter, lass mich mit diesen abgedroschenen Phrasen in Ruhe!« »Na gut. Ich will nur dein Bestes, das weißt du. Aber wenn du mir nicht zuhören willst, gehe ich wohl besser.« Margarete von Beringsen stand auf. »Ach ja, ich hab deine Post mit hochgebracht und auf die Kommode im Flur gelegt. Außer Rechnungen ist da ein Brief aus Papua-Neuguinea. Wird wohl eine Einladung für diese merkwürdige Zeremonie zu Phebes Grabverlegung sein. Sie haben uns vor drei Wochen um die Erlaubnis gebeten, diese Feierlichkeiten auf Kuradui abzuhalten.« »Phebes Grabverlegung?« Katja wusste nicht, wovon ihre Mutter sprach. Diese winkte müde ab. »Ach, vergiss es einfach. Ich verstehe gar nicht, warum die Diözese unsere Familie seit Jahren immer noch anschreibt, wo Papa doch nie darauf reagiert hat. Ganz schön hartnäckig, diese Papua. Wahrscheinlich hoffen sie auf eine saftige Geldspende. Also, ich bin dann mal weg.« Katja drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf, um ihre Mutter zu verabschieden. »Mutter, es tut mir leid. Es ist nur ... ach, ich weiß auch nicht. Ich bin einfach noch nicht so weit. Verstehst du das denn nicht?« Margarete von Beringsen drückte ihre Tochter fest an sich und schloss für einen Moment die Augen. »Natürlich. Ich will dir doch nicht weh tun, aber wir sorgen uns nun mal um dich. Papa fragt schon eine ganze Weile nach dir. Willst du nicht mal wieder vorbeikommen, auf einen Kaffee?«

»Ach, Mutter. Vater und nach mir fragen. Das glaubst du doch selbst nicht. Fast jedes Mal, wenn ich ihn sehe, endet es im Streit.« »Weil ihr beide denselben Dickschädel habt, deshalb. Dabei tust du ihm unrecht, glaub mir. Er fühlt durchaus mit dir, kann es aber nicht so ausdrücken. Also, komm schon, gib dir einen Ruck und besuche deinen Vater! Er vermisst dich. Wirklich.« Der Anflug eines Lächelns zeichnete sich auf Katjas Lippen ab. »Ich überleg es mir.« Margarete von Beringsen strich ihrer Tochter kurz über den Rücken, hängte sich ihre Tasche um und wandte sich zur Tür. Die Hand schon auf der Klinke, drehte sie sich noch einmal um. »Beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen.« Sie fischte einen Umschlag aus ihrer Handtasche und gab ihn der Tochter. »Hier. Die Einladung zu Großvaters Geburtstag. Ich weiß, Alberts Jahrestag ist eine bittere Erinnerung für dich, aber bitte komm dieses Mal! Wir sind deine Familie, Katja.«

Als ihre Mutter gegangen war, drehte Katja die Musik auf und warf die Geburtstagseinladung auf die Küchentheke. Und wenn ihre Mutter vielleicht recht hatte und sie schon viel zu lange in der Trauerphase steckte? Wie lange dauerte »normale« Trauer? In der medizinischen Literatur war ungefähr von einem Jahr die Rede, wenn sie sich richtig erinnerte. Es stimmte, sie hatte sich gerade in den letzten Monaten sehr von Freunden und Familie zurückgezogen. Im ersten Jahr nach Michaels Tod hatte sie noch jede Menge Anrufe und Einladungen zu irgendwelchen Aktivitäten erhalten. Nachdem sie dann mehrere Male abgesagt hatte, ließen diese Anrufe allmählich nach. Das war nur verständlich, und es hatte Katja nicht weiter gestört, schließlich wollte sie ja nichts anderes, als mit sich und den Erinnerungen an Michael allein zu sein. Konnte es sein, dass sie es sich mit der Zeit fast schon behaglich in diesem Zustand eingerichtet hatte? Verwechselte sie womöglich die Gewöhnung an ihre Einsamkeit mit der sogenannten Regression, wie Ärzte die Phase der Trauer nannten und in der sie sich ihrer Meinung nach gerade befand? Die vorletzte Stufe der Trauer, die von Rückzug aus dem Leben und gewählter Isolation gekennzeichnet ist? Warum ließ sie nicht los und wagte den Sprung zurück ins Leben? Sehnte sie sich im Grunde nicht selbst nach der letzten Trauerphase, die eine Anpassung an das Leben ohne den geliebten Menschen bedeutete? Wenn sie sich nur aktiver darum bemühte, zurück ins normale Leben zu gelangen, würde es dann nicht irgendwann einfach passieren, dass es sich richtig anfühlte? Katja ging nachdenklich in den Flur zur Kommode und schaute die Post durch. Die Rechnungen legte sie ungeöffnet zur Seite und griff nach dem Brief mit den exotischen Briefmarken. Birds of Paradise stand unter den Abbildungen der prächtig gefiederten Vögel. Sie öffnete den Umschlag mit dem Daumen und zog eine schlichte Karte hervor. Wie von ihrer Mutter angekündigt, handelte es sich um die Einladung zu einem Beerdigungszeremoniell. Nach mehr als siebzig Jahren hatte man die sterblichen Überreste einer gewissen Phebe Parkinson gefunden und wollte sie nun im Familiengrab auf der Farm Kuradui beisetzen:

Wir betten die allseits geliebte und verehrte Phebe Parkinson am 17. Mai 2010 neben ihren Mann Richard Parkinson. Es war ihr ausdrücklicher Wunsch, und nun endlich geht er in Erfüllung. Wir würden uns freuen, wenn Sie dem feierlichen Zeremoniell auf Kuradui beiwohnen könnten.

Unterschrieben hatte ein gewisser Reuter, Leiter der katholischen Diözese Vunapope. Dann folgten noch einige technische Hinweise zu Anfahrt und Unterbringung, Telefonnummern sowie einige Netzadressen mit näheren Informationen über das Land im Allgemeinen und die katholische Gemeinde im Besonderen. Aus Deutschland, so hieß es außerdem auf der Karte, buche man am besten einen Flug über Australien zur Hauptstadt Port Moresby und von dort einen Anschlussflug nach Rabaul, das zwanzig Autominuten vom Zielort Kokopo entfernt sei. Rabaul, Kuradui, Vunapope, Kokopo. Die fremd klingenden Namen waren Katja das ein oder andere Mal in der Villa ihrer Eltern oder auf Großvaters Gut zu Ohren gekommen, aber was sich hinter ihnen verbarg, darüber wusste sie so gut wie nichts. Sie erinnerte sich daran, als Mädchen einmal mit ihren Cousinen in Baströckchen auf Großvaters Geburtstagsfeier getanzt zu haben. Die Jungs schlugen dazu die Trommel, und die Erwachsenen, die sich prächtig über die rot und schwarz angemalten Kindergesichter amüsierten, ermunterten die kleinen Tänzer zu immer wilderen Verrenkungen. Großvater Albert führte bei solchen Gelegenheiten gern den »Vogelmann« vor, wie er die grüne Spielzeugfigur aus Samoa nannte. Sie war aus Jade, ungefähr zehn Zentimeter hoch und zeigte ein Wesen halb Vogel, halb Mensch. Katjas Eltern verdrehten dann die Augen, weil sie bereits wussten, was die Gäste nun erwartete: Damals, in ihren Kindertagen, als Opa Albert noch nicht im Rollstuhl saß, hielt er irgendwann im Verlauf der Feier die Figur mit beiden Händen über seinen Kopf und begann urplötzlich, mit ruckartigen Bewegungen durch den Raum zu zucken, während er gleichzeitig Laute wie von einem kranken Huhn ausstieß. Danach schüttete er sich aus vor Lachen und fi el irgendwann erschöpft in seinen Sessel zurück. Gäste, die zum ersten Mal diesem Schauspiel beiwohnten, waren verständlicherweise irritiert, und Katjas Eltern mussten sich den Rest der Feier meist damit beschäftigen, das merkwürdige Verhalten des Familien-Patriarchen zu erklären. Als Katja etwas älter war und erkannte, dass kein Mensch außer ihrem Opa diese seltsamen Geburtstagsbräuche zelebrierte, fragte sie ihre Mutter einmal, was es denn mit diesem Tanz, den sie gerade hatten absolvieren müssen, und dem Vogelmann auf sich habe. »Ach, das ist nur ein dummer Spaß, den sich dein Großvater einmal im Jahr erlaubt«, sagte ihre Mutter in leicht abschätzigem Ton. »Das darfst du nicht weiter ernst nehmen.« Als Katja sich mit dieser Erklärung nicht zufriedengeben wollte, kniete sich ihre Mutter seufzend vor sie hin. »Wie erkläre ich es dir nur am besten? Also, auch wenn es schwerfällt, sich das vorzustellen, aber Großvater Albert war auch einmal ein Kind und hatte Großeltern. Die beiden sind allerdings schon lange tot. Seine Großmama stammte aus Samoa.« »Wo ist denn Samoa?«

»Das ist eine wunderschöne Insel in der Südsee.« »Warst du schon mal da?« Ihre Mutter schüttelte den Kopf und strich Katja übers Haar. »Nein, aber ich wünschte, ich wäre es. Dein Vater war allerdings schon öfters dort. Er besitzt dort und in Papua- Neuguinea unter anderem Plantagen.« »Papa Neu-was?« Ihre Mutter lachte herzlich und wiederholte den korrekten Namen. »Und ist das auch im Südsee? Ist der weit weg von hier?« Frau von Beringsen nickte lächelnd zu ihrer Tochter herab. »Ja, mein Schatz. Am anderen Ende der Welt, dort, wo die wilden Männer hausen«, sagte sie nur geheimnisvoll und rollte übertrieben mit den Augen. Dann wischte sie Katja mit einem Tuch die Farbe aus dem Gesicht und bedeutete ihr mit einem Klaps, zu den anderen Kindern in den Garten zurückzulaufen. Die Erinnerung ließ Katja den Kopf schütteln. Im Begriff, die Karte wieder in den Umschlag zu stecken, hielt sie plötzlich inne und schaute nochmals auf das Datum. Am 17. Mai. Katja überlegte. Die Zeremonie für Phebe überschnitt sich mit Großvater Alberts Fest. War das vielleicht ein Wink des Schicksals? Doch schon im nächsten Augenblick fand Katja die Idee absurd. Warum sollte sie für eine vor langer Zeit verstorbene Frau, die weder sie noch ihre Eltern gekannt hatten, ans andere Ende der Welt reisen? Trotzdem ließ sie der Gedanke nicht los. Möglicherweise wäre dies genau die Gelegenheit, auf die sie insgeheim gehofft hatte, um aus ihrem Alltag auszubrechen. In Papua- Neuguinea könnte sie, fern der Beobachtung durch Bekannte oder die Eltern, ausprobieren, wie es sich anfühlte, ohne Michael einen neuen Schritt im Leben zu wagen. Genau davor hatte sie in den letzten drei Jahren Angst gehabt: fremden Menschen und unbekannten Situationen zu begegnen, ohne Michael an ihrer Seite zu haben. Nicht, weil sie ängstlich oder schüchtern gewesen wäre. Nein, die altbekannten Abläufe in vertrauter Umgebung hinter sich zu lassen würde bedeuten, Michael zurückzulassen, und dieser Gedanke fühlte sich für sie noch immer wie Verrat an. Was also, wenn sie sich tatsächlich dazu entschloss, nach Papua-Neuguinea zu fliegen? Möglich wäre es im Prinzip. Ihr Jahresurlaub war längst überfällig, und ihr alter Vertrag mit der Klinik lief eh bald aus. Zwischen zwei Verträgen könnte sie sich durchaus eine Auszeit gönnen. Sie tat seit dem Unfall ja praktisch nichts anderes, als lange Schichten zu schieben. Manchmal ging sie abends mit einer Freundin ins Kino oder ins Restaurant, aber das war seit Jahren ihre einzige Ablenkung. Ihr letzter wirklicher Urlaub, das war mit Michael. Zwei Wochen, über Ostern, in Griechenland zum Segeln. Im Mai darauf war Michael tot. Sie seufzte. Es wäre bestimmt nicht die schlechteste Idee, ihre selbstgewählte Einsamkeit für eine Weile aufzugeben. Zwar nicht in der Absicht, einen Mann kennenzulernen, wie ihre Mutter hoffte, aber um aus der alten Tretmühle rauszukommen. Außerdem, überlegte Katja nun schon einigermaßen ernsthaft, hätte sie so eine hervorragende Ausrede, sich noch einmal vor dem verhassten Geburtstagsfest zu drücken. Sie konnte Großvater Albert nicht sonderlich leiden; im Grunde mochte sie die gesamte Familie väterlicherseits nicht, und das schloss ihren Vater Rudolf ein. Die Möglichkeit, dem alljährlichen Großaufgebot der Sippschaft ein weiteres Mal entgehen zu können, erschien ihr mehr als verlockend.

Außer ihrer Abneigung der Verwandtschaft gegenüber gab es seit fast drei Jahren aber noch einen weitaus gewichtigeren Grund, weshalb sie mit der Familienfeier nach Möglichkeit nichts mehr zu tun haben wollte: Vor drei Jahren hatte sie dort vom Unglück erfahren. Ursprünglich war geplant, dass Michael und sie die Feier gemeinsam durchstehen würden, doch dann erhielt er relativ kurzfristig das unwiderstehliche Angebot einer Produktionsfirma für einen Dreh in Australien, zu dem er natürlich nicht nein sagen konnte. Es ging um eine Dokumentation über die Naturschutzgebiete Tasmaniens - eine Aufgabe genau nach Michaels Geschmack. Nachdem sie damals auf dem Geburtstag ihres Großvaters von dem grauenhaften Unfall informiert wurde, hatte sie zunächst erwogen, nach Tasmanien zu fliegen, um Michaels Urne nach Hause zu bringen, sich dann aber dagegen entschieden. Sie fürchtete, der Anblick der verkohlten Erde, wo der Hubschrauber verbrannt war, würde sie vollends niederwerfen. Mehr war laut Rolf, einem Freund und Kollegen Michaels, nicht übrig geblieben. Das stimmte nicht ganz, denn es gab auch Bilder aus Tasmanien. Filmmaterial, das Michael bereits nach Deutschland überspielt hatte. Auf ein paar Schnipseln des ungeschnittenen Rohmaterials war er selbst zu sehen, der Kameramann. Wie er sich mit der Producerin darüber unterhielt, auf welche Weise sich die überwältigende Natur Tasmaniens am besten einfangen ließe. Wann die beste Zeit zum Drehen war: Sonnenaufgang, Sonnenuntergang? Wann wäre das Licht am günstigsten? Katja hörte ihn. Sie sah ihn. Er lächelte, wirkte glücklich. Kein Wunder, dachte sie. Er tat, was er liebte. Rolf und die Redaktion machten ihr wenig Hoffnung, am Unglücksort noch irgendetwas von Martins Dingen zu finden. Was nicht in der Hitze der Flammen zu Asche geworden war, hatte die Wucht der Explosion weit in die unzugängliche Wildnis hineingeschleudert. Ein Bergungstrupp hatte eine Woche lang die Umgebung abgesucht und dabei seinen Ehering entdeckt. Dieser Fund war so unglaublich, dass Katja sich zwingen musste, nicht wie ihre Mutter von einem Wunder zu reden. Rolf brachte ihr dann dieses letzte Andenken. Die tasmanischen Behörden hatten ihn an die TV-Produktion nach Deutschland geschickt. Seither trug sie den schlichten Schmuck aus Weißgold an einer silbernen Kette um den Hals. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie unbewusst danach griff und das kühle Metall befühlte. Erst strichen ihre Finger über die äußere Delle, die eine Folge des Unfalls war, um dann innen der Gravur nachzuspüren. Du & Ich. Für immer. Katja & Michael. 11. Mai 2006. Neben seiner Reisetasche, die ihr ebenfalls aus Tasmanien zugeschickt wurde, und den Dingen, die Michael in ihrer Wohnung zurückgelassen hatte, war das alles, was ihr von ihm geblieben war. Wäsche, die nach ihm roch. Unzählige Fotos auf seinem Computer, der in seiner Arbeitsecke auf dem alten Holztisch stand. Seine Kameras, die Briefe. Katja spielte gedankenverloren mit dem Schmuck. Papua- Neuguinea war gar nicht weit von Australien entfernt. Sie könnte die Reise zu diesem Beerdigungszeremoniell mit einer Reise nach Tasmanien verbinden. Vielleicht war die Zeit gekommen, endgültig Abschied zu nehmen.


Originalausgabe Juli 2013 Knaur Taschenbuch © 2013 Knaur Taschenbuch Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München