Die Tochter der Midgardschlange Die Asgard-Saga

Die Tochter der Midgardschlange  Die Asgard-Saga
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Produktbeschreibung

Als Burg Ellsbusch von den Normannen angegriffen wird, muss Katharina um ihr Leben rennen. Doch ausgerechnet der Wikingerjunge Ansgar rettet sie. Auf der gemeinsamen Flucht begreifen die beiden: Sie müssen ein uraltes Geheimnis lüften.
 

Klappentext zu „Die Tochter der Midgardschlange“

Burg Ellsbusch am Rhein brennt und Katharina rennt um ihr Leben. Auf ihrer Flucht wird das Mädchen von den Wikingern, die den Friedenspakt gebrochen haben, aufgegriffen. So gerät sie in erbitterte Auseinandersetzungen, begegnet einer großen
Liebe und muss das Geheimnis der Midgardschlange lösen ...

Autoren-Porträt

Wolfgang Hohlbein, geb. 1953 in Weimar geboren, ist der meistgelesene und erfolgreichste deutschsprachige Fantasy-Autor. Seine Bücher decken die ganze Palette der Unterhaltungsliteratur ab von Kinder- und Jugendbüchern über Romane und Drehbücher zu Filmen, von Fantasy über Sciencefiction bis hin zum Horror. Der Durchbruch gelang ihm 1982 mit dem Jugendbuch 'Märchenmond', für das er mit dem Fantastik-Preis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet wurde. 1993 schaffte er mit seinem phantastischen Thriller 'Das Druidentor' im Hardcover für Erwachsene den Sprung auf die Spiegel-Bestsellerliste. Die Auflagen seiner Bücher gehen in die Millionen und immer noch wird seine Fangemeinde Tag für Tag größer. Der passionierte Motorradfahrer und Zinnfigurensammler lebt zusammen mit seiner Frau und Co-Autorin Heike, seinen Kindern und zahlreichen Hunden und Katzen am Niederrhein.

 

Lese-Probe

Die Tochter der Midgardschlange von Wolfgang Hohlbein


Die Festung brannte wie eine riesige Fackel. Dabei sollte sie doch eigentlich unbesiegbar sein. Wenigstens war Katharina im festen Glauben an die Unbezwingbarkeit von Burg Ellsbusch aufgewachsen, und noch vor einer Stunde hätte keine Macht des Himmels und der Erde ihren Glauben an diese Unbesiegbarkeit erschüttern können. Burg Ellsbusch war das gewaltigste Bauwerk, das sie jemals gesehen hatte, und sie vermutete sogar, das gewaltigste des ganzen Landes, wenn nicht gar der ganzen Welt. Allein der riesige Donjon mit seinen vier Stockwerken maß gut und gerne zehn Manneslängen, und die Palisadenwand, die die Hügelkuppe umgab, war beinahe halb so hoch. Graf Ellsbusch hatte eine Armee von zwei Dutzend Männern ständig unter Waffen, mächtige Krieger mit Kettenhemden, Helmen und Schwertern, und obwohl Katharina gehört hatte, dass manche der Fürsten im Osten über noch größere Heere und reichere Ländereien mit mehr Leibeigenen geboten, so hatte doch zweifellos keiner von ihnen etwas wie Burg Ellsbusch, die mit ihrer doppelten Palisadenwand und den vier mächtigen, hölzernen Wachtürmen das Land in weitem Umkreis beherrschte und sowohl ihren als auch den Bewohnern des gleichnamigen Dorfes Sicherheit und Schutz vor jeder nur vorstellbaren Gefahr bot. Selbst der schlimme Sturm, den Gott im vergangenen Winter geschickt hatte, um die Menschen im Dorf für ihr ausschweifendes Leben und ihre Missachtung seines Willens zu bestrafen und der jedes dritte Haus im Dorf zerstört und selbst die aus festem Stein erbaute Kirche beschädigt hatte, hatte dieser gewaltigen Festung nichts anhaben können.

Jetzt aber hatte sich Burg Ellsbusch in einen gewaltigen Scheiterhaufen verwandelt, dessen Flammen hoch genug zu schlagen schienen, um den Himmel selbst zu versengen. Vor wenigen Augenblicken erst war der Donjon mit einem Getöse zusammengebrochen, das noch bis ins Dorf hinunter zu hören gewesen sein musste, und einen Funkenschauer speiend, der einfach nicht aufhören wollte zu wachsen, bis es aussah, als wäre das ganze Firmament durchlöchert und als regne Feuer aus unzähligen Nadelstichen.

Vielleicht hatten Himmel und Hölle ja ihren Platz getauscht, dachte Katharina, und dieser Feuerregen würde nie mehr aufhören, sondern immer nur noch schlimmer und schlimmer werden, bis er am Schluss die ganze Welt in Brand gesetzt hätte. Und vielleicht würde auch diese Nacht nie wieder enden, weil es in Wahrheit gar keine Nacht war, sondern der Beginn des Jüngsten Tages, von dem Vater Cedric erzählt hatte.

Und das alles war ihre Schuld.

Als wenn aus diesem schrecklichen Gedanken Gewissheit werden sollte, taumelte in diesem Moment eine brennende Gestalt auf sie zu, kein Mensch, sondern ein Dämon aus den tiefsten Tiefen der Hölle, vielleicht sogar der Teufel selbst, der gekommen war, um sie für ihr schreckliches Tun zu bestrafen. Katharinas Herz setzte aus, um dann rasend schnell und so laut in ihrer Brust weiterzuhämmern, dass es sich wie der dröhnende Hufschlag eines ganzen Dutzends durchgehender Pferde anhörte. Angst schnürte ihr die Kehle zu wie eine eisige Hand, größere und schlimmere Angst, als sie je zuvor in ihrem ganzen Leben gespürt hatte. Sie lähmte sie, sodass sie einfach reglos stehenblieb und der lodernden Gestalt entgegensah. Wozu sollte sie auch weglaufen, wo es doch der Teufel persönlich war, der kam, um sie zu holen?

Die Gestalt torkelte weiter auf sie zu, schreiend und mit den Armen wedelnd wie ein brennender Engel, der seine Flügel entfaltete, und sie konnte die Hitze spüren, und in ihre Nase stieg der schreckliche Geruch von brennendem Haar und schmelzendem Fleisch.

Nur einen halben Atemzug, bevor diese grausame Gestalt sie erreichte und mit ihren grässlichen, brennenden Armen umschlingen konnte, tauchte eine zweite Gestalt wie aus dem Nichts neben ihr auf, sprang sie an und riss sie mit solcher Gewalt von den Füßen, dass sie aneinandergeklammert zu Boden stürzten und sich ein halbes Dutzend mal überschlugen.

Katharina prallte so heftig gegen einen verkohlten Balken, dass ihr auch noch das letzte bisschen Luft aus den Lungen gepresst wurde und sie benommen liegen blieb.

Als ihre Sinne zurückkehrten, taten sie es mit der Wucht eines Fausthiebes, aber der gegenteiligen Wirkung. Von einem Atemzug auf den anderen nahm sie ihre Umgebung mit schon beinahe unnatürlicher Klarheit und Schärfe wahr, als versuchten ihre Sinne ihr Fehlen von gerade eben nun mit umso größerer Emsigkeit wieder wettzumachen. Sie hörte das Prasseln und Brüllen der Flammen, Schatten und grelles rotes und gelbes Licht führten einen immer schneller werdenden Veitstanz rings um sie herum auf, und da war ein Chor gellender Schmerz- und Todesschreie überall. Der Dämon war immer noch da, nur dass es kein Dämon war, sondern etwas viel Schlimmeres: Einer von Graf Ellsbuschs Soldaten, dessen Kleider und Haut Feuer gefangen hatten und der nun nur wenige Schritte neben ihr auf die Knie sank, durch ein grausames Schicksal immer noch am Leben und immer noch vor Qual schreiend, obwohl er doch mit jedem Atemzug pures Feuer einatmete, das seine Lungen weiter verbrannte.

Und auch das war ihre Schuld, dachte sie entsetzt. Nichts von alledem wäre geschehen, hätte sie ihre Pflicht erfüllt und wäre nicht ...

Eine Hand packte sie an der Schulter und riss sie nicht nur so grob auf die Füße, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und zu schmerzen begannen, sondern auch endgültig in die Wirklichkeit zurück. Hitze und Lärm nahmen noch einmal zu und steigerten sich zu einem irrsinnigen Crescendo, und erst jetzt erkannte sie den Mann, der sie von den Beinen gerissen und ihr damit vermutlich das Leben gerettet hatte. Auch wenn sein Gesicht so mit Blut und Ruß besudelt war, dass er kaum noch Ähnlichkeit mit sich selbst zu haben schien.

»Herr!«, rief sie erschrocken. »Ihr ...«

Graf Ellsbusch versetzte ihr einen Stoß vor die Brust, der sie um ein Haar schon wieder zu Boden geschleudert hätte. »Was tust du hier, Junge?«, fuhr er sie an. »Bist du verrückt? Willst du, dass sie dich umbringen?«

»Herr!«, stammelte Katharina noch einmal. Ihre Augen füllten sich schlagartig mit Tränen, von denen sie sich vergeblich einzureden versuchte, dass sie nur von Hitze und Qualm stammten. »Bitte ... bitte verzeiht mir! Ich wollte das alles nicht, und ...«

Graf Ellsbusch hörte ihr gar nicht zu, sondern ergriff sie nur noch fester am Arm und zerrte sie einfach mit sich; während er so schnell losrannte, dass Katharina alle Mühe hatte, nicht schon wieder von den Beinen gerissen zu werden. »Weg hier!«, keuchte er. »Schnell! Bleib hinter mir, Junge, ganz egal, was passiert!«

Katharina hätte auch gar nichts anderes tun können, selbst wenn sie es gewollt hätte, denn Ellsbusch zerrte sie unbarmherzig weiter hinter sich her. Katharina hätte nicht einmal genau sagen können, in welche Richtung.

Wohin sie auch blickte, brannte es. Die Luft war so heiß, dass das Atmen wehtat, und es fiel ihr immer schwerer, klar zu sehen. Hinter ihnen erscholl ein gewaltiges Poltern und Krachen, als auch noch der Rest des Donjon zusammenbrach und sich endgültig in einen gewaltigen Scheiterhaufen verwandelte, ein riesiges, glühendes Grab für die unglückseligen Männer, die den Fehler begangen hatten, sich auf den vermeintlichen Schutz seiner Wände zu verlassen. Und auf sie.

Graf Ellsbusch stieß plötzlich ein erschrockenes Keuchen aus, machte einen raschen Schritt zur Seite und duckte sich hinter die qualmenden Reste eines zweirädrigen Karrens, der auf die Seite gefallen war. Der Esel, der ihn gezogen hatte, war noch angespannt und lag tot daneben, von gleich vier Pfeilen getroffen, deren abgebrochene Schäfte noch aus seinem Hals und seiner Flanke ragten. Der Anblick versetzte Katharina einen neuerlichen tiefen Stich, denn sie selbst hatte den Karren am Tag zuvor beladen und hier heraufgebracht.

Sie hatte jetzt kaum noch die Kraft, die Tränen zurückzuhalten. War denn wirklich alles, was sie berührte, zum Untergang verdammt?

»Still!«, zischte Graf Ellsbusch, obwohl sie weder etwas gesagt noch den geringsten Laut von sich gegeben hatte. »Wenn sie uns sehen, sind wir tot!« Seine Stimme klang rau von all dem Rauch, den er eingeatmet hatte, und bebte vor Anstrengung.

War das Angst, was sie darin hörte?, dachte Katharina. Aber das war unmöglich! Er war der Herr von Burg Ellsbusch, ihr aller Beschützer, der nichts und niemanden fürchtete!

Aber vielleicht galt das ja nur für die Gefahren dieser Welt. Die Festung jedoch wurde von Dämonen gestürmt, die direkt aus der Hölle kamen. Vater Cedric hatte recht gehabt, dachte sie entsetzt. Das Jüngste Gericht stand bevor, und die Hölle hatte ihre Tore geöffnet, um ihre schlimmsten Dämonen auf die Menschen loszulassen. Sie konnte sie sehen, ein gutes halbes Dutzend von ihnen, die sich vor dem gewaltsam aus den Angeln gerissenen Tor versammelt hatten und brüllten und kreischten, mehr als mannsgroße, struppige Riesen, so groß und scheinbar schwerfällig wie Bären, aber tausendmal gefährlicher. Sie hatten Waffen und Helme, und einige von ihnen schienen auch Hörner zu haben. Katharina war sich nicht sicher, ob sie das Peitschen eines Schwanzes sah, oder nur einen flatternden Mantel, doch ihre Stimmen waren ganz eindeutig die von Dämonen; guttural, laut und bellend konnten sie unmöglich aus menschlichen Kehlen stammen. Katharina begann zu weinen.

»Ich weiß, dass du Angst hast, Junge«, sagte Ellsbusch. »Ich habe auch Angst. Aber wir müssen still sein. Wenn sie uns sehen, bringen sie uns um!«

»Das ... das ist es nicht, Herr«, stammelte Katharina. »Es ist meine Schuld. Das ... das alles ist nur passiert, weil ich ...«

»Red nicht so einen Unsinn«, unterbrach sie der Edelmann, im Flüsterton, aber scharf. »Wenn überhaupt, dann ist es die Schuld dieses verdammten Pfaffen, der ...« Er sprach nicht weiter, sondern presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, der in seinem rußgeschwärzten Gesicht wie ein dünner Schnitt wirkte. Katharina sah erst jetzt, dass sein Wappenrock und auch das schwere Kettenhemd darunter zerrissen waren. Blut sickerte durch das Geflecht aus winzigen metallenen Ringen und ließ den Wappenrock dunkel und schwer werden.

»Gut«, sagte er schließlich. »Dafür ist später noch Zeit ... falls wir dann noch leben. Du musst mir helfen, Junge. Kannst du reiten? Und kennst du den Weg zu Burg Pardeville?«

Katharina schüttelte den Kopf, was als Antwort auf beide Fragen galt. Sie fragte sich, ob sie Ellsbusch sagen sollte, dass sie gar kein Junge war ... aber welchen Unterschied hätte das schon gemacht?

Und sie wäre auch gar nicht dazu gekommen. »Dann wirst du es lernen«, sagte Ellsbusch grimmig. »Und der Weg zur Burg ist ganz einfach. Drei Stunden die Küste entlang, und wenn du daran denkst, dass diese Kerle hinter dir her sein könnten, schaffst du es wahrscheinlich in zwei. Aber zuerst müssen wir hier raus, ohne dass sie uns sehen.« Einen Moment lang blickte er wieder zu der Dämonenhorde vor dem Tor. Sie brüllten und schnatterten noch immer wild durcheinander. Vielleicht hatten sie ja Gefangene gemacht, dachte Katharina schaudernd, und beratschlagten jetzt über die schrecklichsten Foltermethoden, um sie möglichst qualvoll vom Leben zum Tode zu befördern.

»Gut«, murmelte Graf Ellsbusch schwer atmend. »Komm mit. Bleib immer dicht hinter mir. Und keinen Laut, ganz egal, was auch passiert, hast du das verstanden?«

Katharina nickte stumm, und Graf Ellsbusch sah noch einmal kurz zu der schnatternden Dämonenhorde hin und huschte dann geduckt los - zu Katharinas Entsetzen nicht zum Ausgang, sondern zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Katharina vermied es, den Leichnam des Mannes anzusehen, der gerade vor ihren Augen verbrannt war, aber das fettige Prasseln und Zischen der Flammen und der grässliche Geruch drangen trotzdem zu ihr durch.

Geschickt jeden Schatten und jedes noch so kleine Hindernis als Deckung nutzend, führte sie Graf Ellsbusch um den zusammengebrochenen Donjon herum zu einem kleinen Schuppen auf der anderen Seite. Mehrmals mussten sie reglosen Körpern ausweichen und einmal sogar darüber hinwegsteigen, um nicht in das verräterische Licht der Flammen zu geraten. Die Spuren der Kämpfe waren hier nicht ganz so schlimm wie auf der anderen Seite, aber dennoch unübersehbar - überall brannte und schwelte es, Funken erfüllten die Luft wie Schwärme aus unzähligen glühenden Insekten, und das Atmen geriet mit jedem Moment mehr zur Qual. Auch der Schuppen, zu dem Ellsbusch sie führte, war nicht unbeschädigt geblieben. Sein Strohdach war weggebrannt, und gleich hinter der Tür trat sie in eine klebrige Pfütze, die nach heißem Blut stank. Es war so dunkel, dass man nicht einmal mehr die sprichwörtliche Hand vor Augen sehen konnte, und es verging eine Weile, in der Ellsbusch gedämpft und hektisch in der Dunkelheit hantierte, bevor er zurückkam und Katharina unsanft am Arm packte und in die Schwärze hineinzerrte. Verbranntes Holz schrammte über ihren Nacken und den schmerzenden Rücken, und ein gutes Stück musste sie auf Händen und Knien kriechen, und das durch so vollkommene Dunkelheit, dass ihr Herz noch schneller schlug und die Angst fast übermächtig wurde.

Gerade als sie glaubte, es nun gar nicht mehr auszuhalten, waren sie hindurch, und es wurde wieder hell. Rotes Licht hüllte sie ein, aber auch ein neuerlicher Funkenschwarm, der sich auf ihr Haar und jedes Fleckchen ungeschützte Haut herabsenkte und wie mit tausend winzigen, glühenden Zähnen hineinbiss.

Sie waren jetzt außerhalb der inneren Palisade. Der Himmel über ihnen loderte noch immer in einem düsteren Höllenrot, und der Gestank nach brennendem Holz und verschmortem Fleisch war überwältigend. Zu Angst und Schmerzen und allem anderen gesellte sich jetzt auch noch Übelkeit, die in Wellen aus ihrem Magen emporstieg, und unter ihrer Zunge sammelte sich saurer Speichel, und das beinahe schneller, als sie ihn herunterschlucken konnte.

»Spuck es aus«, sagte Ellsbusch. »So machst du es nur schlimmer.«

Katharina sah ihn einen Moment lang irritiert an. Las Ellsbusch ihre Gedanken?

Sie gehorchte widerwillig und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass es tatsächlich half. Die Übelkeit verschwand nicht, wurde aber wenigstens nicht noch schlimmer.

»Hör mir zu, Junge«, fuhr Graf Ellsbusch fort. »Das ist jetzt wichtig! Lauf ins Dorf hinunter. Besorg dir ein Pferd oder meinetwegen einen Esel und reite zu Burg Pardeville. Sag dort Bescheid, was hier geschehen ist. Sie sollen alle Männer zusammentrommeln, die sie finden können, und herkommen! Kannst du dir das merken?«

Katharina nickte zwar, aber sie versuchte jetzt erst gar nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten. Sie fühlte sich unbeschreiblich elend. »Wollt Ihr mir wirklich noch einmal vertrauen, Herr?«, brachte sie irgendwie heraus.

Ellsbusch runzelte die Stirn, legte den Kopf auf die Seite und sah sie auf eine neue Art an. »Du bist aus dem Dorf, nicht wahr?«

Katharina nickte. Wie konnte es sein, dass Graf Ellsbusch sie nicht erkannte, wo er sie doch selbst vor wenigen Stunden erst zur Wache eingeteilt und die Katastrophe damit zumindest indirekt selbst ausgelöst hatte?

»Wir reden später über alles«, fuhr er fort. »Aber nun komm! Uns rennt die Zeit davon!«

Wahrscheinlich wollte er nicht darüber reden, dachte Katharina, weil er sich wohl selbst einen Teil der Schuld gab. Geduckt und ein wenig humpelnd huschte er los, und Katharina folgte ihm.

Von der nahezu totalen Zerstörung, der Burg Ellsbusch anheimgefallen war, war hier draußen kaum etwas zu sehen. Das äußere Tor stand weit offen, aber die Palisade selbst war vollkommen unversehrt. Ohne die beiden erschlagenen Wachen neben dem Tor wäre der Anblick beinahe friedlich gewesen.

Umso gefährlicher war es, den Raum zwischen den beiden Palisaden zu überwinden. Der Boden war so abschüssig, dass es sie ihr gesamtes Geschick kostete, sich auf den Beinen zu halten. Zu allem Überfluss wuchs dort nasses Gras, was den Boden kaum weniger schlüpfrig als Schmierseife werden ließ. Und es gab nicht die geringste Deckung. Wenn sich auch nur einer der Dämonen zu ihnen herumdrehte, dann musste er sie einfach sehen.

Doch sie hatten Glück. Gott und das Schicksal - oder einfach nur der Zufall - waren ausnahmsweise auf ihrer Seite. Sie erreichten das Tor unbehelligt und huschten hindurch, und Ellsbusch schubste sie unsanft in den schwarzen Schlagschatten neben dem Tor. Katharina hörte ein gedämpftes Scharren, als er sein Schwert zog.

»Du hast alles verstanden, was ich dir gesagt habe?«

Katharina nickte, und Ellsbusch wedelte ungeduldig mit seinem Schwert. »Lauf los! Ich bleibe hier und sehe, ob noch ein paar von meinen Männern am Leben sind. Vielleicht können wir sie aufhalten, bis Pardeville mit seinen Soldaten hier ist!«

Vielleicht hätte er noch mehr gesagt, doch er kam nicht mehr dazu, denn plötzlich spie die Dunkelheit hinter ihm einen riesigen, struppigen Schatten aus, der sich unverzüglich auf ihn warf. Ein tierisches Brüllen erklang, und das rote Licht vom Himmel spiegelte sich auf der Schneide einer gewaltigen, doppelklingigen Axt. Ellsbusch registrierte die Gefahr im allerletzten Moment, fuhr herum und riss das Schwert in die Höhe, doch er war nicht schnell genug. Mit einem grässlichen Knirschen grub sich die Axt tief in seine Schulter, und aus dem überraschten Keuchen des Burgherrn wurde ein gequälter Schrei. Er brach in die Knie, aber sein Schwert bewegte sich weiter und durchbohrte den Unterleib des Angreifers. Der Dämon grunzte überrascht, ließ seine Axt los und stolperte zwei oder drei Schritte zurück, bevor er langsam in die Knie ging und dann auf die Seite fiel.

Auch Graf Ellsbusch stürzte, rollte mit einem dumpfen Stöhnen auf die Seite und presste die Hand auf die klaffende Wunde in seiner Schulter. Blut sprudelte wie rot gefärbtes Wasser zwischen seinen Fingern hervor, und er presste die Kiefer so fest aufeinander, dass Katharina seine Zähne knirschen hörte.

Mit einem einzigen Satz war sie neben ihm und auf den Knien. »Herr!«, keuchte sie. »Um Gottes willen! Was ist denn mit ...?«

»Geh!«, stöhnte Ellsbusch. »Tu, was ... ich dir gesagt ... habe!«

Katharina beugte sich nur weiter über ihn, griff nach seiner Schulter und prallte entsetzt zurück, als Ellsbusch vor Schmerz aufschrie und sich wand. Verzweiflung ergriff sie, und sie fühlte sich so hilflos, dass es beinahe körperlich wehtat.

»Geh!«, wimmerte Ellsbusch. »Warne ... die anderen!«

Und endlich schüttelte Katharina ihre Starre ab, sprang auf und rannte los, so schnell sie nur konnte.

Im allerersten Moment stürmte sie einfach blindlings drauflos, ganz egal in welche Richtung, nur fort von diesem Ort des Schreckens und tiefer hinein in die beschützende Dunkelheit. Mindestens ein halbes Dutzend Mal stolperte sie über ein Hindernis, das sie in der Dunkelheit zu spät sah, und zweimal stürzte sie, rappelte sich aber sofort wieder auf und stolperte weiter.

Der dritte Sturz schließlich war so hart, dass eine Woge aus reinem Schmerz hinter ihren Augen explodierte und sie beinahe das Bewusstsein verloren hätte.

Vielleicht geschah es sogar, denn als sie wieder imstande war, mehr als Schmerzen und das rasende Hämmern ihres Pulsschlags wahrzunehmen, spürte sie, dass Zeit vergangen war, auch wenn sie nicht sagen konnte, wie viel. Stöhnend setzte sie sich auf, fuhr sich mit dem Handrücken durch das Gesicht und registrierte erschrocken das warme Blut, das sie sich über Stirn und Wange schmierte. Sie musste sich verletzt haben.

Dann durchfuhr sie ein heißer Schrecken, als sie begriff, dass es Graf Ellsbuschs Blut war, dessen klebrige Wärme sie auf dem Gesicht spürte, nicht ihres.

War er tot? Ein Teil von ihr weigerte sich einfach, diesen Gedanken auch nur zu denken, denn der Herr von Burg Ellsbusch konnte nicht sterben, nicht ein so mächtiger Krieger, der siegreich aus zahllosen Schlachten heimgekehrt und sicher schon schlimmer verwundet worden war. Aber da war auch all das Blut an ihren Händen, und sie konnte auch das schreckliche Geräusch einfach nicht vergessen, mit dem die Axt des Dämons seine Schulter gespalten hatte ...

Sie schüttelte den Gedanken ab, setzte sich weiter auf und wischte sich die Hände im Gras sauber, so gut sie konnte, bevor sie ganz aufstand und sich umsah, um sich zu orientieren.

Katharina erschrak, als sie sah, wie nahe sie der brennenden Burg noch war. Ihr Gefühl wollte ihr weismachen, dass sie meilenweit gerannt war, doch in Wahrheit hatte sie kaum den Hügel hinter sich gelassen, auf dem Burg Ellsbusch thronte - oder um genauer zu sein: loderte. Von hier aus betrachtet gab es keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem Inbegriff von Stolz und Wehrhaftigkeit, als die sie die Burg zeit ihres Lebens gesehen hatte. Die Flammen griffen jetzt immer schneller um sich und hatten inzwischen auch von der Palisadenwand Besitz ergriffen, und Katharina wurde mit einem Gefühl sonderbar benommenen Schreckens klar, dass Burg Ellsbusch nicht mehr existierte. Falls die Sonne noch einmal aufging, würde ihr Licht nicht mehr als einen brandgeschwärzten Hügel bescheinen.

Und vielleicht ihren eigenen Leichnam, wenn sie nicht bald verschwand.

Katharina erinnerte sich an Graf Ellsbuschs letzte Worte, und plötzlich wurde ihr klar, dass ihr der Herr von Burg Ellsbusch nicht einfach nur einen Auftrag erteilt, sondern ihr eine Möglichkeit gegeben hatte, ihren schrecklichen Fehler wiedergutzumachen. Sie musste Lord Pardeville und seine Soldaten alarmieren, und vor allem das Dorf warnen. Wenn die Dämonen diese gewaltige Burg einfach überrannt hatten, welche Chance hatten dann die ahnungslosen Dorfbewohner?

Katharina blieb noch einen Moment mit geschlossenen Augen stehen und lauschte, aber alles, was sie hörte, waren das Prasseln der Flammen und die mannigfaltigen Geräusche des Waldes, der am Fuße des Hügels begann. In ihrer Panik war sie in die falsche Richtung gerannt, sodass sie ein gutes Stück auf ihrer eigenen Spur zurückgehen musste, bevor sie den Weg erreichte. Wenn sie dem Weg durch den Wald folgte, das wusste sie, dann würde sie das Dorf in einer guten halben Stunde erreichen; schneller, wenn sie rannte. Aber alles in ihr warnte sie davor. Die Dämonen mochten grausam sein, aber sie waren gewiss nicht dumm. Wenn sie sich entschieden, auch das Dorf anzugreifen - was Graf Ellsbusch angenommen zu haben schien -, dann war die Gefahr einfach zu groß, ihnen geradewegs in die Arme zu laufen. Geradewegs durch das Unterholz wäre die Strecke kürzer, aber das Gestrüpp war so dicht und das Gelände so unwegsam, dass sie mindestens doppelt so lange brauchen würde, um das Dorf zu erreichen.

Sie entschloss sich zu einem Kompromiss, indem sie zwar dem Fuhrweg gerade noch in Sichtweite folgte, trotzdem aber durch den Wald ging, und sie war noch nicht lange unterwegs, als sie Geräusche hörte und anhielt und sich im nächsten Moment zu ihrer eigenen Umsicht beglückwünschte, denn sie hatte ihr mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet.

Es waren Dämonen, mindestens ein halbes Dutzend, wenn nicht mehr, die ihr zu ihrem Entsetzen aus Richtung des Dorfes entgegenkamen. Katharina erstarrte für einen Moment, ließ sich dann auf beide Hände und ein Knie herabsinken und erstarrte nicht nur endgültig zur Reglosigkeit, sondern stellte sogar das Atmen ein, während die Gruppe an ihr vorbeizog. Es waren sieben, wie sie jetzt erkannte, und hätte sie überhaupt noch Zweifel gehabt, so hätte ihr spätestens dieser Anblick bewiesen, dass es sich tatsächlich um Dämonen handelte. Jeder Einzelne von ihnen war ein Riese, mindestens eine Handspanne größer als ein Mensch, wenn nicht mehr. Sie waren unglaublich massig, wie Bären, aber viel bedrohlicher, und hatten struppiges Fell, das wie Draht von ihren Leibern abstand. Mindestens zwei von ihnen hatten tatsächlich Hörner, und alle waren mit bizarren Waffen ausgestattet: Schwertern - natürlich - aber auch Beilen, schrecklichen Stachelkeulen und anderen, ihr vollkommen unbekannten Waffen, die einfach nur erschreckend aussahen. Auch ihre Stimmen waren eindeutig nicht die von Menschen. Katharina hörte etwas, das wie ein raues Lachen klang, ihre Seele aber wie ein Hauch aus der Hölle berührte.

Erst, als die Dämonenhorde an ihr vorbeigegangen und schon fast außer Hörweite war, wagte es Katharina, wieder zu atmen und einen weiteren Moment darauf - vorsichtig - aufzustehen. Ihr Herz hämmerte so laut, dass die Dämonen es eigentlich hätten hören müssen, und auf ihrer Zunge war plötzlich der bittere Geschmack der Niederlage; wieder einmal.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Die Dämonen waren aus Richtung des Dorfes gekommen. Was, wenn sie schon dort gewesen waren?

Katharina versuchte sich damit zu beruhigen, dass es keinen Grund dafür gab. Die Menschen im Dorf lebten ein gottesfürchtiges Leben, ganz egal, was Vater Cedric auch Sonntag für Sonntag von seiner Kanzel predigte. Gott hatte keinen Grund, sie so zu bestrafen.

Aber sie hatte sie gesehen.

Sie rang noch einen Moment lang mit sich selbst (genauer gesagt mit ihrer Angst), ging dann wieder zum Weg zurück und rannte los, kaum dass sie aus dem Unterholz heraus war, das wie mit tausend dürren, dornigen Fingern an ihrem Haar und ihren Kleidern zerrte. Vielleicht lief sie auf diese Weise den Dämonen direkt in die Arme und starb, aber vielleicht gewann sie so auch genau die wenigen kostbaren Augenblicke, die über Leben und Tod des gesamten Dorfes entschieden.

Sie beschloss, ihr Schicksal endgültig in Gottes Hand zu legen und das Risiko einzugehen, und rannte los.

*

Das Dorf lag ein Stück landeinwärts hinter der Burg. Früher einmal hatte es direkt am Wasser gelegen, sodass man mit nur wenigen Schritten das Ufer erreichen konnte, was sehr praktisch gewesen war, hatten seine Bewohner damals doch hauptsächlich vom Fischfang gelebt. Aber das war so lange her, dass sich selbst die Alten im Dorf kaum noch daran erinnerten. Die Fische waren nach und nach weniger geworden, und die Menschen hatten angefangen, Felder anzulegen und Vieh zu züchten. Schließlich, nachdem das Dorf dreimal hintereinander von Hochwasser und Stürmen heimgesucht worden war, die nicht nur großen Sachschaden angerichtet, sondern sogar Menschenleben gefordert hatten, waren seine Bewohner kurzerhand mit Sack und Pack eine gute Meile weiter landeinwärts gezogen und hatten ihre Heimat dort wieder neu aufgebaut. Heutzutage lagen nur noch eine Handvoll kleiner Fischerboote hier, die meisten davon so vernachlässigt und heruntergekommen, dass es kaum noch jemand wagte, damit aufs Wasser hinauszurudern.

Und dann war da natürlich noch der Drache.

Katharina hatte nie wirklich an Drachen geglaubt. Die alten Geschichten und Märchen wimmelten von ihnen, und manchmal erzählten die Alten abends am Feuer von den Abenteuern, die sie erlebt hatten, als sie selbst jung gewesen waren; Abenteuer, die meist in fremden Ländern spielten und in denen manchmal auch Drachen und andere, noch viel absonderlichere Ungeheuer vorkamen. Noch bis zum vergangenen Abend war Katharina davon überzeugt gewesen, dass sie samt und sonders ausgedacht waren, nichts weiter eben als spannende Geschichten.

Aber das war gestern gewesen.

Seither hatte sie gesehen, wie eine Armee von Dämonen Burg Ellsbusch in Schutt und Asche gelegt und alle seine Bewohner erschlagen hatte, und nun blickte sie auf den Fluss hinab und sah einen leibhaftigen Drachen. Er war riesig, mindestens zehnmal so lang wie die kleinen Fischerboote, die er rücksichtslos zur Seite gedrängt hatte. Es war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen, denn am Himmel waren schwere Wolken aufgezogen, als ertrügen selbst die Sterne den Anblick des Leides nicht mehr, das über die Menschen gekommen war.

Dennoch sah sie beinahe mehr, als ihr lieb war. Der Drache hatte einen schlanken, aber massigen Leib und unzählige dürre Beine, auf denen er sich im seichten Uferwasser niedergelassen hatte, aber er schlief nicht, wie man hätte meinen können, sondern hatte Hals und Kopf aufmerksam emporgereckt, und Katharina glaubte den Blick seiner unsichtbaren Augen regelrecht spüren zu können. Gewiss entging ihnen nicht die kleinste Bewegung, und ebenso zweifellos wartete das Ungeheuer nur darauf, eine Beute an Land zu erspähen, auf die es sich stürzen und die sie verschlingen konnte.

Katharina hatte sich diesen Aussichtspunkt nicht willkürlich ausgesucht. Das Ufer war hier nicht flach und allenfalls von einer kleinen Böschung gesäumt. Vor langer Zeit hatte sich der Fluss hier seinen Weg durch einen Berg gegraben, sodass eine bröckelige Steilküste entstanden war, an dieser Stelle beinahe hundert Ellen hoch. Aber Katharina war ganz und gar nicht sicher, dass sie der Drache nicht selbst hier oben erwischen würde, wenn sie unvorsichtig war oder gar ein verräterisches Geräusch verursachte.

Und wenn nicht er, dann das halbe Dutzend Dämonen, das neben ihm am Strand herumlungerte.

Katharina konnte nicht erkennen, was sie taten, aber der böige Wind trug manchmal den rauen Klang ihrer Stimmen zu ihr herauf, und sie hörte sie jetzt ganz eindeutig lachen. Sie hatten keine Furcht, und warum auch, mit einem solchen Ungeheuer auf ihrer Seite?

So behutsam, wie sie überhaupt konnte, schob sich Katharina rückwärts von der Kante zurück und stand erst auf, als sie ganz sicher war, vom Fluss aus nicht mehr gesehen werden zu können. Ihr Herz raste, und sie spürte erst jetzt, wie sehr ihre Knie zitterten und wie scharf jeder einzelne Atemzug in ihre Kehle schnitt. Der unglaubliche Anblick dort unten hatte sie ihre Erschöpfung für einen Moment schlichtweg vergessen lassen, aber Tatsache war, dass sie nur Halt gemacht hatte, weil sie einfach nicht weiterkonnte. Sie war so schnell gerannt wie noch nie zuvor in ihrem ganzen Leben, aber eine halbe Meile vor dem Dorf hatten sie einfach die Kräfte verlassen, und so hatte sie den Drachen gesehen.

Drachen ... Allein das Wort jagte ihr schon wieder einen eisigen Schauer über den Rücken, Drachen und Dämonen, die brandschatzten und mordeten. Was würde sie wohl noch erleben, bevor diese Nacht zu Ende ging? Sie war in eine Welt finsterer Wunder eingetreten, in der der Schrecken kein Ende mehr zu nehmen schien. Vater Cedric hatte Recht gehabt, dachte sie schaudernd. Es gab Dinge, die sich ein Mensch nicht einmal vorstellen konnte. Aber mussten es denn ausnahmslos schlimme Dinge sein?

Katharina schüttelte den Gedanken mit einiger Mühe ab, richtete sich vorsichtig auf und setzte ihren Weg fort, und immerhin erschienen keine Dämonen aus dem Nichts, um sie zu töten, und auch das Dorf empfing sie nicht mit neuen Schrecken, als sie es endlich erreichte. Wenigstens brannte es nicht, sondern lag dunkel und scheinbar friedlich unter ihr, als sie in Sichtweite kam. Nichts rührte sich. Zu ihrer maßlosen Erleichterung sah sie keine Dämonen, sie hörte keinen Schlachtenlärm, und nirgends brannte es. Tatsächlich war es vielleicht sogar zu still. Nicht einmal das ewige Licht in der Kirche brannte, obwohl Vater Cedric doch so sorgsam darauf achtete, den Docht der kleinen Öllampe niemals verlöschen zu lassen.

Etwas stimmte hier nicht.

Katharinas Schritte wurden langsamer, je näher sie dem ersten der Handvoll einfacher Gebäude kam. Es war still, viel zu still, selbst für diese fortgeschrittene Stunde. Nicht einmal aus den Ställen drang auch nur der geringste Laut an ihr Ohr. Ihr Herz klopfte.

Beinahe auf Zehenspitzen näherte sie sich dem ersten Haus, hielt vor der aus nur drei Stufen bestehenden Treppe noch einmal inne und legte dann behutsam die flache Hand auf die Tür. Quietschend schwang sie auf ihren ledernen Angeln nach innen, und vollkommene Dunkelheit und der Gestank nach Gewalt und Tod schlugen ihr entgegen.

Da es das erste war, erschien ihr dieses Haus als das schlimmste, doch im Grunde unterschied es sich nicht von dem Dutzend weiterer Häuser, die sie der Reihe nach und fast akribisch durchsuchte. Es war überall dasselbe: Sie alle waren tot. Die Dämonen hatten keine Gnade walten lassen, weder Männern noch Frauen noch Kindern oder Alten gegenüber. Selbst die Tiere waren den Schwertern und Keulen der höllischen Heerscharen zum Opfer gefallen. Sie war zu spät gekommen. Graf Ellsbusch hatte ihr aufgetragen, die Menschen hier zu warnen, und sie hatte zum zweiten Mal versagt. In diesem Dorf lebte nichts mehr.

Bitterkeit überkam sie, als sie aus dem letzten Haus trat und sich der gedrungenen, steinernen Kirche im Zentrum zuwandte. Sie verstand jetzt, warum sie noch lebte. Gott hatte gewollt, dass sie all das hier sah. Zweifellos hatte er selbst den Dämon daran gehindert, sie zu töten, damit sie hierherkam und mit eigenen Augen sah, welch entsetzlichen Preis die Menschen hier für ihr Versagen bezahlt hatten. Die zweigeteilte Tür stand weit offen, und die Dunkelheit war hier drinnen nicht ganz so vollkommen wie in den meisten anderen Häusern, gab es doch auf jeder Seite drei schmale, aber sehr hohe Fenster, durch die das bleiche Nachtlicht hereinströmte. Auf jeden Fall war es hell genug, um sie erkennen zu lassen, was die Dämonen diesem heiligen Ort und vor allem seinem Beschützer angetan hatten. Der einfache, hölzerne Altar war umgestürzt und zerstört, und das mehr als mannshohe Kreuz war umgefallen und lag auf dem Boden. Es sah irgendwie ... falsch aus, aber erst, als Katharina es schon halb erreicht hatte, sah sie, warum.

Es war nicht nur das Kreuz, das auf dem Boden lag. Sein Herr und Beschützer lag mit ausgebreiteten Armen auf ihm, und Katharina konnte frisches Blut riechen und - als sie näher kam - ein gedämpftes Stöhnen hören. Dann, als sie noch näher kam, entrang sich auch ihren Lippen ein ähnlicher Laut, als sie sah, wie grausam die Dämonen den heiligen Mann bestraft hatten. Sie hatten ihn nicht mit Schwert oder Keule niedergestreckt, sondern das düstere Versprechen des Kreuzes wahr gemacht, indem sie seine Hände und Füße daran festgenagelt hatten.

»Oh mein Gott«, hauchte Katharina. Sie merkte nicht einmal, dass sie neben Vater Cedric auf die Knie sank und die Hände nach ihm ausstreckte, ohne dass sie indes den Mut aufbrachte, ihn wirklich zu berühren.

»Das ... das wollte ich nicht!«, stammelte sie. »Vater, glaubt mir ... das alles wollte ich nicht.«

Im ersten Moment war es, als hätte Vater Cedric sie gar nicht gehört. Er lag mit geschlossenen Augen da und stöhnte, begleitet von einem schrecklich rasselnden Atmen. Dann jedoch drehte er mühsam den Kopf und sah Katharina an, und sein verschleierter Blick klärte sich.

»Du?«, brachte er mühsam hervor. »Du ... lebst?«

Warum hatte sie das Gefühl, dass diese Worte vorwurfsvoll klangen? Und was war das, was sie in Vater Cedrics Augen las?

»Bitte vergebt mir, Vater«, stammelte Katharina. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie hatte jetzt nicht einmal mehr Tränen. »Sie ... sie sind alle tot. Sie haben sie alle ... alle erschlagen. Die Festung brennt, und Graf Ellsbuschs Männer sind alle tot. Und ... und ich glaube, Graf Ellsbusch auch.«

»Du!«, keuchte Vater Cedric noch einmal »Du verdammtes, unglückseliges Kind! Warum ...«

»Es tut mir so leid, Vater«, flüsterte Katharina. »Ich wollte das nicht. Bitte, glaubt mir!«

»Du!«, sagte der Priester zum dritten Mal, und diesmal klang es ganz eindeutig wie ein Fluch. »Gott verfluche den Tag, an dem du zu uns gekommen bist!« Und damit sank sein Kopf endgültig zurück, und sein Atem wurde flacher und verebbte schließlich ganz.

Nun war sie endgültig die letzte Überlebende.

Seltsam - der Schmerz, auf den sie wartete, kam nicht. Katharina begriff nur mit gnadenloser Klarheit, dass alles zerstört und jeder einzelne Mensch tot war, den sie jemals gekannt hatte. Und es war auch genauso, wie sie selbst gerade schon einmal gedacht hatte: Dass sie selbst noch am Leben war, war keine Gnade, sondern die Strafe des unbarmherzigen Gottes, von dem ihr Vater Cedric zeit ihres Lebens erzählt hatte. Sie hatte gesehen, was ihre Fahrlässigkeit angerichtet hatte, und nun war es an ihr, es zu Ende zu bringen.

Ihr Blick fiel auf etwas Glitzerndes, das neben dem gekreuzigten Priester auf dem Boden lag. Es war ein Messer mit einem sonderbar fremdartig anmutenden Griff und einer langen, beidseitig geschliffenen Klinge, und sie streckte zögernd die Hand danach aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. Selbstmord kam nicht infrage, denn das wäre eine der sieben Todsünden gewesen, und Katharina mutmaßte zu Recht, dass sie schon genug Schuld auf ihre Seele geladen hatte, dass es für die eine oder andere Ewigkeit der Verdammnis reichte.

Doch es gab noch einen anderen Weg.

Nachdem sie das Vaterunser gemurmelt hatte - das einzige Gebet, das sie kannte -, stand sie auf, verließ die Kirche und wandte sich in die Richtung, aus der sie vorhin gekommen war. Selbst wenn die Dämonen nicht mehr unten am Strand waren, würde sie sich eben dem Drachen opfern und sich von seinem Feuer verbrennen lassen.

Sie musste nicht weit gehen. Katharina hatte das Dorf gerade erst ein paar Schritte hinter sich gelassen, als sie Hufschlag hörte, der rasch näher kam. Plötzlich war die Angst wieder da, und ein Teil von ihr wollte einfach herumfahren und davonrennen, so schnell sie nur konnte.

Stattdessen tat sie genau das Gegenteil und blieb stehen. Selbst wenn sie den Dämonen entkommen könnte - wohin sollte sie gehen? Es gab niemanden mehr, den sie kannte, und keinen Ort, wohin sie noch gehen konnte. Also kämpfte sie ihre Furcht nieder und wartete.

Der Hufschlag wurde lauter, und nur einen Moment später sah sie eine Anzahl Schatten, die rasend schnell auf sie zusprengten.

Sie waren keine Dämonen, auf ihre Weise aber kaum weniger erschreckend: fünf, sieben, schließlich neun gewaltige Schlachtrösser, auf deren Rücken schwer gepanzerte Ritter saßen. Rasend schnell kamen sie näher, kreisten sie ein und brachten ihre Tiere mit groben Bewegungen zum Stehen. Zwei oder drei Speere richteten sich drohend auf sie, und Schwerter wurden scharrend aus ihren Umhüllungen gezogen.

»Rühr dich nicht!«, herrschte sie eine raue Stimme an. »Eine Bewegung, und du bist tot!«

Katharina hatte nicht vorgehabt, sich zu rühren. Sie hatte auch keine Angst mehr, sondern musste mit einem Gefühl kämpfen, das ihr vollkommen fremd, auf seine Weise aber beinahe noch schlimmer war: Sie würde nicht sterben, denn bei den Reitern handelte es sich nicht um Dämonen, sondern um schwer gepanzerte Ritter. Nicht einmal die Gnade des Todes sollte ihr gewährt werden.

Einer der Reiter beugte sich im Sattel vor, zog sein Schwert und richtete die Klinge drohend auf Katharinas Gesicht. »Wer bist du, Junge? Und was ist hier geschehen?«

Es war dieselbe Stimme, die sie gerade schon einmal gehört hatte, auch wenn sie nur dumpf und kaum verständlich unter dem geschlossenen Visier hervordrang. Der Reiter war sehr groß, mindestens so groß wie Graf Ellsbusch, wenn nicht größer, und ungemein breitschultrig. Er trug Helm, Kettenhemd, eiserne Beinschienen und Handschuhe aus einem dünneren Kettengeflecht, und dazu einen dunkelblauen Wappenrock, auf dessen Brust ein springendes Pferd gestickt war. Auch der Helm wurde von einer gut handlangen Figur gekrönt, die dasselbe Motiv zeigte. Als Katharina nicht gleich antwortete, fuchtelte er drohend mit seinem Schwert, hob aber auch die andere Hand an den Helm und klappte sein Visier hoch. Dahinter kam ein kräftiges Gesicht zum Vorschein, das von einem präzise ausrasierten, schwarzen Bart und einem Paar ebenso dunkler Augen beherrscht wurde. Keinen sehr freundlichen Augen.

»Ich frage dich zum letzten Mal, Bürschchen«, herrschte sie der Reiter an. »Was ist hier passiert? Antworte, oder du bekommst mein Schwert zu spüren!«

»Ich ... bin von hier, Herr«, antwortete Katharina. »Ich lebe hier, und ...«

»Ich bin Guy de Pardeville«, fiel ihr der Ritter ins Wort. »Herr von Schloss Pardeville. Und du solltest mir jetzt besser sagen, was hier passiert ist, bevor meine Geduld endgültig erschöpft ist.«

»Dämonen, Herr«, antwortete Katharina mit halblauter, fast brechender Stimme. »Es waren Dämonen! Sie ... sie sind alle tot, sie haben sie alle erschlagen!«

»Dämonen?«, wiederholte Pardeville. Einer seiner Männer lachte, aber nur so lange, bis Pardeville ihn mit einer herrischen Bewegung zum Schweigen brachte. Sein Schwert zielte immer noch auf Katharinas Kehle. Die Waffe musste sehr schwer sein, aber sie zitterte nicht.

»Dämonen, sagst du?«, wiederholte er noch einmal. »Und wen sollen sie getötet haben?«

»Alle«, antwortete Katharina. »Sie sind alle tot. Sie haben das ganze Dorf im Schlaf erschlagen, und ... und Vater Cedric haben sie ans Kreuz genagelt.«

Pardeville starrte sie durchdringend und mit unbewegtem Gesicht an, doch dann senkte er endlich das Schwert und machte eine kaum sichtbare Geste mit der anderen Hand. Einer seiner Männer zwang sein Pferd herum und sprengte los, und Pardeville sah Katharina auf eine neue und womöglich noch unangenehmere Weise an.

»Wenn du das nur sagst, um dich wichtigzumachen, oder es ein Scherz sein soll, dann könnte es dich teuer zu stehen kommen, mein Junge«, sagte er.

»Ich sage die Wahrheit, Herr«, beteuerte Katharina. »Sie ... sie sind da! Sie haben alle umgebracht, und unten am Fluss wartet ein Drache auf sie.«

»Ein Drache.«

»Und sie haben Burg Ellsbusch niedergebrannt«, fügte Katharina hinzu. »Alle Soldaten sind tot, und ... und Graf Ellsbusch auch, glaube ich.«

Unruhe kam unter den Rittern auf, und auch Graf Pardeville selbst wirkte erschüttert. Seine Augen wurden schmal. Schließlich hob er mit einem Ruck den Kopf und sah über die Bäume dorthin, wo der Himmel noch immer rot im Widerschein der Flammen glühte.

»Wenn du das nur erzählst, um ...«, begann er, brach dann mitten im Satz ab und presste die Lippen zusammen. Für einen Moment sah er fast aus wie Graf Ellsbusch vorhin, und Katharina wartete beinahe darauf, dass sich die Dunkelheit auftat und einen Dämon ausspie, der ihn mit einer Axt attackierte.

Stattdessen kehrte der Reiter zurück, den er losgeschickt hatte. Er sprengte in scharfem Galopp heran und brachte sein Pferd erst im allerletzten Moment und so brutal zum Stehen, dass das Tier scheute. »Der Junge sagt die Wahrheit, Herr!«, stieß er hervor. »Den Priester haben sie ans Kreuz genagelt und die Bauern erschlagen! Ich habe nur in zwei Häusern nachgesehen, aber da waren alle tot.«

Erneut kam Unruhe unter den Rittern auf, und diesmal tat Pardeville nichts, um seine Begleiter zu besänftigen. Er starrte Katharina an, dann hob er den Kopf und sah noch einmal zu dem roten Licht am Himmel.

»Verdammt!« Er rammte sein Schwert mit einer wuchtigen Bewegung in die Scheide zurück, ballte die Hand zur Faust und wandte sich dann wieder an Katharina.

»Wie viele waren es?«, fragte er. »Konntest du das erkennen?«

»Nein«, antwortete Katharina. »Aber bestimmt viele, Wahrscheinlich hundert.«

»Hundert? Und da bist du sicher?«

Nein, das war sie nicht. Hundert war einfach die größte Zahl, die sie kannte. Katharina nickte. »Bestimmt. Vielleicht sogar noch viel mehr. Wie hätten sie sonst die Festung erstürmen können?«

»Ja, wie wohl«, seufzte Pardeville düster. »Aber du hast nur einen Drachen gesehen?«