Die Schicksalsgabe Roman

Die Schicksalsgabe  Roman
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Produktbeschreibung

Die junge Römerin Ulrika hat Visionen und folgt dem Ruf ihrer geheimnisvollen Gabe. Um ihre Bestimmung zu finden, muss sie alles riskieren - auch ihr Leben
 

Klappentext zu „Die Schicksalsgabe“

Fluch oder Segen? Ihre geheimnisvolle Gabe führt die junge Ulrika bis an die Grenzen der Welt.
Sie weiß, dass sie anders ist als ihre römischen Freundinnen: Ulrika hat Visionen, die sie vor allen verheimlicht, die sie aber nach Germanien rufen. Dort rettet sie der Handelsherr Sebastianus aus höchster Gefahr. Gemeinsam brechen sie auf zu einer Reise: Sebastianus will eine Karawane bis nach China führen, Ulrika forscht nach dem Geheimnis ihrer Gabe. Ihre Suche führt beide bis an die Grenzen der Welt und tief ins Herz der Finsternis. Als Sebastianus bei Kaiser Nero in Ungnade fällt, eilt Ulrika zu ihm nach Rom. Darf sie ihre Schicksalsgabe einsetzen, um den Mann zu retten, den sie liebt?
Das Leseerlebnis voller Leidenschaft und Abenteuer von Bestsellerautorin Barbara Wood.

Bibliografische Angaben

2013, 464 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch, Übersetzung: Cordes, Veronika
Verlag: FISCHER Taschenbuch
ISBN-10: 3596181267
ISBN-13: 9783596181261

Autoren-Porträt von Barbara Wood

Barbara Wood ist international als Bestsellerautorin bekannt.
Allein im deutschsprachigen Raum liegt die Gesamtauflage ihrer Romane weit u¿ber 13 Mio., mit Erfolgen wie >Rote Sonne, schwarzes Land<, >Traumzeit<, >Kristall der Träume< und >Dieses goldene Land<.
2002 wurde sie fu¿r ihren Roman >Himmelsfeuer< mit dem Corine-Preis ausgezeichnet.
Barbara Wood stammt aus England, lebt aber seit langem in den USA in Kalifornien.

 

Lese-Probe

Die Schicksalsgabe von Barbara Wood


1

Sie war auf der Suche nach Antworten.

Am Morgen war die neunzehnjährige Ulrika mit dem Gefühl aufgewacht, dass irgendetwas nicht stimmte. Während sie gebadet und sich angekleidet hatte und ihre Sklaven ihr anschließend das Haar hochgesteckt und die Sandalen geschnürt hatten, um dann das Frühstück, bestehend aus Weizenkleie und Ziegenmilch, aufzutragen, hatte sich dieses Gefühl noch verstärkt. Das rätselhafte Unbehagen verging nicht, im Gegenteil, es wurde immer stärker und drängender. Also beschloss sie, die Straße der Wahrsager aufzusuchen, wo Seher und Mystiker, Astrologen und Zukunftsdeuter allerlei Lösungen für die Geheimnisse des Lebens versprachen.

Als sie jetzt, von einem Vorhang abgeschirmt, in einer Sänfte durch die lärmenden Straßen Roms getragen wurde, grübelte sie darüber nach, woher dieses Unbehagen rühren mochte. Gestern noch war alles in Ordnung gewesen. Sie hatte Freundinnen besucht, war durch die Läden geschlendert, die Pergamente und Schriftrollen feilboten, hatte eine Zeitlang an ihrem Webstuhl verbracht - das typische Tagesprogramm eines jungen Mädchens ihrer Gesellschaftsschicht und Abstammung. Aber dann hatte sie dieser seltsame Traum heimgesucht ...

Kurz nach Mitternacht, so Ulrikas Traum, war sie aus dem Bett aufgestanden und ans Fenster getreten. Dann kletterte sie hinaus und landete barfuß im Schnee. Statt Obstbäumen, wie sie hinter der Villa wuchsen, umgaben sie in ihrem Traum hohe Föhren, ein richtiger Wald, und Wolkenfetzen trieben über einen winterlichen Mond. Sie entdeckte Spuren im Schnee - Abdrücke von mächtigen Tatzen, die in den Wald hinein führten. Ulrika folgte ihnen, spürte das Mondlicht auf ihren nackten Schultern, und dann stand sie auf einmal vor einem ausgewachsenen zottelhaarigen Wolf mit goldgelben Augen. Ruhig setzte sie sich in den Schnee, worauf das Tier sich neben ihr niederließ und den Kopf in ihren Schoß legte. Die Nacht war klar, so klar wie die Augen des Wolfs, der zu ihr aufblickte. Unter dem Fell konnte sie seinen gleichmäßigen Herzschlag spüren. Die goldgelben Augen blinzelten und ihr war, als läge darin ein Ausdruck von Vertrauen, von Liebe, ja, von Zuhause.

Verwirrt war Ulrika aufgewacht. Warum habe ich von einem Wolf geträumt?, hatte sie überlegt. Was für einen Grund mag es dafür geben? Hängt das womöglich mit meinem Vater zusammen, der vor langer Zeit im fernen Persien gestorben ist und dessen Name Wulf war?

Hatte der Traum etwas zu bedeuten? Wenn ja, was?

Ihre Sklaven setzten die Sänfte ab, und Ulrika stieg aus. Sie war ein hochgewachsenes junges Mädchen. Über ihrer langen Tunika aus blassrosa Seide lag die farblich darauf abgestimmte Palla über Kopf und Schultern, das hellbraune Haar und den schlanken Hals verbarg sie in jungfräulicher Zurückhaltung. Ihre selbstbewusste Haltung und ihr sicheres Auftreten ließen nichts von der inneren Unruhe erkennen, die sie belastete.

Die Straße der Wahrsager war eine schmale Gasse im Schatten dicht besiedelter Wohnhäuser. Die Zelte und Buden der Spiritisten, Schlangenbeschwörer, Seher und Zukunftsdeuter, eins bunter bemalt als das nächste und mit glitzernden Objekten verziert, sahen vielversprechend aus. Das Geschäft der Lieferanten von Glücksanhängern, magischen Reliquien und Amuletten blühte.

Als Ulrika die Gasse betrat, um jemanden zu finden, der ihren Traum von dem Wolf deuten konnte, machten fahrende Händler aus Zelten und Buden lauthals auf sich aufmerksam, gaben sich als »echte Chaldäer« aus, mit direkter Verbindung zur Zukunft und im Besitz des Dritten Auges. Als Erstes begab sie sich zu einem Vogeldeuter, der für ein paar Münzen aus den Innereien seiner in Verschläge gepferchten Tauben weissagte. Seine Hände waren blutverkrustet. Er versicherte Ulrika, dass sie noch vor Ende des Jahres einen Ehemann finden würde. Der Rauchdeuter, den Ulrika als Nächsten an seinem Stand aufsuchte, verkündete, dass der Weihrauch ihr fünf gesunde Kinder verhieß.

Ungeduldig ging sie weiter, bis sie ganz hinten in der Gasse auf eine armselig wirkende Gestalt traf, die weder einen Stand noch ein Zelt ihr eigen nannte, sich nicht einmal eines schattigen Plätzchens erfreuen konnte. Mit überkreuzten Beinen hockte sie auf einer zerfransten Matte am Straßenrand. Ihr langes weißes Gewand hatte seine besten Tage hinter sich, ihre knöchernen langgliedrigen Hände ruhten auf mageren Knien. Da die Frau den Kopf gesenkt hielt, sah man nur ihr Haar, das ihr, schwärzer als Pech und in der Mitte gescheitelt, über Schultern und Rücken fiel. Ulrika konnte sich nicht erklären, warum es sie ausgerechnet zu dieser armseligen Wahrsagerin zog - vielleicht war sie ja mehr um Ehrlichkeit bemüht denn auf Geld aus? -, jedenfalls blieb sie vor ihr stehen und wartete ab.

Nach kurzer Zeit hob die Wahrsagerin den Kopf, und Ulrika war verblüfft über das ungewöhnliche Gesicht, das ihr entgegenblickte: Es war lang und schmal, knochig und von gelblichem Teint, umrahmt von dem nachtdunklen Haar. Traurige schwarze Augen unter gewölbten Brauen blickten Ulrika an. Wie ein Wesen aus einer anderen Welt wirkte die Frau, und sie schien alterslos zu sein. War sie zwanzig oder achtzig? Neben ihr hatte sich eine braunschwarz gefleckte Katze zusammengerollt. Ulrika erkannte in ihr eine Ägyptische Mau, die dem Vernehmen nach älteste Katzenrasse, möglicherweise sogar die Urmutter aller Katzen.

Sie richtete ihr Augenmerk wieder auf die glänzenden schwarzen Augen, aus denen Traurigkeit und Weisheit sprachen.
»Du hast eine Frage«, eröffnete die Wahrsagerin in perfektem Lateinisch das Gespräch und starrte Ulrika unverwandt an.

Der Lärm in der Gasse verebbte. Ulrika fühlte sich wie gebannt von schwarzen ägyptischen Augen, die braune Katze döste vor sich hin.

»Du willst mich wegen eines Wolfs befragen«, sagte die Ägypterin mit einer Stimme, die älter zu sein schien als der Nil.

»Ich habe ihn im Traum gesehen, Weise Frau. War das ein Zeichen? «

»Ein Zeichen wofür? Stell deine Frage.«

»Ich weiß nicht, wohin ich gehöre, Weise Frau. Meine Mutter ist Römerin, mein Vater Germane. Ich wurde in Persien geboren und war fast mein ganzes Leben lang mit meiner Mutter auf Wanderschaft. Denn sie folgte einer Bestimmung. Wo immer wir hinkamen, fühlte ich mich als Außenseiterin. Es bedrückt mich, Weise Frau, dass ich, wenn ich nicht weiß, wohin ich gehöre, niemals wissen werde, wer ich bin. War der Traum von dem Wolf ein Hinweis, dass ich in das Land am Rhein gehöre, zu dem Volk meines Vaters? Ist es für mich an der Zeit, Rom zu verlassen?«

»Überall um dich herum gibt es Zeichen, Tochter. Die Götter geleiten uns, wohin auch immer wir gehen.«

»Du sprichst in Rätseln, Weise Frau. Kannst du mir wenigstens meine Zukunft vorhersagen?«

»Da wird ein Mann sein«, kam es von der Wahrsagerin, »der dir einen Schlüssel anbietet. Nimm ihn.«

»Einen Schlüssel? Wofür?«

»Das wirst du verstehen, wenn die Zeit kommt ...«

2
Als Ulrika den Garten hinter der hohen Mauer auf dem Esquilin, einem der sieben Hügel, auf denen Rom erbaut ist, betrat, presste sie die Hand an die Brust, bis sie unter dem Seidengewebe ihres Gewandes das Kreuz Odins spürte, das beschützende Amulett, das sie von klein auf begleitete. Sie betastete seine vertrauten Umrisse, die sich an ihren Busen drückten, und versuchte sich einzureden, dass sich alles zum Guten wenden würde. Aber das Unbehagen, mit dem sie heute Morgen aufgewacht war, hatte sie den ganzen Tag über begleitet, so dass sie jetzt, da eine orangerote Sonne nach und nach hinter Roms Marmorgebäuden verschwand, kaum atmen konnte. Wie wünschte sie sich, alles wäre wieder so wie immer! Selbst Themen, die sie noch tags zuvor verärgert hatten, wären ihr jetzt, an diesem späten Nachmittag, als Ablenkung willkommen. Zum Beispiel die Frage, ob sie, wie es alle erwarteten, Drusus Fidelius heiraten wollte.

Es lag Ulrika fern, ungehorsam zu sein. Rom erzog seine Töchter zu Ehefrauen und Müttern.Alle ihre Freundinnen waren entweder verheiratet oder versprochen (ausgenommen die zu ihrem Leidwesen durch eine Hasenscharte entstellte Cassia, was eine Garantie für lebenslange Jungfernschaft war). Andere Zukunftspläne gab es auch gar nicht. Eine alleinstehende junge Frau ohne den Schutz eines Mannes war eine Seltenheit. Sogar Witwen kamen bei männlichen Verwandten unter. Ulrika hatte ihrer besten Freundin anvertraut, nicht heiraten zu wollen, weder Drusus Fidelius noch sonst irgendeinen Mann. Worauf die Freundin ausgerufen hatte: »Aber kein junges Mädchen will freiwillig unverheiratet bleiben! Ulrika, was willst du denn sonst mit deinem Leben anfangen?« Auf diese Frage hatte Ulrika keine andere Antwort gehabt als die, dass sie seit jeher das unbestimmte Gefühl habe, sie sei zu etwas anderem berufen. Was das war, wusste sie allerdings nicht zu sagen. Ihre Mutter hatte sie zwar in den Grundlagen der Heilkunst unterrichtet, in der Herstellung und dem Gebrauch von Medizinen, in Anatomie und wie man Krankheiten diagnostizierte, aber Ulrika wollte nicht in die Fußstapfen der Mutter treten, keine Heilkundige werden.

Vom Garten aus verfolgte sie, wie nach und nach die für den Abend geladenen Gäste eintrafen, und konnte einmal mehr beobachten, wie die römischen Männer ihre weiblichen Anverwandten mit einem Wangenkuss begrüßten. Nicht unbedingt aus Zuneigung, sondern um zu prüfen, ob ihre Schwestern oder Töchter nach Alkohol rochen. Ständig übten Männer irgendeine Kontrolle aus. Die Frauen in Germanien dagegen wurden, wie Ulrika gehört hatte, von ihren Männern mit weit mehr Respekt behandelt und als ebenbürtig erachtet.

Vor dem Hintergrund von Roms Villen und Straßen war Ulrika zur Frau herangereift. Sie hatte dicht bevölkerte und lärmende Städte kennengelernt und genoss jetzt ein luxuriöses Leben in einem herrschaftlichen Haus auf dem Esquilin-Hügel. Warum sehnte sie sich dann nach Gebirgen und Wäldern, die in Nebel und Geheimnis eingehüllt schienen? Seit sie lesen konnte, hatte sie alle Schriften über das Volk ihres Vaters - die Germanen - verschlungen, derer sie habhaft werden konnte, hatte deren Kultur und Bräuche, deren Überzeugungen und Geschichte aufgesogen. Sogar ihre Sprache hatte sie sich angeeignet - heimlich. Denn wann immer sie Freundinnen von ihrem Interesse an den Germanen erzählt hatte, war sie auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen.
Welchen Sinn hatte das alles?, fragte sie sich jetzt, als sie die Gäste erkannte, die im Hof von Tante Paulinas Haus eintrafen, die Damen in fließenden Tuniken, die Herren in langen, kleidsamen Togen. Diente das alles zur Vorbereitung auf die Reise in das Land, in das sie, Ulrika, wirklich gehörte? Es würde keine leichte Reise werden. Wulf, ihr Vater, war noch vor ihrer Geburt gestorben. Und sollte es noch Verwandte von ihm geben, dürfte es für Ulrika ein Ding der Unmöglichkeit sein, dies in Erfahrung zu bringen, geschweige denn, diese Verwandten ausfindig zu machen. Sie wusste nur, dass Wulf ein Fürstensohn und ein Held seines in den Wäldern lebenden Volks gewesen war und dass er ihr eine Blutlinie von rheinländischen Stammesfürsten und mystischen Seherinnen vererbt hatte.

Eine frische Brise wehte durch den Garten, rührte spielerisch an Ästen und dem feinem Gewebe von Ulrikas langem Gewand. Sie war nach der neuesten Mode gekleidet, die mehrere Schichten Stoff vorschrieb, was durch ein knielanges Überkleid sowie Schals in jeweils verschiedenen Längen und Blautönen - von dunklem Azur bis zur Färbung des morgendlichen Himmels - erreicht wurde. Ihr langes Haar, das geflochten und am Hinterkopf zu einem Knoten frisiert war, verbarg ein weicher safrangelber Schleier, die Palla, die auch die Arme bedeckte und unterhalb der Taille endete. Goldene Ohrringe und Armreife vervollständigten ihre Garderobe.

Sie fröstelte. Wenn es mir bestimmt ist, von hier wegzugehen, wie soll ich das dann tun?

»Da bist du ja, Liebes.«

Ihre Mutter kam auf sie zu. Mit ihren vierzig Jahren bewegte sich Selene anmutig und graziös; feine Leinenstoffe in Rot- und Orangetönen umhüllten die schlanke Gestalt. Ihr dunkelbraunes Haar war am Hinterkopf zu einem schlichten Knoten geschlungen und mit einem scharlachroten Schleier bedeckt.

»Paulina sagte mir, du seist hier draußen.« Mit ausgebreiteten Armen ging Selene auf ihre Tochter zu.

Paulina war eine verwitwete Patrizierin, und dies war ihr Haus. Als beste Freundin ihrer Mutter nannte Ulrika sie Tante Paulina. Da Paulina in Roms höchsten Kreisen verkehrte, lud sie dementsprechend nur die Elite der Bürger der Stadt zu sich ein. Zu diesem Kreis gehörte auch Selene, Ulrikas Mutter, als Heilkundige und enge Freundin von Kaiser Claudius.

Als sich Ulrika und ihre Mutter Arm in Arm dem Haus näherten, kamen sie an drei Männern in militärischer Haltung vorbei, die über Angriffsstrategien debattierten. Sie trugen lange weiße Tuniken und darüber purpurfarben gesäumte Togen. Kaum dass sie der beiden Frauen ansichtig wurden, unterbrachen sie ihr Gespräch, um sie zu grüßen und sich vorzustellen. In dem Moment, da der eine, ein gut aussehender Mann mit gebräuntem Gesicht und schneeweißen Zähnen, sich als Gaius Vatinius zu erkennen gab, merkte Ulrika, wie sich die Schultern ihrer Mutter versteiften. »Befehlshaber Vatinius?«, sagte Selene. »Müsste ich schon von dir gehört haben?«

Einer der anderen Männer lachte. »Wenn nicht, Verehrteste, wäre er am Boden zerstört! Vatinius wäre erschüttert, wenn er erkennen müsste, dass es in Rom auch nur eine schöne Frau gibt, die nicht weiß, wer er ist.«

Ulrika, der die gepresste Stimme der Mutter nicht entgangen war, musterte eingehend den Mann, den Selene mit »Befehlshaber « angesprochen hatte. Er war hochgewachsen, Anfang vierzig, mit tiefliegenden Augen und einer langen, geraden Nase. Wie aus Marmor gemeißelt wirkte er. Der Anflug eines gekünstelten Lächelns, das seine Lippen umspielte, zeugte von Arroganz.

»Bist du vielleicht«, hörte Ulrika die Mutter stockend fragen, »jener Gaius Vatinius, der vor einigen Jahren am Rhein kämpfte?«

Sein Lächeln vertiefte sich. »Du hast also doch von mir gehört.«

Gaius Vatinius wandte sich Ulrika zu, musterte sie unverhohlen von Kopf bis Fuß. Im nächsten Augenblick meldete ein Sklave, dass das Mahl aufgetragen sei, worauf sich die drei Männer mit einer kurzen Entschuldigung in Richtung Haus begaben.

Ulrika sah, dass ihre Mutter kreidebleich geworden war. »Gaius Vatinius hat dich erschreckt, Mutter. Wer ist er?«

»Er befehligte einst die Legionen am Rhein«, antwortete Selene, wobei sie dem Blick ihrer Tochter auswich. »Aber das war lange vor deiner Geburt. Lass uns hineingehen.«

Vier Tische standen im Speisesaal, jeder auf drei Seiten von Ruhebetten flankiert. Die Platzierung der Gäste folgte einem strengen Protokoll, demzufolge die Ehrengäste jeweils auf dem Ruhebett an der linken Seite des Tisches lagerten. Die vierte Seite des Tisches blieb frei, damit die Sklaven ungehindert Speisen und Getränke auftragen konnten. Gebratene Fasanen im Federkleid prangten in der Mitte der Tafel, um sie herum Platten und Schalen mit verschiedenen Speisen, von denen die Gäste sich selbst bedienen konnten. Die Stimmen von mehr als dreißig Personen schwirrten durch den Raum, drohten schier die Klänge der Panflöte zu übertönen, die ein Musikant spielte.
Ulrika wollte sich gerade auf ihren Platz neben einem Rechtsgelehrten namens Maximus niederlassen, als sie kurz einen Blick hinüber zu Gaius Vatinius warf. Sie mochte kaum ihren Augen trauen.

Auf dem Fußboden neben dem Befehlshaber saß ein riesiger Hund.

Ulrika runzelte die Stirn. Wie kam ein Gast auf die Idee, seinen Hund zu einer Essenseinladung mitzunehmen? Sie musterte die anderen Gäste, die sich ungezwungen mit Wein und Delikatessen bedienten. Empfand denn niemand sonst diesen Hund als völlig fehl am Platze?

Mit leichtgeöffneten Lippen und angehaltenem Atem sah sie wieder auf das Tier. Nein, das war kein Hund -, sondern ein Wolf! Groß und grau und zottelhaarig, mit bohrendem Blick und gespitzten Ohren, wie der Wolf in ihrem Traum. Und er starrte sie unverwandt an, derweil Gaius Vatinius mit seinen Tischnachbarn plauderte.

Ulrika konnte sich vom Anblick des mächtigen Tiers nicht losreißen.

Während sie weiterhin reglos verharrte, merkte sie, dass der Wolf langsam aus ihrem Blickfeld schwand, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Ulrika zwinkerte. Er hatte sich doch gar nicht von seinem Lager erhoben! Nicht den Speisesaal verlassen. Er hatte sich einfach in Luft aufgelöst, vor ihren Augen.

Es war ihr, als verlöre sie den Boden unter den Füßen. Zitternd tastete sie nach dem Ruhebett und sank darauf nieder. Die Kehle schnürte sich ihr zusammen. Jetzt begriff sie, warum sie sich den ganzen Tag über so unwohl gefühlt hatte.

Die Krankheit hatte sich wieder eingestellt.

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012