Der Vorleser Ausgezeichnet mit dem Evangelischen Buchpreis, Kategorie Roman, 2000 und dem WELT-Literaturpreis 1999. Roman

Der Vorleser  Ausgezeichnet mit dem Evangelischen Buchpreis, Kategorie Roman, 2000 und dem WELT-Literaturpreis 1999. Roman
Produktcode: AD5468
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Produktbeschreibung

Das Buch zum Film

Auf dem Heimweg gerät der 15-jährige Michael in eine heikle Situation. Eine Frau, Mitte 30, kümmert sich um ihn und eine heimliche Liebe beginnt. Doch Hanna hütet verzweifelt ein Geheimnis: sie ist rätselhaft, viel älter als Michael und wird schließlich seine erste große Liebe - bis sie eines Tages spurlos verschwindet. Erst viele Jahre später sieht Michael Hanna wieder - als Angeklagte vor Gericht! Welches Geheimnis verbirgt sie?

Bernhard Schlinks Roman wurde in 32 Sprachen übersetzt und avancierte zum internationalen Bestseller.

''Ein literarisches Ereignis.''
Der Spiegel

 

Bibliografische Angaben

1997, 208 Seiten, Maße: 11,3 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
Verlag: Diogenes
ISBN-10: 3257229534
ISBN-13: 9783257229530

Rezension

"Bernhard Schlinks Vorleser ist neben der Blechtrommel von Günter Grass wahrscheinlich der international erfolgreichste Roman eines lebenden deutschen Schriftstellers. Eine unaufdringliche Metapher für deutsche Verstrickungen, wie überhaupt Schlink es meisterhaft versteht, das bewußtlose Schweigen der Deutschen in den fünfziger und sechziger Jahren durch seine atmosphärisch dichte Prosa zum Reden zu bringen. Das Buch ist gescheit, geschickt gebaut und sensibel für unausgesprochene Gefühle: eine im Deutschen seltene Verbindung." (Der Tagesspiegel) "Dieser Höhenflug ist einzigartig: Hanna Schmitz und Michael Berg - wer hätte gedacht, daß die beiden einmal zu den berühmten Liebespaaren der Weltliteratur zählen würden? Bernhard Schlinks Der Vorleser markiert für die deutsche Literatur eine Zäsur. Erstmals seit der Blechtrommel und Siegfried Lenz' Deutschstunde gibt es wieder einen Weltbestseller made in Germany, ein Buch also, aus dem Amerikaner und Japaner, Franzosen und Inder ihr Deutschlandbild beziehen." (Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt)

Autoren-Porträt



Bernhard Schlink wurde 1944 bei Bielefeld geboren und wuchs in Heidelberg auf. Nach seinem Jurastudium in Heidelberg und Berlin arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent in Heidelberg, Darmstadt, Bielefeld und Freiburg. Nach Promotion 1975 und Habilitation 1981 war er Professor in Bonn und Frankfurt. Seit 1992 lehrt er "Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie" an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist seit 1993 Gastprofessor an der Yeshiva-University in New York. Seit 1988 ist er Richter am Verfassungsgerichtshof für Nordrhein-Westfalen. Er lebt in Berlin und New York.

Neben der beruflichen Laufbahn mit vielen Veröffentlichungen zu juristischen Themen begann Schlinks literarisches Schaffen schon in frühen Jahren: Als Achtjähriger schrieb er nach einem Streit mit seinem Bruder das Drama "Brudermord", seine erste unglückliche Liebe inspirierte ihn zu einem langen Sonett.

Bekannt wurde Schlink als Krimiautor. Seine Trilogie um den ehemaligen Staatsanwalt Selb als Ermittler wurde ein großer Erfolg und hat die deutsche Geschichte als beherrschendes Thema: "Selbs Justiz" handelt von den Auswirkungen des Dritten Reiches bis in unsere Zeit hinein, "Selbs Betrug" befasst sich mit den 68ern und dem Terrorismus der 70er Jahre, "Selbs Mord" spielt nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Bereits 1989 bekam Schlink eine Auszeichnung für "Die gordische Schleife".

Den bisher größten nationalen und internationalen Erfolg hatte Schlink mit "Der Vorleser", einer Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus. Das Buch wurde in über 30 Sprachen übersetzt, der Autor mit zahlreichen Preisen bedacht und 2003 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Schlinks jüngster Roman "Die Heimkehr" behandelt die Themen Krieg und Nachkriegszeit. Auch in diesem Werk werden Fragen aufgeworfen, die um Verstrickung, Schuld, Verantwortung und Gerechtigkeit kreisen. Der Autor gibt -wie gewohnt - keine dogmatischen Antworten, sondern vermittelt dem Leser in seiner nüchternen, illusionslosen und doch einfühlsamen Sprache die Vielseitigkeit menschlicher Beziehungen und lässt ihn die fließenden Grenzen zwischen Gut und Böse erahnen.

Lese-Probe

Der Vorleser von Bernhard Schlink 4

Ich habe keinen Tag der Gerichtsverhandlung ausgelassen. Die anderen Studenten wunderten sich. Der Professor be­grüßte, daß einer von uns dafür sorgte, daß die nächste Gruppe erfuhr, was die letzte gehört und gesehen hatte.

Nur einmal sah Hanna ins Publikum und zu mir hin. Sonst wandte sie den Blick an allen Verhandlungstagen zur Gerichtsbank, wenn sie von einer Wachtmeisterin herein­geführt wurde und wenn sie ihren Platz eingenommen hatte. Das wirkte hochmütig, und hochmütig wirkte auch, daß sie nicht mit den anderen Angeklagten und kaum mit ihrem Anwalt sprach. Die anderen Angeklagten redeten miteinander allerdings desto weniger, je länger die Gerichtsverhandlung dauerte. Sie standen in den Verhand­lungspausen mit Verwandten und Freunden zusammen, winkten und riefen ihnen zu, wenn sie sie morgens im Publikum sahen. Hanna blieb in den Verhandlungspausen an ihrem Platz sitzen.

So sah ich sie von hinten. Ich sah ihren Kopf, ihren Nacken, ihre Schultern. Ich las ihren Kopf, ihren Nacken, ihre Schultern. Wenn es um sie ging, hielt sie den Kopf besonders hoch. Wenn sie sich ungerecht behandelt, verleumdet, angegriffen fühlte und um eine Erwiderung rang, rollte sie die Schultern nach vorne, und der Nacken schwoll, ließ die Muskelstränge stärker heraus- und her­vortreten. Die Erwiderungen mißlangen regelmäßig, und regelmäßig sanken die Schultern herab. Sie zuckte nie mit den Schultern, schüttelte auch nie den Kopf. Sie war zu an­gespannt, als daß sie sich die Leichtigkeit eines Schulter­zuckens oder Kopfschüttelns erlaubt hätte. Sie erlaubte sich auch nicht, den Kopf schief zu halten, sinken zu las­sen oder aufzustützen. Sie saß wie gefroren. So sitzen mußte weh tun.

Manchmal stahlen sich Haarsträhnen aus dem straffen Knoten, kräuselten sich, hingen auf den Nacken herab und strichen im Luftzug über ihn hin. Manchmal trug Hanna ein Kleid, dessen Ausschnitt weit genug war, um das Muttermal an der linken oberen Schulter zu zeigen. Dann erinnerte ich mich, wie ich die Haare von diesem Nacken gepustet und wie ich dieses Muttermal und diesen Nacken geküßt hatte. Aber das Erinnern war ein Regi­strieren. Ich fühlte nichts.

Während der wochenlangen Gerichtsverhandlung fühlte ich nichts, war mein Gefühl wie betäubt. Ich pro­vozierte es gelegentlich, stellte mir Hanna bei dem, was ihr vorgeworfen wurde, so deutlich vor, wie ich nur konnte, und auch bei dem, was mir das Haar auf ihrem Nacken und das Muttermal auf ihrer Schulter in Erinne­rung riefen. Es war, wie wenn die Hand den Arm kneift, der von der Spritze taub ist. Der Arm weiß nicht, daß er von der Hand gekniffen wird, die Hand weiß, daß sie den Arm kneift, und das Gehirn hält beides im ersten Moment nicht auseinander. Aber im zweiten unterscheidet es wie­der genau. Vielleicht hat die Hand so fest gekniffen, daß diese Stelle eine Weile lang blaß ist. Dann kehrt das Blut zurück, und die Stelle kriegt wieder Farbe. Aber das Ge­fühl kehrt darum noch nicht zurück.

Wer hatte mir die Spritze gegeben? Ich mir selbst, weil ich es ohne Betäubung nicht ausgehalten hätte? Die Betäu­bung wirkte nicht nur im Gerichtssaal und nicht nur so, daß ich Hanna erleben konnte, als sei es ein anderer, der sie geliebt und begehrt hatte, jemand, den ich gut kannte, der aber nicht ich war. Ich stand auch bei allem anderen neben mir und sah mir zu, sah mich in der Universität, mit Eltern und Geschwistern, mit den Freunden funktionie­ren, war aber innerlich nicht beteiligt.

Nach einer Weile meinte ich, ein ähnliches Betäubtsein auch bei anderen beobachten zu können. Nicht bei den Anwälten, die während der ganzen Verhandlung von der­selben polternden, rechthaberischen Streitsucht, pedan­tischen Schärfe oder auch lärmenden, kaltschnäuzigen Unverschämtheit waren, je nach persönlichem und politi­schem Temperament. Zwar erschöpfte die Verhandlung sie; am Abend waren sie müder oder auch schriller. Aber über Nacht hatten sie sich wieder aufgeladen oder aufge­blasen und dröhnten und zischten am nächsten Morgen wie am Morgen zuvor. Die Staatsanwälte versuchten mit­zuhalten und ebenfalls Tag um Tag denselben kämpfe­rischen Einsatz zu zeigen. Aber es gelang ihnen nicht, zunächst nicht, weil die Gegenstände und die Ergebnisse der Verhandlung sie zu sehr entsetzten, dann, weil die Betäubung zu wirken begann. Am stärksten wirkte sie bei den Richtern und Schöffen. In den ersten Verhandlungs­wochen nahmen sie die Schrecklichkeiten, die manchmal unter Tränen, manchmal mit versagender Stimme, manch­mal gehetzt oder verstört berichtet und bestätigt wurden, mit sichtbarer Erschütterung oder auch mühsamer Fas­sung zur Kenntnis. Später wurden die Gesichter wieder normal, konnten einander lächelnd eine Bemerkung zuflüstern oder auch einen Hauch von Ungeduld zeigen, wenn ein Zeuge vom Hölzchen aufs Stöckchen kam. Als in der Verhandlung eine Reise nach Israel besprochen wurde, wo eine Zeugin vernommen werden sollte, kam Reisefreude auf. Stets aufs neue entsetzt waren die ande­ren Studenten. Sie kamen jede Woche nur einmal zur Ver­handlung, und jedesmal vollzog er sich erneut: der Ein­bruch des Schrecklichen in den Alltag. Ich, Tag um Tag bei der Verhandlung dabei, beobachtete ihre Reaktion mit Distanz.

Wie der KZ-Häftling, der Monat um Monat überlebt und sich gewöhnt hat und das Entsetzen der neu Ankom­menden gleichmütig registriert. Mit derselben Betäubung registriert, mit der er das Morden und Sterben selbst wahrnimmt. Alle Literatur der Überlebenden berichtet von dieser Betäubung, unter der die Funktionen des Le­bens reduziert, das Verhalten teilnahms- und rücksichts­los und Vergasung und Verbrennung alltäglich wurden. Auch in den spärlichen Äußerungen der Täter begegnen die Gaskammern und Verbrennungsöfen als alltägliche Umwelt, die Täter selbst auf wenige Funktionen reduziert, in ihrer Rücksichts- und Teilnahmslosigkeit, ihrer Stumpfheit wie betäubt oder betrunken. Die Angeklagten kamen mir vor, als seien sie noch immer und für immer in dieser Betäubung befangen, in ihr gewissermaßen verstei­nert.

Schon damals, als mich diese Gemeinsamkeit des Betäubtseins beschäftigte und auch, daß die Betäubung sich nicht nur auf Täter und Opfer gelegt hatte, sondern auch auf uns legte, die wir als Richter oder Schöffen, Staatsanwälte oder Protokollanten später damit zu tun hatten, als ich dabei Täter, Opfer, Tote, Lebende, Über­lebende und Nachlebende miteinander verglich, war mir nicht wohl, und wohl ist mir auch jetzt nicht. Darf man derart vergleichen? Wenn ich in einem Gespräch Ansätze eines solchen Vergleichs machte, betonte ich zwar stets, daß der Vergleich den Unterschied, ob man in die Welt des KZ gezwungen wurde oder sich in sie begeben hatte, ob man gelitten oder Leiden zugefügt hatte, nicht relativiere, daß der Unterschied vielmehr von der allergrößten, alles entscheidenden Wichtigkeit sei. Aber ich stieß selbst dann auf Befremden oder Empörung, wenn ich dies nicht erst in Reaktion auf die Einwände der anderen ausführte, son­dern noch ehe die anderen etwas einwenden konnten.

Zugleich frage ich mich und habe mich schon damals zu fragen begonnen: Was sollte und soll meine Generation der Nachlebenden eigentlich mit den Informationen über die Furchtbarkeiten der Vernichtung der Juden anfangen? Wir sollen nicht meinen, begreifen zu können, was unbe­greiflich ist, dürfen nicht vergleichen, was unvergleichlich ist, dürfen nicht nachfragen, weil der Nachfragende die Furchtbarkeiten, auch wenn er sie nicht in Frage stellt, doch zum Gegenstand der Kommunikation macht und nicht als etwas nimmt, vor dem er nur in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen kann. Sollen wir nur in Entset­zen, Scham und Schuld verstummen? Zu welchem Ende? Nicht daß sich der Aufarbeitungs- und Aufklärungseifer, mit dem ich am Seminar teilgenommen hatte,