Der ist ja nicht doof, nur irgendwie hochbegabt Unkorrigierte Geschichten aus der Nachhilfestunde

Der ist ja nicht doof, nur irgendwie hochbegabt Unkorrigierte Geschichten aus der Nachhilfestunde
Produktcode: AD5412
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Produktbeschreibung

Tanja Janz tritt immer dann in Aktion, wenn andere aufgeben. Bei dem, was ihr mit den Kids passiert, bleibt ihr das Lachen oft im Halse stecken. Vielen Eltern sehen nur die Noten, die Schüler freuen sich über den bequemen Hausaufgabenservice, und Janz kämpft gegen jede Menge Erziehungssünden und Wohlstandsprobleme an. Während sie sich mit den Versetzungsproblemen anderer plagt, erlebt sie die verrücktesten Dinge, und sie zeigt, warum ein Nachhilfelehrer oftmals auch Therapeut, Koch, Chauffeur, Putzfrau oder Eheberater sein muss.
 

Klappentext zu „Der ist ja nicht doof, nur irgendwie hochbegabt“

Tanja Janz tritt immer dann in Aktion, wenn andere aufgeben. Bei dem, was ihr mit den Kids passiert, bleibt ihr das Lachen oft im Halse stecken. Vielen Eltern sehen nur die Noten, die Schüler freuen sich über den bequemen Hausaufgabenservice, und Janz kämpft gegen jede Menge Erziehungssünden und Wohlstandsprobleme an. Während sie sich mit den Versetzungsproblemen anderer plagt, erlebt sie die verrücktesten Dinge, und sie zeigt, warum ein Nachhilfelehrer oftmals auch Therapeut, Koch, Chauffeur, Putzfrau oder Eheberater sein muss

 

Lese-Probe

Der ist ja nicht doof, nur irgendwie hochbegabt von Tanja Janz


1
Am Arsch hängt der Hammer

»Rekruten! Jetzt kann euch nur noch der Tod vor dem Abitur bewahren!«

Oberst Stahl stand breitbeinig vor unserem Mathe- Grundkurs und stemmte die Hände in die Hüften. Eine grau-braune Strähne seines lichten Haars lag kunstvoll drapiert über seinem kahlen Haupt, der Hemdkragen war frisch gestärkt, und die beigefarbene Bundfaltenhose passte ihm scheinbar noch genauso gut wie zum Amtsantritt von Willy Brandt.

Es war der erste Tag im neuen Schuljahr. Mittlerweile regierte der dicke Mann aus Oggersheim die deutschen Lande. Ich war endlich, und ohne dass ich mir erklären konnte wie, in der elften Klasse angekommen, nachdem ich zwei unfreiwillige Ehrenrunden am Schalker-Gymnasium gedreht hatte - mit einer glatten Sechs in Mathe und Physik war einfach nichts mehr gegangen, nicht mal mehr die Nachprüfung in den Sommerferien. Und nun stand ausgerechnet der leibhaftige Grund für meine zweimalige Nachspielzeit in der siebten und neunten Klasse vor mir und verkündete, dass ich mit dem Erreichen der Stufe elf nicht mehr an der Allgemeinen Hochschulreife vorbeikäme.

Ich, die in Naturwissenschaften ungefähr so begabt war wie ein Pferd beim Stepptanz. Die ich die binomischen Formeln nicht von einer zufällig zusammengewürfelten Abfolge ägyptischer Hieroglyphen unterscheiden konnte. Die nicht kapierte, was dieses »Punkt vor Strich« jenseits des Kunstunterrichts zu suchen hatte, und die vor allem selbst nach dreizehn Jahren Schulbank nicht begriff, wieso ein auf dem Boden liegendes Objekt weniger potenzielle Lageenergie besaß als ein ähnliches Objekt dreißig Zentimeter höher.

Ich war - und da gab es kein Schönreden - eine absolute Niete in Mathe und Physik. Das unterste Ende der naturwissenschaftlichen Nahrungskette. Ich war die sprichwörtliche Amöbe in der Ursuppe, die ihren höherentwickelten Artgenossen, die langsam an Land krochen, nur neidisch hinterhersehen konnte.

Dass ich in der Mittelstufe überhaupt irgendetwas gebacken bekommen hatte, war meinem Nachhilfelehrer Robert zu verdanken, den meine Mutter an der Universität Duisburg-Essen aufgetrieben hatte. Bis Robert kam, hatte ich schon drei engagierte Nachhilfelehrer gnadenlos verschlissen, ohne dass dabei eine wirklich bessere Note herausgekommen war. Mir fehlte, wie ich glaubte, schlicht und ergreifend das Mathe-Gen. An Engagement und Geduld hatte es den jeweiligen Tutoren nämlich ganz und gar nicht gemangelt. Im Gegenteil. Es war überaus bewundernswert, mit welcher Selbstverständlichkeit und Ruhe sie ihr Nachhilfelehrer-Schicksal ertrugen, um in jeder Stunde das Feld wieder von vorne, bei Adam und Eva, aufzurollen. Denn: Zu meiner amtlichen Mathe-Schwäche gesellte sich auch noch ein mathematisches Kurzzeitgedächtnis, das nach einer Woche sämtliche Formeln und Regeln wieder verdrängt hatte. Außerdem war es ungemein praktisch zu wissen, dass ich mich auf meine Nachhilfelehrer verlassen konnte, die nicht müde wurden, mir den jeweiligen Mathe- und Physikstoff zum x-ten Mal zu erklären - natürlich ohne dass dieses ehrenhafte Bemühen von irgendwelchen Erfolgen gekrönt wurde, denn immerhin saß ich in den Klausuren, und nicht meine Nachhilfelehrer. Leider.

Die paradiesischen Zustände fanden ein jähes Ende, als er kam: Robert. Ein verpickelter Mathematikstudent, der vermutlich über zehn Ecken mit Oberst Stahl verwandt war und es durch seine autistische Empathie schon nach fünf Minuten geschafft hatte, meine optimistische Grundeinstellung, mich von meinem Nachhilfelehrer parasitär aushalten zu lassen, im Keim zu ersticken. Neben dem nicht enden wollenden Bearbeiten von selbst entworfenen Aufgaben- blättern musste ich Formeln und Beispielaufgaben auswendig lernen, die er zu Beginn jeder Stunde stoisch abfragte und sich dabei Notizen machte. Meine Sympathien für Robert rangierten im selben Bereich wie meine Noten in Mathematik und Physik, und ich hoffte jede Woche aufs Neue, dass er mal wegen eines Schnupfens absagen würde. Doch den Gefallen tat er mir nicht.

Irritierenderweise zeigte der Drill von Robert schon bald Wirkung. Nach nur wenigen Monaten saß ich nicht mehr vollkommen planlos in Mathe he rum und glotzte Löcher in die Luft. Auch wenn ich nach wie vor den Eindruck nicht loswurde, meine gesamte Klasse unterhalte sich im Mathematikunterricht in einer fremden Klick-Sprache aus Zentralafrika, so war ich seit Neustem in der Lage, ein bisschen mitzuklicken - wenn auch immer noch auf primitivstem Niveau. Und trotzdem: Ich verstand erste Vokabeln, hatte ein Gespür für die Grammatik dieser seltsamen Naturwissenschaftssprache entwickelt, und nach und nach empfand ich sogar Stolz, wenn ich eine Gleichung richtig auflöste oder beim einfachen Multiplizieren nicht den Rechenschieber betätigen musste.

Natürlich hasste ich den Nachhilfeunterricht mit Robert immer noch genauso leidenschaftlich wie am ersten Tag. Er besaß keinen Funken Unterhaltsamkeit, und seine Fähigkeit, bei seinen Schülern Begeisterung auszulösen, lag eindeutig im negativen Zahlenraum. Aber obwohl sein Nachhilfeunterricht meinen persönlichen Vorstellungen von Spiel, Spaß und Schokolade nicht entsprach: Irgendwie, das wusste ich, würde er mich durchs Abi kriegen. Selbst wenn Oberst Stahl mein Mathelehrer war. Selbst wenn wir mit Zahlen und Buchstaben rechnen würden. Selbst wenn es das Letzte war, was ich tun würde!

Als Oberst Stahls Worte durch den Klassenraum hallten, wurde ich von einem feierlichen Gefühl ergriffen. In Gedanken hörte ich das ferne Glockengeläut aus »High Hopes« von Pink Floyd und schaute versonnen durch das dreckige, von ockergelben Vorhängen eingerahmte Fenster. Ich ließ meinen Blick über den betonierten Schulhof schweifen, auf dem eine einsame Plastiktüte leise vom Wind davongeweht wurde. Dieser Moment war es wert, sich für immer in mein Gedächtnis einzubrennen. Es war pure Magie. Ich guckte rüber zu Sandra, meiner Tischnachbarin, die ebenfalls leicht verklärt ins Nichts starrte. Uns schien schon jetzt die große weite Welt zu Füßen zu liegen. The sky was the limit!

Wie ich zu dieser wahnwitzigen Einschätzung kam? Zuversichtliche Bekundungen jeglicher Art hatte es nie zuvor beim Oberst gegeben. Sein Unterricht war purer Formeldrill, Sprüche wie »Leistung ist Arbeit DURCH Zeit, nicht MAL Zeit, Herrschaften!« waren sein Stil. Und natürlich versorgte er uns regelmäßig mit Geschichten über sein hartes Lehramtsstudium bei der Bundeswehr, das ihn zu einem Universalgenie gemacht hatte, das aus einem Kugelschreiber und einer Rolle Klopapier eine Autobombe basteln und die Quantenfeldtheorie in sechsundvierzig unterschiedlichen antiken Sprachen he runterbeten konnte. Nebenher sparte er in seinem Unterricht nicht an Weisheiten, die uns auf das wahre Leben vorbereiten sollten, nicht auf den »Pipifax«, von dem wir glaubten, dass er auf uns wartete.

Nichtsdestotrotz: Wenn Oberst Stahl an diesem Punkt meiner Schulkarriere behauptete, dass ich das Abitur sicher in der Tasche hätte, war das ein gigantischer Entwicklungssprung im Vergleich zu dem, was er mir in der siebten Klasse prophezeit hatte: »Tanja, du wirst in Mathe niemals auf einen grünen Zweig kommen. Genau genommen müssen wir sogar froh sein, wenn das Kultusministerium für dich keine Note 8 einführt. Und selbst dann wirst du denken, dass es eine 0 mit schickem Gürtel ist!«

Motivation sah irgendwie anders aus. Aber zum Glück blieb Oberst Stahl seinen alten Grundsätzen treu. »Und wenn ihr dann am Ende der dreizehnten Klasse euer Abiturzeugnis in den Händen halten werdet«, fuhr er jetzt fort und riss mich aus meinen Gedanken, »dann könnt ihr euch damit den Arsch abwischen!«

Rums! Meine Kinnlade klappte he runter, und abrupt erstarb das Gedudel von Pink Floyd in meinem Kopf.

Totenstille. Wir verharrten in einer Art Schockstarre auf den maroden Holzstühlen und hielten den Atem an. Unsere ausdruckslosen Blicke klebten an den zu einem fiesen Lächeln verkniffenen Lippen unseres Mathelehrers. Er hielt unserem Glotzen stand. Das war seine liebste Pose, wenn er uns mal wieder eine Aufgabe stellte, die niemand lösen konnte.

»Tja, ihr Bankschläfer, wenn ich mich schon wie im Zoo begaffen lasse, dann müsst ihr auch wenigstens mit Erdnüsschen werfen!«, kommentierte er die Reglosigkeit in der Klasse, die er immerhin selbst ausgelöst hatte.

Meine Klassenkameraden und ich warfen uns statt Erdnüssen unsichere Blicke zu, bis auf einmal Guido lauthals loslachte: »Hey, guter Witz, Herr Stahl! Und ich wäre fast drauf reingefallen.«

Erleichtert atmeten alle auf. Beinahe wären wir unserem Oberst auf den Leim gegangen! Wer konnte auch ahnen, dass sich hinter der Fassade unseres sonst so humorlosen, ja sadistisch veranlagten Mathelehrers ein kleiner Komödiant verbarg? Wahrscheinlich wollte er uns mit dieser uns noch unbekannten Seite an ihm zum neuen Schuljahr überraschen und in der Oberstufe willkommen heißen. Hier, wo wir uns auf Augenhöhe unterhalten konnten.

»Ach, der Herr Döllke glaubt, ich beliebe zu scherzen?« Oberst Stahls Stimme wurde eiskalt, und er zog die Augenbrauen hoch. »Keineswegs. Das ist die knallharte Realität, mein Lieber! Die Mädchen können später, wenn sie ganz viel Glück haben, bei Karstadt putzen gehen, und die Jungs werden dort als Pförtner arbeiten.«

Und noch mal: Rums! Wir guckten uns abermals irritiert an. Was sollten wir von Stahls Ansprache zum neuen Schuljahr halten?

Zum Glück klingelte in diesem Moment die Pausenglocke, und unser Mathelehrer verabschiedete sich mit den Worten: »Also, Rekruten - wenn ihr dachtet, ihr habt das Schlimmste hinter euch, dann muss ich euch leider enttäuschen! Jetzt fängt der Spaß erst richtig an!«

Dann schlug er die Hacken zusammen und beförderte einen Stapel Blätter aus seiner Tasche auf das Pult.

Eingeschüchtert schlichen die Schüler an ihm vorbei in Richtung großer Pause, natürlich nicht ohne sich eines der Papiere abzuholen. Da rauf stand: »Herzlich willkommen in der Stufe 11. Viel Spaß mit den Hausaufgaben!« Und als Nachsatz am unteren Ende von Blatt zwei war zu lesen: »PS Am Arsch hängt der Hammer, und da hängt er gut!«

Nach wenigen Tagen in der elften Klasse lag mir der Mathegrundkurs schon wieder wie ein Pflasterstein im Magen. Ich verstand, gelinde gesagt, gar nichts. Und dabei hatte mir Robert, den ich natürlich auch in diesem Schuljahr verpflichtet hatte, versprochen, dass Stochastik doch soooo leicht sei. Dass das selbst die absoluten Idioten verstünden. Sogar ich, die Amöbe.

Pustekuchen. Ich konnte weder dem Unterricht folgen noch die Hausaufgaben lösen. Es war mir ein Rätsel, wie ich mich bis zum Ende der zwölften Klasse durchschummeln und mir meinen Gnadenpunkt bei Oberst Stahl sichern sollte. Zwar hatte ich das Glück, Mathe nach Stufe 12 abwählen zu können, wenn ich dafür Biologie als Leistungskurs belegte. Doch da musste ich erst mal hinkommen! Zumal mir Biologie auch nicht unbedingt leichtfiel, immerhin gehörte es im weitesten Sinne zu den Naturwissenschaften und stand somit umgekehrt proportional zu seiner Erwünschtheit in meinem Stundenplan.

Meine Talente lagen eindeutig im sprachlichen Bereich. Obwohl ich für Deutsch- und Englisch-Klausuren nie lernte, bekam ich jedes Mal gute Zensuren. Auch war ich stets die Erste, die nach ungefähr der Hälfte der vorgegebenen Zeit mit der Klausur fertig war, dann aber aus Höflichkeit der Lehrkraft und aus schlechtem Gewissen den anderen gegenüber noch bis zum Ende der Stunde am Platz sitzen blieb und das Blatt hypnotisierte. Ich war also eine Art Teilbegabte, wie so viele, und leider keiner dieser Universalisten, die perfekt für das System Schule geeignet sind. Doch mit den Naturwissenschaften und speziell der Mathematik und der Physik blieb ich weiterhin per Sie. Obwohl Oberst Stahl in unserem Kurs seine letzte Runde machte und mit dem Ende der zwölften Klasse in Rente gehen würde, war ich mir sicher, bei ihm nicht auf Altersmilde hoffen zu können. Strammstehen, sobald er den Kursraum betrat, war nach wie vor an der Tagesordnung. Und wenn im Winter in der ersten Stunde, um 7:45 Uhr, Mathe auf dem Stundenplan stand, ordnete der Oberst jedes Mal an, sämtliche Fenster zu öffnen, um frische Luft hin einzulassen, damit unsere pubertierend trägen Hirne anliefen. Dass wir bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt blau anliefen und zitterten wie Muhammad Ali, interessierte ihn wenig. Er kommentierte unser Bibbern lediglich mit einem emotionslosen: »So, ihr Weicheier, wenn euch kalt ist, müsst ihr vor der Schule eben einen kleinen Dauerlauf einrichten!«

Und dann kam jener Tag, von dem ich die ganze Mittelstufe über immer gedacht hatte, ich würde mich auf ihn freuen: Robert hatte sein Studium mit Bravour bestanden und erhielt ein Job-Angebot. In München. Siebenhundert Kilometer von Gelsenkirchen entfernt.

Aber statt mich innerlichen Jubelstürmen hinzugeben, überkam mich eine spontane Panikattacke: Wie sollte ich ohne ihn die restlichen zwei Jahre der Oberstufe überstehen? Wer sollte mir jetzt die Algebra-Vokabeln übersetzen? Und verdammt: Was hatte es mit dieser Kurvendiskussion auf sich? Das klang kompliziert! Ich hatte nach drei Jahren Nachhilfe bei Robert gerade mal das kleine Einmaleins, die Grundrechenarten und einige primitive Formeln auf dem Kasten - wie sollte ich mich da an die höhere Mathematik heranwagen?

Mir blieb nichts anderes übrig: Ich pfuschte mich so durch, und ohne Bine, die im Gegenzug dafür von mir immer die englischen Interpretationen bekam, wäre es wohl gar nicht gegangen. Die Grundausstattung, die Robert mir verpasst hatte, hatte mir aber immerhin quasi den Freischwimmer in Mathe ermöglicht, und so erhielt ich am Ende der elften Klassenstufe sogar ein ganz besonderes Lob von Oberst Stahl: »An der Tanja könnt ihr euch mal eine Scheibe abschneiden. Die ist in Mathe zwar vollkommen talentfrei, aber die gibt sich wenigstens Mühe!«

Wie ich später noch dutzende Male erleben sollte, ging es genau da rum bei der Nachhilfe: eine pragmatische Lösung für eine eigentlich ausweglose Situation finden. Nachhilfe bedeutet nicht, dass man aus einem ohnehin schon guten Schüler einen sehr guten, aus einem durchschnittlich Begabten einen Einstein macht. Nachhilfe bedeutet, dass man am Bodensatz der Schülerschaft he rumkratzt und versucht, die müden Hirne der anwesenden Nachhilfeschüler zu einer minimalen geistigen Leistung zu bewegen.

Ich bekam ihn dann aber tatsächlich. Den Gnadenpunkt. Und zwar jedes Mal, in jeder Arbeit, in jedem Test und jeder mündlichen Note - bis zum Ganzjahreszeugnis der zwölften Klasse, als nicht nur die Ära des Obersts zu Ende ging, sondern ich das Fach endlich für immer und ewig von meinem Stundenplan verbannen konnte.

Im Rückblick, knapp zwanzig Jahre und einige persönliche Erfahrungen als Pädagogin später, war Oberst Stahl zweifelsfrei ein Universalgenie. Denn er beherrschte nicht nur die hohe Kunst der Mathematik, er war tatsächlich unterhaltsam - wenn auch auf seine ganz eigene Art, und zweifelsohne ganz und gar unbeabsichtigt. Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Kollegen war sein Umgangston mit den Schülern zwar rau, seine Aufopferung, was die dreihundertfünfundachtzigste Erklärung der einfachen Bruchrechengesetze anging, jedoch vorbildlich. Da rüber hinaus sorgte er mit seinem losen Mundwerk dafür, dass uns niemals langweilig wurde. Wäre er mit seinen Geberqualitäten statt am Gymnasium beim Fernsehen gelandet, wäre er vermutlich nicht nur in Nullkommanichts Millionär geworden, sondern würde heute anstelle von Thomas Gottschalk Werbung für bunte Weingummis machen. Auch das ZDF hätte sich den ganzen »Wetten, dass ...?«-Nachfolger-Schnickschnack schenken können, denn Oberst Stahl hätte nicht hingeschmissen, sondern die Sendung pflichtbewusst bis zum letzten Tag durchgezogen. Und das, was Gottschalk einmal im Monat verkrampft und in der Tradition des Altherrenwitzes für drei Stunden ablieferte, schoss mein Mathelehrer zuverlässig von Montag bis Freitag und jeden zweiten Samstag (ja, ich musste noch samstags in die Schule) mit lockerer Selbstverständlichkeit und auf hohem Niveau mal eben aus der Hüfte, ohne dass er auch nur einen Gag- Schreiber dafür verpflichtet hätte. Und selbst Dieter Bohlens geistige Ergüsse bei DSDS hätten gegen die scharfzüngigen und zum Teil despektierlichen Kommentare meines Mathelehrers wie watteweiche Sympathiebekundungen geklungen.

Erst Jahre nach meinem Abitur wurde mir das bewusst, welches Entertainment-Talent in meinem Mathelehrer geschlummert hatte. Aber da war Oberst Stahl schon längst in Rente, und ich steckte selbst knietief in der didaktischen Scheiße.


2
Beim ersten Mal tat's noch weh

Meine erste Erfahrung als Nachhilfelehrerin machte ich im zweiten Halbjahr der elften Klasse. Nach frustrierenden Nebenjobs in einschlägigen Fast-Food-Restaurants, einer Papierfabrik und als Promoterin konnte ich mein Glück kaum fassen, als mir meine Englischlehrerin eine Nachhilfeschülerin vermittelte.

Ich nahm mir vor, alles ganz anders zu machen als Robert, mein Mathe-Nachhilfelehrer, und all die anderen Gurken, die sich an mir versucht hatten - denn obwohl Roberts Masche einige Erfolge im Promillebereich hatte einfahren können, so war sie doch eine Qual für mich gewesen. Und Lernen sollte Spaß machen, das war ja vollkommen klar! Ich wollte auf meine Schüler eingehen, sie motivieren und loben. Meine Nachhilfe sollte den Schülern ein ewig sprudelnder Quell der Freude sein. Bei mir sollten die Schüler die Liebe zur englischen Sprache entdecken, um am Ende locker mit Native Speakers parlieren zu können! Ich wollte von meinen Schülern gemocht werden, war hoch motiviert und bereitete mich mithilfe des Englischbuchs perfekt auf meine neue Aufgabe vor. Ich löste die gesamten Aufgaben aller Units, erstellte kleine Karteikärtchen mit den neunhundertdreiundachtzig Vokabeln der ersten fünfzig Seiten und nahm alle Texte des Englischbuchs mithilfe eines tragbaren Rekorders auf Kassette auf, damit sich meine Nachhilfeschülerin direkt die richtige Aussprache einprägen konnte.

Ich hatte nicht vor, nur das mit ihr zu wiederholen, was sie bereits in der Klasse durchgenommen hatte, oh nein: Ich würde mit meiner ersten Nachhilfeschülerin dem Wort Nachhilfe eine ganz neue Bedeutung verleihen. Nach mir würden Lehrbücher benannt und Statuen errichtet werden! Die Latte der Erwartungen hing hoch, und meine naiven Vorstellungen schafften es mit einem eleganten Sprung locker da rüber.

Vor der ersten Stunde war ich trotzdem ziemlich nervös. Was würde mich das Mädchen fragen? Würde ich antworten können? Konnte ich überhaupt gut erklären? Ich beruhigte mich damit, dass die Schülerin die sechste Klasse besuchte und mit allergrößter Wahrscheinlichkeit viel schlechter Englisch sprach als ich. Ansonsten hätte sie ja keine Nachhilfe gebraucht. Außerdem hatte meine Englischlehrerin mich als Nachhilfelehrerin empfohlen - deswegen war davon auszugehen, dass sie mir das Ganze grundsätzlich zutraute und mich weder fachlich noch pädagogisch für eine Nullnummer hielt.

Davon abgesehen spielte ich schon länger mit dem Gedanken, nach dem Abitur Anglistik und Germanistik auf Lehramt zu studieren. Meine Leidenschaft für die englische und deutsche Sprache, die krisensichere Verbeamtung und, na gut, auch die langen Ferien ließen den Job in einem rosarot verklärten Licht erscheinen. Nur die nicht ganz nebensächliche Frage, ob ich überhaupt unterrichten konnte, hatte ich bislang noch nicht beantworten können - gut, allzu oft ergab sich im Leben einer Abiturientin dafür auch nicht die Gelegenheit. Grund genug, dem bislang nur vage formulierten Berufswunsch endlich ein solides Fundament zu geben und mit dem Unterrichten zu beginnen. Wenn es mir nicht gefiel, konnte ich ja wieder zurück zum Fast-Food- Restaurant gehen und dort Burger einpacken.

Trotzdem zitterte ich vor Aufregung, als es an einem verregneten Mittwochnachmittag im März an der Tür klingelte. Meine erste Nachhilfestunde in neuer Rolle fand in der Küche meines Elternhauses statt. Zehn Mark bekam ich für neunzig Minuten Nachhilfe. Das war für damalige Verhältnisse kein schlechter Kurs. Heute würde ein Nachhilfelehrer vermutlich wegen Lohndumpings vor dem Bundesgerichtshof klagen, wenn man ihm fünf Euro für anderthalb Stunden Unterricht anbieten würde.

Die Schülerin hieß Birte und hatte in der letzten Englischarbeit eine Vier minus geschrieben. Sie war ein kleines schüchternes Mädchen und wurde von ihrer Mutter zu mir begleitet. Ich zeigte Birte und ihrer Mutter unsere Küche, wo wir künftig einmal in der Woche Englisch üben würden. Auf dem Küchentisch hatte ich zwei Gläser, eine Flasche Mineralwasser, Schokoladenkekse und eine Schale mit Gummibärchen gestellt. Nervennahrung. Für mich, nicht für Birte.

»Ach, guck mal, Schatz. Gummibärchen gibt es auch«, bemerkte Birtes Mutter und lächelte ihrer Tochter aufmunternd zu. Ich verbuchte das als Pluspunkt für mich. Meine Schülerin würde zumindest nicht verhungern, selbst wenn sie genauso doof das Haus verlassen würde, wie sie gekommen war.

Als Birtes Mutter weg war, saßen Birte und ich uns erst einmal schweigend gegenüber.

»Ich bin ein wenig nervös«, gab ich schließlich zu und versteckte meine zitternden Hände unter der Tischplatte.

»Ich auch«, fiepste Birte und lächelte mich zahnlückig an.

Unser gegenseitiges Geständnis brach das Eis zwischen uns, und nachdem wir die Schüssel mit den Gummibärchen schwesterlich geteilt hatten, ließ ich mir von meiner Nachhilfeschülerin zeigen, an welcher Stelle im Buch ihre Klasse war und welche Hausaufgabe sie aufbekommen hatten.

Nach einer Viertelstunde war meine Nervosität völlig verflogen. Glücklicherweise stellte sich he raus, dass Birte tatsächlich viel schlechter in Englisch war als ich und ich jede ihrer Fragen beantworten konnte. Als sie am Ende der Stunde nicht nur sämtliche Schokoladenkekse aufgefuttert, sondern sogar verstanden hatte, was es mit dem gemeinen Past Tense auf sich hatte, und dass es neben den regelmäßigen Formen auch unregelmäßige gab, war ich erleichtert und außerdem sicher, dass der Lehrerjob genau mein Ding war - auch wenn ich die Nachhilfekärtchen und die Kassette mit meinen eingelesenen Unit-Texten ganz unauffällig verschwinden ließ und nie wieder erwähnte. Ich war ja so unendlich naiv gewesen ... Native Speaker. Flüssiges Parlieren. Freies Vokabeltraining! Ha! Ich konnte mich glücklich schätzen, wenn ich Birte irgendwann dazu bringen konnte, das Present Progressive und das Past Perfect auseinanderzuhalten und nicht an jedes Verb ein s dranzukleben!

»Na, das hat sich dann ja schon richtig gelohnt«, stellte Birtes Mutter zufrieden fest, als ich ihr stolz von dem bescheidenen Etappensieg berichtete, und drückte mir wohlwollend einen Zehnmarkschein in die Hand.

»Das ist auch gar nicht so schwer gewesen wie in der Schule!«, krähte Birte dazwischen. Sie war in den vergangenen neunzig Minuten wirklich aufgetaut. »Da hat die Lehrerin das nicht so gut erklärt. Die Tanja kann das viel besser!«

»Hauptsache, du hast es jetzt verstanden!« Ich bemühte mich, den Stolz in meiner Stimme zu unterdrücken, obwohl mir Birtes Lob natürlich runterging wie Öl, und verabschiedete mich von Mutter und Tochter.

Ich gewöhnte mich schnell ans Nachhilfegeben, und schon bald da rauf sprach sich mein neuer Nebenjob herum. Nach ein paar Wochen kamen Nachhilfeschüler auf Empfehlung zu mir. Einige blieben mir mehr als ein Schuljahr erhalten, andere kriegten schon nach wenigen Monaten die Kurve und konnten ruhigen Gewissens wieder entlassen werden. Und mit jedem Nachhilfeschüler wurde mein Beschluss bestärkt: Ich möchte Lehrerin werden!

Die Zeit in der Oberstufe verging wie im Flug. Neben der Paukerei für Klausuren, Partys am Wochenende und Nachhilfestunden hatte sich das Abitur unbemerkt herangeschlichen. Die Vorbereitungs- und die Klausurphase sowie die Wochen der mündlichen Prüfungen flogen an mir, übernächtigt, gestresst und am Ende meiner seelischen und körperlichen Kräfte, vorbei, und eines Tages war es plötzlich überstanden. Einfach so.

Ich wartete nervös vor dem Lehrerzimmer, um zu erfahren, ob ich es gepackt hatte oder nicht. In der mündlichen Prüfung in Religion hatte ich einen totalen Blackout gehabt. In Religion! Dem Fach, in dem man eigentlich über keine besonderen Fähigkeiten außer rhetorischen verfügen musste! Und dabei waren die Laberfächer doch eigentlich meine Stärke ... Aber besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen, stellte ich konsterniert fest, denn in meiner Prüfung war ich zum allgemeinen Entsetzen aller Anwesenden (mich inbegriffen) nicht mehr in der Lage gewesen, logische Zusammenhänge zu erkennen, geschweige denn Lösungen herzuleiten. Das Einzige, was ich in meiner Verzweiflung wahrnahm, war das entsetzte Gesicht meiner Religionslehrerin, die mich irgendwann in der Prüfung fragte: »Was ist denn los mit dir? So kenne ich dich ja gar nicht!« Und sie musste es wissen, denn sie unterrichtete mich seit der fünften Klasse.

Dementsprechend unruhig saß ich nun auf einem der wackligen Stühle vor dem Büro des Direktors und harrte der Dinge, die da kommen würden. Ich wusste genau: Wenn ich Religion versaut hatte, dann musste ich in die mündliche Nachprüfung, und das wollte ich um jeden Preis vermeiden. Geschichte - mündlich! Nur über meine Leiche! Das war die Höchststrafe ... na ja, bis auf Mathe vielleicht. Aber wer wusste schon, ob es mit Geschichte klappen würde? Und was passierte, wenn es nicht hinhaute? Was sollte ich dann machen? Ein Fachabitur reichte für das Lehramtsstudium nicht aus, und einen alternativen Berufswunsch hatte ich nicht in petto. Ich hatte mich schließlich die letzten zwei Jahre minutiös da rauf vorbereitet, Lehrerin zu werden!

Als mein Name aufgerufen wurde, ging ich mit zittrigen Beinen in das Zimmer des Direktors.

»Dann setz dich mal«, sagte er, deutete auf den Platz gegenüber seinem Schreibtisch und überflog den Zettel, auf dem meine Ergebnisse standen. »Tja, du hast es wohl geschafft. Wer hätte das gedacht?«

Er zupfte ein Taschentuch aus der bereitstehenden Box, die er für alle Fälle dort aufgestellt hatte, und reichte es mir über die Tischplatte.

Ich hatte bestanden? Ich hatte BESTANDEN!!!

In diesem Moment löste sich die Anspannung der letzten Wochen, und Freudentränen liefen unkontrolliert über meine Wangen.

»Wow«, schniefte ich gerührt. »Dann kann ich ja jetzt Lehrerin werden!«

Mein Direktor lehnte sich schmunzelnd in seinem Stuhl zurück. »Du lässt dich wirklich durch gar nichts abschrecken, was?«, bemerkte er kopfschüttelnd. »Noch nicht mal durch elf Jahre Schalker-Gymnasium.«

»Nee, so leicht lasse ich mich nicht vom Weg abbringen. Und mein Schulpraktikum werde ich auch hier machen!«

Mein Direktor grinste. »Ist das ein Versprechen?«

»Nein«, sagte ich mit einem Lächeln, stand auf und drückte fest seine Hand. »Eine Drohung.«


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