Herzzerreißend schön!

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Beschreibung


Herzzerreißend schön!

"Lou und Will sind ein Paar, das Leser genauso in ihr Herz schließen werden wie Emma uns Dex aus 'Zwei an einem Tag'."
THE INDEPENDENT

"Diese Geschichte einer unwahrscheinlichen Liebe trifft so ins Herz, dass man eine Packung Taschentücher braucht."
ELLE

Louisa Clark weiß, dass sie gerne als Kellnerin arbeitet und dass sie ihren Freund Patrick eigentlich nicht liebt. Sie weiß nicht, dass sie schon bald ihren Job verlieren wird. Will Traynor weiß, dass es nie wieder so sein wird wie vor dem Unfall. Und er weiß, dass er dieses neue Leben nicht führen will. Er weiß nicht, dass er schon bald Lou begegnen wird. Eine Liebesgeschichte, anders als alle anderen. Die Liebesgeschichte von Lou und Will.

Klappentext

Louisa Clark weiß, dass nicht viele in ihrer kleinen Heimatstadt ihren leicht exzentrischen Modegeschmack teilen. Sie weiß, dass sie gerne als Kellnerin arbeitet und dass sie ihren Freund Patrick eigentlich nicht liebt.
Sie weiß nicht, dass sie schon bald ihren Job verlieren wird und wie tief das Loch ist, in das sie dann fällt.
Will Traynor weiß, dass es nie wieder so sein wird, wie vor dem Unfall. Und er weiß, dass er dieses neue Leben nicht führen will.
Er weiß nicht, dass er schon bald Lou begegnen wird.
Eine Frau und ein Mann. Eine Liebesgeschichte, anders als alle anderen. Die Liebesgeschichte von Lou und Will.


Mehr zum Inhalt:
Smaragdgrüne Pumps, paillettenbesetzte Shorts, ein Minikleid geschneidert aus Großvaters Gardinen: Louisa Clarks Kleidungsstil ist zwar exzentrisch, aber ansonsten führt sie ein recht beschauliches Leben in einer gemütlichen englischen Kleinstadt. Als sie jedoch ihren geliebten Job in einem Café verliert, ist sie verzweifelt. Sie braucht das Geld, lebt bei ihrer Familie und muss diese unterstützen da das Auskommen des Vaters nicht ausreicht. Ein neuer Job muss her, und das schnell - nicht leicht ohne Ausbildung. Da kommt ihr eine befristete Stelle als Pflegehelferin des querschnittsgelähmten Will Traynor gerade recht. Doch die Aufgabe hat es in sich: der 35-jährige gibt sich noch ein halbes Jahr Zeit, dann will er seinem Leben ein Ende bereiten - in einer Schweizer Klinik mittels Sterbehilfe.


Die Abenteuerlust im Kleiderschrank vergraben

Lou und Will - das sind zwei Welten, die aufeinanderprallen. Auf der einen Seite der intelligente, vermögende und mitunter verbitterte Will, der bis zu seinem Unfall vor zwei Jahren sein Leben in vollen Zügen genossen hat. Der ehemalige Adrenalinjunkie liebte es, große Geschäfte abzuschließen, im Yosemite Park zu klettern oder in den Vulkanquellen Islands zu baden. Auf der anderen Seite Lou, die nie richtig gelebt hat und von einer seltsamen Antriebslosigkeit gelähmt ist. Der Grund dafür liegt in einem tragischen Ereignis in der Vergangenheit. Dass ausgerechnet sie, deren kreativer Ehrgeiz sich auf ihren Kleiderschrank zu beschränken scheint, ihm Lebensmut vermitteln will, frustriert Will anfangs. Jeder Tag verläuft anders, je nach Wills Stimmung.

Lous Lebensmut und Wills Sterbepläne

Die britische Schriftstellerin und Journalistin Jojo Moyes zeichnet in ihrem Roman „Ein ganzes halbes Jahr" ein klares, unpathetisches Bild, wie das Leben Wills von der Behinderung und Schmerzen geprägt ist. Und wie Lou Strategien entwickelt, damit umzugehen. Da die junge Frau offen und direkt ist und ihn nicht mit Samthandschuhen anpackt, gelingt es ihr schnell, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. In einer Reihe von tragikkomischen und anrührenden Szenen lernen beide, dem Anderen zuzuhören und aufeinander einzugehen. In der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber sind sie außerdem gezwungen, ihre eigenen Leben zu überdenken. Als Lou von Wills Sterbeplänen erfährt, setzt sie sich in den Kopf, ihn davon abzubringen.

Der Pakt eines ungleichen Paares

Die beiden schließen einen Pakt, als Will den wahren Grund für Lous Passivität erfährt: Wenn er sich wieder mehr für seine Zukunft interessieren soll, dann muss auch sie ihr eigenes Leben in die Hand nehmen. Will nimmt sich vor, Lou voranzubringen - mit Musik, Literatur und Gesprächen. Gemeinsam planen sie charakterbildende Unternehmungen: Ausflüge, Konzertbesuche, Spazierfahrten mit dem Auto, Familienfeste. Die gemeinsamen „Abenteuer" sollen dazu beitragen, die Lebenseinstellung des Anderen zu verändern. Lou lässt sich auf Wills Vorhaben ein und beginnt sogar, die einst verhasste Bibliothek der Stadt zu besuchen, um sich im Internet mit Betroffenen über Körperbehinderung auszutauschen. Dabei lernt sie Menschen kennen, die nicht nur Wills Schicksal teilen, sondern auch ihr eigenes.

Die Fröhlichkeit des Anderen

Je mehr das ungleiche Paar sich miteinander beschäftigt, desto näher kommen sie sich. Und bald merkt Lou, dass Wills Fröhlichkeit ihr mehr bedeutet, als sie sich zunächst eingesteht. Doch Will muss gesundheitliche Rückschläge erleben, der Termin für seine geplante Reise in die Schweiz rückt näher ...

Rezension

 

Diese Geschichte einer unwahrscheinlichen Liebe trifft so ins Herz, dass man eine Packung Taschentücher braucht! Elle

Leseprobe

Ein ganzes halbes Jahr von Jojo Moyes


Prolog

2007

Als er aus dem Bad kommt, ist sie wach, hat sich gegen das Kopfkissen gelehnt und blättert durch die Reiseprospekte, die neben seinem Bett gelegen haben. Sie trägt eines seiner T-Shirts, und ihr langes Haar ist auf eine Art zerzaust, die ihn unwillkürlich an die vergangene Nacht denken lässt. Er steht im Schlafzimmer und genießt die Erinnerung, während er sich mit einem Handtuch die Haare trocken rubbelt.
Sie schaut von einem Prospekt auf und zieht einen Schmollmund. Sie ist ein bisschen zu alt, um einen Schmollmund zu ziehen, aber sie sind erst so kurz zusammen, dass er es noch süß findet.
«Müssen wir unbedingt einen Berg besteigen oder über einer Schlucht baumeln? Das ist unser erster richtiger Urlaub zusammen, und hier drin gibt es keine einzige Reise, bei der man sich nicht entweder irgendwo runterstürzen oder», sie tut so, als würde sie erschauern, «Fleecejacken tragen muss.»
Sie wirft die Prospekte aufs Bett und streckt ihre karamellfarbenen Arme über dem Kopf. Ihre Stimme ist belegt, weil sie so wenig geschlafen hat. «Wie wär's mit einem Luxus-Spa in Bali? Da könnten wir am Strand faulenzen ... uns stundenlang verwöhnen lassen ... lange, entspannende Nächte ...»
«So ein Urlaub ist nichts für mich. Ich muss was tun.»
«Zum Beispiel aus Flugzeugen springen.»
«Probier's doch erst mal aus, bevor du es ablehnst.»
Sie zieht ein Gesicht. «Wenn es dir nichts ausmacht, bleibe ich lieber gleich bei der Ablehnung.»
Sein Hemd liegt nach dem Duschen mit einem Hauch Feuchtigkeit an seiner Haut. Er fährt sich mit einem Kamm durchs Haar, stellt sein Handy an und zuckt angesichts der langen Liste neu eingegangener Nachrichten, die sich durch das kleine Display schiebt, leicht zusammen.
«Okay», sagt er. «Ich muss los. Du nimmst dir was zum Frühstück, ja?» Er beugt sich über das Bett und küsst sie. Ihr warmer Körper riecht ganz leicht nach Parfüm und sehr sexy. Er atmet den Duft durch ihr Haar ein und lässt sich ablenken, als sie ihm die Arme um den Nacken legt und ihn zu sich herunterzieht.
«Fahren wir dieses Wochenende wirklich zusammen weg?»
Widerstrebend macht er sich von ihr los. «Kommt darauf an, wie der Deal läuft. Zurzeit hängt alles ein bisschen in der Luft. Es kann immer noch sein, dass ich nach New York muss. Aber auf jeden Fall können wir am Donnerstagabend irgendwo schick essen gehen. Du darfst das Restaurant aussuchen.» Er greift hinter der Tür nach seiner Motorradkombi aus Leder.
Sie verengt die Augen. «Abendessen. Mit oder ohne Mr. Blackberry?»
«Was?»
«Wenn Mr. Blackberry mitkommt, fühle ich mich wie das fünfte Rad am Wagen.» Sie zieht wieder ihren Schmollmund. «Als müsste ich mit jemand anderem um deine Aufmerksamkeit konkurrieren.»
«Ich stelle ihn auf lautlos.»
«Will Traynor!», schimpft sie. «Es muss doch möglich sein, dass du das Ding einmal ausstellst.»
«Das habe ich doch gerade erst heute Nacht gemacht, oder etwa nicht?»
«Aber erst nach heftiger Nötigung.»
Er grinst. «So nennt man das also heutzutage?» Er steigt in seine Lederhose. Der Bann ist gebrochen. Er nimmt die Motorradjacke und wirft ihr im Hinausgehen noch eine Kusshand zu. Auf seinem Blackberry sind zweiundzwanzig neue Nachrichten, von denen die erste nachts um 3 : 42 Uhr aus New York gekommen ist. Ein juristisches Problem. Er fährt mit dem Lift zum Parkhaus im Untergeschoss und versucht, sich einen Überblick über die Nachrichten zu verschaffen.
«Morgen, Mr. Traynor.»
Der Wachmann tritt aus seinem Häuschen. Es ist wetterfest, obwohl es hier unten kein Wetter gibt, vor dem man sich schützen müsste. Will fragt sich manchmal, was der Wachmann nach Mitternacht noch zu tun hat, außer auf den Bildschirm der Videoüberwachung und die glänzenden Stoßstangen von 60 000-Pfund-Autos zu starren, die niemals schmutzig werden.
Er streift die Lederjacke über. «Wie ist es draußen, Mick?»
«Schrecklich. Es gießt in Strömen.»
Will hält inne. «Wirklich? Also kein Wetter zum Motorradfahren? »
Mick schüttelt den Kopf. «Nein, Sir. Es sei denn, Sie haben ein Schlauchboot im Gepäck. Oder Selbstmordgedanken.»
Will betrachtet sein Motorrad, dann legt er die Ledermontur ab. Auch wenn Lissa es anders sieht, er ist kein Mann, der unnötige Risiken eingeht. Er schließt den Motorradkoffer auf dem Gepäckträger auf, legt die Ledermontur hinein, schließt wieder ab und wirft die Schlüssel Mick zu, der sie geschickt mit einer Hand auffängt. «Können Sie mir die in den Briefkasten werfen?»
«Kein Problem. Soll ich Ihnen ein Taxi anhalten?»
«Nein danke. Bringt ja nichts, wenn wir uns beide nass regnen lassen.»
Mick drückt den Knopf, um das Torgitter hochfahren zu lassen, und Will hebt zum Dank die Hand, während er hinausgeht. Der frühe Morgen schließt sich dunkel und lärmend um ihn. Obwohl es erst kurz nach halb sieben ist, herrscht im Londoner Zentrum schon dichter, zähflüssiger Verkehr. Will schlägt den Kragen hoch und geht mit langen Schritten die Straße entlang Richtung Kreuzung, wo er hofft, ein Taxi anhalten zu können. Die Straße ist schlüpfrig vom Regen, graues Licht spiegelt sich auf dem nass glänzenden Bürgersteig.
Er flucht tonlos, als er die anderen Anzugträger entdeckt, die an der Bordsteinkante stehen. Seit wann stehen eigentlich alle Londoner so früh auf? Alle hatten den gleichen Gedanken gehabt.
Er fragt sich gerade, wo er sich am besten hinstellen soll, als sein Telefon klingelt. Es ist Rupert.
«Ich bin auf dem Weg. Versuche gerade, eine Taxe zu bekommen. » Er sieht auf der anderen Straßenseite ein Taxi entlangfahren, dessen beleuchtetes Schild zeigt, dass es frei ist, und beginnt, dem Wagen mit langen Schritten entgegenzugehen. Er hofft, dass kein anderer dieses Taxi entdeckt hat. Ein Bus donnert vorbei, gefolgt von einem Laster mit quietschenden Bremsen, sodass er Rupert nicht mehr hören kann. «Ich hab dich nicht verstanden, Rupe», brüllt er über den Verkehrslärm. «Sag das noch mal.» Er steht jetzt auf einer Fußgängerinsel zwischen den Fahrbahnen, wird vom Verkehr umflossen wie von einem reißenden Strom und hebt die freie Hand zu dem leuchtenden Taxischild, wobei er hofft, dass ihn der Fahrer bei diesem heftigen Regen überhaupt sehen kann.
«Du musst Jeff in New York anrufen. Er ist noch auf, weil er auf deinen Rückruf wartet. Wir haben heute Nacht schon versucht, dich zu erreichen.»
«Was ist los?»
«Juristisches Hickhack. Bei zwei Vertragsklauseln mauern sie. Es geht um Absatz ... Unterschrift ... Papiere ...» Seine Stimme geht im Geräusch eines vorbeifahrenden Autos unter, dessen Reifen zischend durchs Regenwasser pflügen.
«Das habe ich eben nicht mitbekommen.»
Der Taxifahrer hat ihn gesehen. Er fährt langsamer und verursacht eine kleine Fontäne aus Spritzwasser, als er am Straßenrand auf der anderen Seite anhält. Will sieht einen Mann etwas weiter weg, der seinen kurzen Spurt abbricht, als er erkennt, dass Will vor ihm bei dem Taxi sein wird. Will spürt ein flüchtiges Triumphgefühl. «Hör zu, sag Cally, sie soll mir die Unterlagen auf den Schreibtisch legen», schreit er ins Telefon. «Ich bin in zehn Minuten da.»
Er schaut nach rechts und links, dann zieht er den Kopf ein, um die letzten Schritte über die Straße zu dem Taxi zu rennen, die Adresse seines Büros liegt ihm schon auf der Zunge. Der Regen läuft ihm in den Kragen. Bald wird er bis auf die Haut nass sein, obwohl er nur ein kurzes Stück im Freien gelaufen ist. Vielleicht muss er seine Sekretärin losschicken, um ihm ein anderes Hemd zu besorgen.
«Und wir müssen mit dieser Unternehmensbewertung fertig werden, bevor Martin reinkommt ...»
Ein kreischendes Geräusch lässt ihn aufsehen, es ist der schrille Ton einer Hupe. Er sieht die glänzend schwarze Seite des Taxis vor sich, der Fahrer lässt schon die Scheibe herunter, und am Rand seines Sichtfeldes bewegt sich etwas, das er nicht genau erkennt. Etwas, das mit unglaublicher Geschwindigkeit auf ihn zurast.
Er dreht sich danach um, und in diesem Sekundenbruchteil wird ihm klar, dass es ihn treffen wird, dass er keine Chance hat, dem Ding aus dem Weg zu gehen. Vor Schreck lässt er das Handy fallen. Er hört einen Schrei, der vielleicht sein eigener ist. Das Letzte, was er sieht, ist ein Lederhandschuh, Augen unter einem Helm, den Schock im Blick eines Mannes, der seinen eigenen spiegelt. Dann explodiert alles. Und dann ist da nichts mehr.


Kapitel 1

2009

Es sind 158 Schritte von der Bushaltestelle bis nach Hause, aber es können auch 180 werden, wenn man langsam geht, weil man zum Beispiel Plateauabsätze trägt. Oder Schuhe aus dem Secondhandladen mit Plastikschmetterlingen an der Spitze, aber ohne Halt für die Ferse, weswegen sie vermutlich auch nur 1,99 Pfund gekostet haben. An der Ecke bog ich in unsere Straße ein (68 Schritte) und konnte schon unser Haus sehen - eine Doppelhaushälfte mit vier Zimmern in einer Reihe mit anderen Drei- oder Vier-Zimmer-Doppelhaushälften. Dads Auto war da, was bedeutete, dass er noch nicht zur Arbeit gefahren war.
Hinter mir ging über Stortfold Castle die Sonne unter, der dunkle Schatten der Burg glitt wie flüssiges Wachs über den Hügel, als wollte er mich überholen. In meiner Kindheit ließen wir auf der Straße unsere langgezogenen Schatten die Schießerei am O. K. Corral nachspielen. An jedem anderen Tag hätte ich jetzt vermutlich erzählt, was ich in dieser Straße alles erlebt habe. Wo mir mein Vater das Radfahren ohne Stützräder beigebracht hat; wo Mrs. Doherty mit der schiefen Perücke Rosinenbrötchen für uns gebacken hat; wo Treena ihre Hand in eine Hecke gesteckt hat, als sie elf war, und in ein Wespennest griff, sodass wir kreischend bis zur Burg hinaufrannten.
Thomas' Dreirad lag auf dem Weg durch den Vorgarten, und nachdem ich die Gartenpforte hinter mir zugemacht hatte, stellte ich es unter die Veranda und ging ins Haus. Die Wärme traf mich wie ein Schlag; Mum ist wahnsinnig kälteempfindlich und lässt die Heizung das ganze Jahr laufen. Dad reißt immer die Fenster auf und jammert, sie würde uns noch alle ruinieren. Er behauptet, unsere Heizungsrechnung wäre genauso hoch wie die Verschuldung eines afrikanischen Kleinstaates.
«Bist du's, Liebes?»
«Ja, ich bin's.» Ich hängte meine Jacke an die Garderobe, wo sie zwischen all den anderen kaum noch Platz hatte.
«Welches Ich? Lou oder Treena?»
«Lou.»
Ich ging ins Wohnzimmer. Dad lag bäuchlings auf dem Sofa, den Arm tief zwischen die Polsterung gesteckt, als wäre das Sofa lebendig und hätte seinen Arm verschluckt. Thomas, mein fünfjähriger Neffe, hockte vor ihm und beobachtete ihn genau. «Dieses Lego.» Dad sah mich an, das Gesicht rot vor Anstrengung. «Warum sie die verdammten Teile so klein machen müssen, werde ich nie verstehen. Hast du den linken Arm von Obi-Wan Kenobi gesehen?»
«Der hat auf dem DVD-Player gelegen. Ich glaube, Thomas hat Obis Arme mit denen von Indiana Jones vertauscht.»
«Tja, anscheinend kann Obi unmöglich braune Arme haben. Wir müssen die schwarzen Arme finden.»
«Das ist doch kein Problem. In Episode II hackt ihm Darth Vader doch sowieso den Arm ab, oder?» Ich tippte mit dem Finger auf meine Wange, damit Thomas mir ein Küsschen gab. «Wo ist Mum?»
«Oben. Sieh mal an! Eine Zweipfundmünze!»
Ich sah auf und hörte von oben ganz schwach das vertraute Quietschen des Bügelbretts. Josie Clark, meine Mutter, setzte sich niemals in Ruhe hin. Das war für sie Ehrensache. Es war sogar vorgekommen, dass sie draußen auf der Leiter stand, den Fensterrahmen lackierte und uns gelegentlich zuwinkte, während wir anderen beim Essen saßen.
«Könntest du mal nach diesem blöden Arm suchen? Ich bin schon eine halbe Stunde dabei und muss langsam zur Arbeit.»
«Hast du Spätschicht?»
«Ja. Und es ist schon halb fünf.»
Ich warf einen Blick auf die Uhr. «Eigentlich ist es halb vier.»
Er zog seinen Arm zwischen den Kissen heraus und sah auf seine Uhr. «Wieso bist du dann schon zu Hause?»
Ich schüttelte nur unbestimmt den Kopf, als hätte ich die Frage nicht richtig gehört, und ging in die Küche.
Großvater saß über ein Sudoku gebeugt auf seinem Stuhl am Fenster. Die Krankenschwester hatte uns erklärt, mit Sudokus könnte er nach dem Schlaganfall seine Konzentrationsfähigkeit trainieren. Wahrscheinlich war ich die Einzige, die mitbekam, dass er die Kästchen einfach mit irgendwelchen Zahlen ausfüllte, die ihm gerade in den Sinn kamen.
«Hallo, Großvater.»
Er sah auf und lächelte.
«Möchtest du einen Tee?»
Er schüttelte den Kopf und öffnete leicht den Mund.
«Lieber etwas Kaltes?»
Er nickte. Ich machte den Kühlschrank auf. «Wir haben keinen Apfelsaft. » Apfelsaft war, wie mir jetzt wieder einfiel, inzwischen zu teuer für uns. «Da ist noch Limonade. Willst du die?»
Er schüttelte den Kopf.
«Wasser?»
Er nickte, und als ich ihm das Glas gab, murmelte er etwas, das ein Danke gewesen sein konnte.
Dann kam meine Mutter mit einem Korb voll säuberlich gefalteter Wäsche in die Küche. «Sind das deine?» Sie hielt ein Paar Socken hoch.
«Die gehören Treena, glaube ich.»
«Dachte ich mir schon. Merkwürdige Farbe. Sind wohl mit Dads blauem Pyjama in die Maschine geraten. Du bist früh zurück. Willst du irgendwohin?»
«Nein.» Ich trank ein Glas Leitungswasser.
«Kommt Patrick später vorbei? Er hat vorhin angerufen. Hattest du dein Handy ausgestellt?»
«Mmm.»
«Er hat gesagt, er will euren Griechenland-Urlaub buchen. Dein Vater hat eine Sendung darüber im Fernsehen gesehen. Wo wolltet ihr noch mal hin? Ipsos? Kalypso?»
«Skiathos.»
«Ja, das war's. Du musst genau aufpassen, welches Hotel ihr nehmt. Überprüf es lieber vorher im Internet. Dein Vater und Daddy haben im Mittagsmagazin so einen Beitrag gesehen. Anscheinend sind die Hotels bei der Hälfte der Billigangebote noch die reinsten Baustellen, und das merkt man dann erst, wenn man dort ist. Daddy, möchtest du einen Tee? Hat Lou dir keinen angeboten?» Sie setzte den Wasserkessel auf und sah mich an. Möglicherweise war ihr aufgefallen, dass ich die ganze Zeit nichts sagte. «Alles in Ordnung, Liebes? Du bist schrecklich blass.»
Sie streckte die Hand aus, um meine Stirn zu befühlen, als wäre ich viel jünger als sechsundzwanzig.
«Ich glaube nicht, dass wir in den Urlaub fahren.»
Die Hand meiner Mutter erstarrte. Sie sah mich mit ihrem Röntgenblick an, den ich seit meiner Kindheit kannte. «Gibt es Probleme zwischen Patrick und dir?»
«Mum, ich ...»
«Ich will mich nicht einmischen. Aber ihr seid schon so lange zusammen. Da ist es ganz normal, wenn es mal nicht so gut läuft. Ich meine, ich und dein Vater, wir ...»
«Ich habe meinen Job verloren.»
Meine Stimme hallte in der Stille nach. Die Worte schienen, noch lange nachdem ich sie ausgesprochen hatte, in der Luft zu hängen.
«Du hast was?»
«Frank macht das Café dicht. Morgen.» Ich streckte ihr den leicht feuchten Umschlag entgegen, den ich im Schock auf dem gesamten Heimweg in der Hand gehalten hatte. All die 180 Schritte von der Bushaltestelle bis nach Hause. «Er hat mir Geld für drei Monate gegeben.»

Der Tag hatte ganz normal angefangen. Jeder, den ich kannte, hasste Montage, aber mich störten sie nicht. Ich fuhr gern früh ins Buttered Bun, heizte die riesige Teemaschine in der Ecke an, holte die Kisten mit Milch und Brot von hinten herein und plauderte ein bisschen mit Frank, bevor wir aufmachten.
Ich mochte die leicht miefige, nach gebratenem Speck riechende Wärme des Cafés, den gelegentlichen Schwall kühler Luft, der hereinkam, wenn die Tür aufging, die leise dahinplätschernden Gespräche der Gäste und, wenn niemand da war, das blecherne Gedudel aus Franks Radio in der Ecke. Es war kein schickes Café. An den Wänden hingen Bilder von der Burg auf dem Hügel, wir hatten immer noch Resopaltische, und die Karte war noch dieselbe wie an meinem ersten Tag dort, abgesehen von ein paar Änderungen im Schokoriegel-Angebot und der Aufnahme von Brownies und Muffins in die Kuchentheke.
Aber vor allem anderen gefiel mir die Kundschaft. Ich mochte Kev und Angelo, die Klempner, die beinahe jeden Vormittag kamen und Frank mit gutartigen Sticheleien über seine Kochkünste aufzogen. Ich mochte die Pusteblumen-Lady, die ihren Spitznamen von ihrem weißen Schopf hatte und die von Montag bis Donnerstag ein Spiegelei mit Pommes frites aß und bei zwei Tassen Tee die ausliegenden Tageszeitungen las. Ich achtete darauf, immer ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Ich hatte den Verdacht, dass die alte Dame sonst niemanden zum Reden hatte.
Ich mochte auch die Touristen, die auf dem Weg zu und von der Burg bei uns Station machten, die kreischenden Schulkinder, die nach dem Unterricht vorbeikamen, die Stammgäste aus den Büros gegenüber und Nina und Cherie, die Friseurinnen, die den Kaloriengehalt jedes einzelnen Gerichts kannten, das im Buttered Bun angeboten wurde. Ich mochte sogar die nervigen Gäste, wie die rothaarige Frau, die den Spielwarenladen führte und mindestens einmal wöchentlich einen Streit wegen ihres Wechselgeldes anfing.
Ich sah an diesen Cafétischen Beziehungen anfangen und zu Ende gehen, Kinder, die zwischen Scheidungspartnern wechselten, die schuldbewusste Erleichterung von Eltern, die nicht zu Hause kochen wollten, und das heimliche Vergnügen von Rentnern bei einem viel zu cholesterinhaltigen Frühstück. Die unterschiedlichsten Leute kamen zu uns, und die meisten redeten ein bisschen mit mir, erzählten sich über dampfenden Teebechern Witze oder kommentierten die Nachrichten. Dad sagte immer, man könne nie wissen, was ich als Nächstes zum Besten geben würde, aber im Café spielte das keine Rolle.
Frank mochte mich. Er war eher der ruhige Typ und meinte, ich würde Leben ins Café bringen. Es war ein bisschen, als wäre ich eine Barfrau, aber ohne den Ärger mit Betrunkenen.
Und dann, an diesem Nachmittag, als das Mittagsgeschäft vorbei und niemand mehr im Café war, wischte sich Frank die Hände an seiner Schürze ab, kam hinter der Theke hervor und drehte das ‹Geschlossen›-Schild an der Tür um.
«Na, na, Frank. Ich hab dir von Anfang an gesagt, dass Extras bei meinem Hungerlohn nicht inklusive sind.» Frank war, wie es Dad ausdrückte, so schwul wie ein blaues Gnu. Ich sah auf.
Er lächelte nicht.
«Oh-oh. Ich habe wieder Salz in die Zuckerstreuer gefüllt, oder?»
Er drehte ein Geschirrtuch zwischen den Händen zusammen und schien sich schrecklich unbehaglich zu fühlen. Ich überlegte kurz, ob sich jemand über mich beschwert hatte. Und dann winkte er mich zu einem Tisch.
«Es tut mir leid, Louisa», sagte er, «aber ich gehe zurück nach Australien. Mein Vater ist ziemlich krank, und es sieht so aus, als würden sie auf der Burg demnächst wirklich das Café aufmachen, von dem schon so lange die Rede ist. Es ist beinahe sicher.»
Ich glaube, ich saß tatsächlich mit offenem Mund vor ihm. Und dann gab mir Frank den Umschlag und beantwortete meine nächste Frage, noch bevor ich sie ausgesprochen hatte. «Ich weiß, dass wir nie so etwas wie einen richtigen Vertrag oder so hatten, aber ich wollte dich nicht einfach so wegschicken. Hier drin ist das Geld für drei Monate. Morgen schließen wir.»

«Drei Monate!», rief mein Vater erbost, während mir Mum einen Becher mit gezuckertem Tee in die Hand drückte. «Tja, das ist wirklich großzügig von ihm, wenn man bedenkt, dass sie sechs Jahre lang wie ein verdammter Ackergaul für ihn geschuftet hat.»
«Bernard.» Meine Mutter warf ihm einen ermahnenden Blick zu und nickte Richtung Thomas. Meine Eltern hüteten ihn jeden Tag nach der Schule, bis Treena von der Arbeit kam.
«Was zum Teufel soll sie jetzt machen? Er hätte es ihr auch ein bisschen früher ankündigen können, verflucht noch mal.»
«Nun ... sie muss sich einfach eine andere Arbeit suchen.»
«Es gibt keine Stellen, Josie. Das weißt du doch genauso gut wie ich. Wir stecken mitten in einer verdammten Rezession.»
Mum schloss einen Moment die Augen, als müsste sie sich sammeln, bevor sie weitersprach. «Sie ist ein intelligentes Mädchen. Sie wird schon etwas finden. Sie bekommt ein gutes Arbeitszeugnis. Und Frank wird ihr noch eine Empfehlung schreiben. »
«O ja, das wird fabelhaft. Louisa Clark kann sehr gut Toast buttern und ist ein Vollprofi beim Teeausschenken.»
«Vielen Dank für die Unterstützung, Dad.»
«Ich mein ja nur.»
Ich kannte den tatsächlichen Grund für Dads Beunruhigung. Sie waren auf mein Einkommen angewiesen. Treena verdiente im Blumenladen so gut wie nichts. Mum konnte nicht arbeiten gehen, weil sie sich um Großvater kümmern musste, und dessen Rente konnte man praktisch vergessen. Dad lebte in ständiger Angst davor, seine Arbeit bei der Möbelfabrik zu verlieren. Sein Chef ließ schon seit Monaten Bemerkungen über mögliche Entlassungen fallen. Zu Hause redeten sie immer häufiger hinter vorgehaltener Hand über Schulden und jonglierten mit Kreditkarten herum. Zwei Jahre zuvor hatte ein Autofahrer ohne Versicherung an Dads Wagen einen Totalschaden verursacht, und das hatte gereicht, um das ganze wacklige Finanzgerüst meiner Eltern zum Einsturz zu bringen. Meine bescheidenen Einkünfte hatten den größten Teil des Haushaltsgeldes ausgemacht und die Familie von Woche zu Woche über Wasser gehalten.
«Machen wir uns nicht verrückt», sagte Mum. «Sie kann morgen ins Jobcenter gehen und gucken, was angeboten wird. Fürs Erste kommt sie ja noch durch.» Sie redeten, als wäre ich nicht dabei. «Und sie ist klug. Du bist doch klug, oder, Liebes? Vielleicht kann sie einen Computerkurs machen. Im Büro arbeiten. »
Ich saß nur da, während meine Eltern darüber diskutierten, was mit meinen geringen Qualifikationen sonst noch für mich in Frage kam. Fabrikarbeiterin, Putzfrau? Brötchenschmiererin? Zum ersten Mal an diesem Nachmittag hätte ich am liebsten geheult. Thomas starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an und schob mir wortlos die Hälfte eines feuchten Kekses in die Hand.
«Danke, Tommo», hauchte ich tonlos und aß den Keks.

Er war unten im Sportzentrum, wie ich es mir gedacht hatte. Von Montag bis Donnerstag saß Patrick pünktlich wie die Bahnhofsuhr dort an den Trainingsgeräten oder absolvierte im Stadion unter Flutlicht sein Lauftraining. Ich ging die Treppe hinunter, verschränkte die Arme, weil es so kalt war, und stellte mich an die Laufbahn.
«Lauf mit mir», keuchte er beim Näherkommen. Sein Atem stieg in weißen Wolken empor. «Ich muss noch vier Runden machen.»
Ich zögerte kurz und rannte dann neben ihm her. Das war die einzige Möglichkeit, mich mit ihm zu unterhalten. Ich trug meine rosa Turnschuhe mit den türkisfarbenen Schnürsenkeln, die einzigen Schuhe, in denen ich überhaupt rennen konnte.
Ich war den Tag über zu Hause geblieben und hatte versucht, mich nützlich zu machen. Ich schätze, es dauerte ungefähr eine Stunde, bis ich meiner Mutter ins Gehege kam. Mum und Großvater hatten ihren festen Tagesablauf, und den unterbrach ich. Dad schlief nach seiner Nachtschicht und sollte nicht gestört werden. Ich räumte mein Zimmer auf und sah bei leise gestelltem Ton ein bisschen fern, und jedes Mal, wenn ich daran dachte, warum ich tagsüber zu Hause war, fuhr mir ein richtiger Schmerz durch die Brust.
«Ich hab nicht mit dir gerechnet.»
«Ich hatte es satt zu Hause. Ich habe gedacht, wir könnten irgendetwas unternehmen.»
Er warf mir einen Seitenblick zu. Auf seinem Gesicht lag ein leichter Schweißfilm. «Je früher du einen neuen Job findest, Babe, desto besser.»
«Ich habe meine Arbeit vor gerade einmal vierundzwanzig Stunden verloren. Darf ich vielleicht mal ein bisschen durchhängen und jammern? Nur heute. Kannst du das nicht verstehen? »
«Du solltest lieber versuchen, das Positive daran zu sehen. Du weißt doch selbst, dass du nicht für immer dort hättest bleiben können. Du willst doch weiterkommen, hochkommen.» Patrick war zwei Jahre zuvor zu Stortfolds Jungunternehmer des Jahres gewählt worden, und von dieser Ehre hatte er sich immer noch nicht ganz erholt. Inzwischen hatte er einen Geschäftspartner, Ginger Pete, mit dem er in einem Umkreis von vierzig Meilen Individual-Fitnesstraining anbot, und zwei Firmenwagen, an denen sie noch abzahlten. In Patricks Büro stand ein Whiteboard, auf das er gern mit einem schwarzen Marker seine Umsatzziele schrieb und die Zahlen so lange überarbeitete, bis sie ihm gefielen. Ich war nie ganz sicher, ob sie irgendeinen Bezug zur Wirklichkeit hatten.
«Entlassen zu werden kann eine echte Wende im Leben bedeuten, Lou.» Er warf einen Blick auf seine Uhr, um seine Rundenzeit zu überprüfen. «Was willst du machen? Wie wär's mit einer Umschulung? Ich bin sicher, dass Leute wie du eine Förderung kriegen.»
«Leute wie ich?»
«Leute, die nach neuen Perspektiven suchen. Was willst du werden? Was sagst du zu Kosmetikerin? Hübsch genug bist du ja.» Er gab mir einen kleinen Schubs mit dem Ellbogen, als müsste ich ihm für dieses Kompliment danken.
«Du weißt doch, wie mein Beauty-Programm aussieht: Wasser, Seife, und im Notfall ziehe ich mir eine Papiertüte über den Kopf.»
Patrick wirkte leicht genervt.
Ich begann zurückzufallen. Ich hasse laufen. Und ich hasste ihn dafür, dass er nicht langsamer wurde.
«Oder ... Verkäuferin. Sekretärin. Immobilienmaklerin. Ich weiß auch nicht ... es muss doch etwas geben, was du machen willst.»
Aber es gab nichts. Mir hatte es im Café gefallen. Es hatte mir gefallen, alles zu wissen, was es über das Buttered Bun zu wissen gab, und mir von den Gästen aus ihrem Leben erzählen zu lassen. Ich hatte mich dort wohl gefühlt.
«Du darfst den Kopf nicht hängen lassen, Babe. Komm drüber weg. Die erfolgreichsten Unternehmer haben sich von ganz unten hochgekämpft. Jeffrey Archer hat es gemacht. Und Richard Branson auch.» Er tätschelte mir den Arm, um mich zu trösten.
«Ich bezweifle, dass Jeffrey Archer je einen Job verloren hat, bei dem er Teebrötchen aufwärmen musste.» Ich war außer Atem. Und ich trug den falschen BH. Ich wurde langsamer, blieb stehen und stützte die Hände auf die Knie.
Er drehte um, rannte zurück, seine Stimme klang durch die kalte Luft. «Aber wenn es ihm passiert wäre ... Ich mein ja nur. Schlaf drüber, und morgen ziehst du ein schickes Kostüm an und gehst zum Jobcenter. Oder wenn du willst, bilde ich dich aus, dann kannst du mit mir arbeiten. Du weißt, dass da Geld drin ist. Und mach dir über den Urlaub keine Sorgen. Ich bezahle. »
Ich lächelte ihn an.
Er warf mir einen Kuss zu, und seine Stimme echote durch das leere Stadion. «Du kannst es mir ja zurückzahlen, wenn du wieder auf die Beine gekommen bist.»

Zum ersten Mal in meinem Leben stellte ich einen Antrag auf Arbeitslosenunterstützung. Ich absolvierte ein 45-minütiges Einzelgespräch und ein Gruppengespräch, zu dem ungefähr zwanzig Männer und Frauen wahllos zusammengewürfelt worden waren, von denen die Hälfte den gleichen leicht geschockten Gesichtsausdruck hatte wie ich vermutlich auch und die andere Hälfte die ausdruckslosen, desinteressierten Mienen von Menschen, die so etwas schon zu oft mitgemacht hatten. Ich trug, was mein Dad für meine ‹Zivilkleidung› hielt.
Das Ergebnis dieser Bemühungen war, dass ich eine Kurzzeitvertretung in der Nachtschicht einer Fabrik für Hühnerverarbeitung überstehen musste (nach der ich noch wochenlang Albträume hatte) und eine zweitägige Ausbildung als Energieberaterin für Privathaushalte. Ich begriff ziemlich schnell, dass die eigentliche Ausbildung darin bestand, die Tricks zu lernen, mit denen man alte Leute dazu überredete, ihren Energieversorger zu wechseln, und ich erklärte Syed, meinem ‹persönlichen Berater› beim Jobcenter, so etwas könne ich nicht machen. Er bestand darauf, dass ich dabeiblieb, also zählte ich ihm ein paar der Methoden auf, die ich hätte anwenden sollen, worauf er ein bisschen schweigsam wurde und vorschlug, wir (es hieß immer ‹wir›, obwohl ziemlich offensichtlich war, dass einer von uns einen Job hatte) sollten etwas anderes versuchen.
Also arbeitete ich zwei Wochen bei einer Fast-Food-Kette. Die Arbeitszeiten waren okay, und ich kam damit klar, dass die Uniform meine Haare statisch auflud, aber ich schaffte es einfach nicht, mich an die Sprachregelung mit ihrem ‹Wie kann ich Ihnen heute helfen?› und ‹Möchten Sie dazu die große Portion Pommes?› zu halten. Ich war entlassen worden, nachdem mich eine Frau von der Doughnut-Abteilung dabei erwischt hatte, wie ich mit einer Vierjährigen über die unterschiedliche Qualität der Gratis-Spielfiguren diskutierte. Was soll ich sagen? Sie war ziemlich clever für eine Vierjährige. Ich fand das Dornröschen auch dämlich.
Jetzt saß ich bei meinem vierten Beratungsgespräch, und Syed suchte im Computer nach weiteren ‹Jobchancen›. Sogar Syed, der das grimmig-aufgekratzte Verhalten eines Menschen zeigte, der auch noch die unwahrscheinlichsten Kandidaten in eine Arbeitsstelle gepresst hatte, klang mittlerweile etwas erschöpft.
«Mmm ... Haben Sie schon einmal daran gedacht, in die Unterhaltungsbranche zu gehen?»
«Als Märchentante, oder was?»
«Eigentlich nicht. Aber hier ist ein Angebot für eine Tänzerin. Poledance. Es sind sogar mehrere Stellen.»
Ich hob eine Augenbraue. «Das soll wohl ein Witz sein.»
«Es ist eine Dreißig-Stunden-Stelle auf selbständiger Basis. Ich vermute, das Trinkgeld ist ziemlich gut.»
«Bitte, bitte sagen Sie mir, dass Sie mir eben nicht geraten haben, einen Job anzunehmen, bei dem ich in Unterwäsche vor Fremden herumhüpfen soll.»
«Sie haben gesagt, Sie können gut mit Menschen umgehen. Und Sie scheinen ... bühnenreife Kleidung zu mögen.»
Er warf einen Blick auf meine grünen Glitzerstrumpfhosen. Ich hatte gedacht, sie würden mich aufheitern. Thomas hatte mir beim Frühstück beinahe die ganze Zeit die Titelmelodie von Die kleine Meerjungfrau vorgesummt.
Syed tippte etwas in seine Tastatur. «Und wie wäre es mit Kundenbetreuerin bei einem Telefonservice für Erwachsene?»
Ich starrte ihn bloß an.
Er zuckte mit den Schultern. «Sie haben schließlich gesagt, dass Sie gern mit Leuten reden.»
«Nein. Und auch nicht als Tresenkraft in einer Oben-ohne- Bar. Oder Masseuse. Oder Webcam-Filmerin. Kommen Sie, Syed, es muss doch etwas geben, was ich machen kann, ohne dass mein Dad deswegen einen Herzinfarkt kriegt.»
Das brachte ihn ein bisschen aus der Fassung. «Es gibt kaum noch etwas, außer Jobs im Einzelhandel mit flexiblen Arbeitszeiten. »
«Nachts Regale auffüllen?» Ich war nun oft genug da gewesen, um den Code zu verstehen.
«Und dafür gibt es eine Warteliste. Das machen Mütter gern, weil sie es mit den Schulzeiten ihrer Kinder vereinbaren können», sagte er entschuldigend. Er schaute wieder auf den Bildschirm. «Also bleibt eigentlich nur noch eine Stelle als Pflegehelferin übrig.»
«Alten Leuten den Hintern abwischen.»
«Ich fürchte, Louisa, mit Ihren Qualifikationen kommen Sie nicht viel weiter. Wenn Sie eine Umschulung machen möchten, gebe ich Ihnen gern die notwendigen Informationen. Das Erwachsenenbildungszentrum bietet sehr viele Kurse an.» «Aber das haben wir doch schon besprochen, Syed. Wenn ich das mache, verliere ich mein Arbeitslosengeld, stimmt's?» «Wenn Sie nicht für eine Stelle zur Verfügung stehen, genau. »
Wir schwiegen einen Moment. Ich sah zur Tür, an der zwei kräftige Wachmänner standen, und überlegte, ob sie ihre Stelle über das Jobcenter gefunden hatten.
«Ich bin nicht gut, was alte Leute angeht, Syed. Mein Großvater wohnt seit seinem Schlaganfall bei uns, und ich bin eine Null bei seiner Betreuung.»
«Ah. Dann haben Sie also etwas Erfahrung in der Pflege.»
«Nein, eigentlich nicht. Das macht alles meine Mum.»
«Sucht denn Ihre Mum einen Job?»
«Sehr lustig.»
«Das sollte kein Witz sein.»
«Sodass ich mich um Großvater kümmern müsste? Nein danke. Er würde das übrigens genauso sehen. Haben Sie überhaupt nichts in einem Café?»
«Ich fürchte, es gibt hier kaum noch ein Café, in dem Sie arbeiten könnten, Louisa. Vielleicht probieren wir es mal bei Kentucky Fried Chicken. Vielleicht kommen Sie dort besser zurecht.» «Weil es einen Riesenunterschied macht, ob man Party Buckets oder Chicken McNuggets verkauft? Nein, das ist nichts für mich.»
«Dann müssen wir wohl in einem größeren Umkreis suchen.» «Es gibt am Tag nur vier Busverbindungen in unsere Stadt. Das wissen Sie doch. Und ich weiß, dass Sie gesagt haben, ich könnte auch mit den Touristenbussen fahren, aber ich habe dort angerufen, und bei denen fährt der letzte Bus um 17 Uhr. Außerdem ist er doppelt so teuer wie der normale Bus.»
Syed lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. «Ich muss Sie an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Sie als gesunde und einsatzbereite Person für den weiteren Erhalt Ihrer Arbeitslosenunterstützung unter Beweis stellen müssen ...»
«... dass ich mich um eine Stelle bemühe. Ich weiß.»
Wie konnte ich diesem Mann nur beibringen, wie dringend ich arbeiten wollte? Hatte er die geringste Vorstellung davon, wie sehr ich meinen alten Job vermisste? Arbeitslosigkeit war für mich bislang nur ein abstrakter Begriff aus den Nachrichten gewesen, wenn mal wieder darüber berichtet worden war, dass in Werften oder Autofabriken Stellen gestrichen wurden. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass einem die Arbeit genauso fehlen kann wie ein Arm, den man bei einem Unfall verloren hatte - und an den man ständig denken musste. Und genauso wenig hatte ich darüber nachgedacht, dass der Verlust des Jobs, abgesehen von den offensichtlichen Sorgen um das Geld und die Zukunft, auch dazu führte, dass man sich unfähig und nutzlos fühlte. Dass es schwerer war, morgens aufzustehen, wenn einen nicht der Wecker brutal aus den Träumen riss. Dass man die Leute vermisste, mit denen man gearbeitet hatte, ganz gleich, wie wenige Gemeinsamkeiten man mit ihnen hatte. Oder dass man sich dabei ertappte, wie man nach bekannten Gesichtern Ausschau hielt, wenn man die Hauptstraße entlangging. Einmal hatte ich die Pusteblumen-Lady entdeckt, die genauso ziellos wie ich an den Schaufenstern entlanggebummelt war, und ich hatte den Impuls unterdrücken müssen, zu ihr zu gehen und sie zu umarmen.
Syeds Stimme unterbrach meine Gedanken. «Aha. Also das könnte passen.»
Ich versuchte, einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen.
«Ist eben reingekommen. In dieser Minute. Eine Stelle als Pflegehilfe.»
«Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich mit alten ...» «Es geht nicht um alte Leute. Die Stelle ist in einem Privathaushalt, und zwar keine zwei Meilen von Ihnen entfernt. ‹Pflege und Gesellschaft für behinderten Mann›. Haben Sie einen Führerschein?»
«Ja. Aber müsste ich ihm den Hintern ...»
«Davon steht hier nichts, soweit ich sehe.» Er las die Anzeige durch. «Es ist ein ... Tetraplegiker. Er braucht tagsüber jemanden, der ihn füttert und ihn unterstützt. Bei diesen Stellen geht es häufig darum, dass jemand da ist, wenn sie aus dem Haus wollen, und der ihnen mit den grundlegenden Dingen hilft, die sie selbst nicht machen können. Oh. Die Bezahlung ist gut. Liegt ziemlich weit über dem Mindestlohn.»
«Was vermutlich daran liegt, dass Hinternabwischen doch dazugehört.»
«Ich rufe dort an und kriege das raus. Aber wenn es nicht der Fall sein sollte, würden Sie dann zum Bewerbungsgespräch gehen?»
Das sagte er, als wäre es eine Frage. Aber wir kannten die Antwort beide ganz genau. Seufzend nahm ich meine Tasche, um mich auf den Heimweg zu machen.

«Meine Güte», sagte mein Vater. «Kann man sich so etwas vorstellen? Als ob es nicht schon Strafe genug wäre, in einem verdammten Rollstuhl zu landen, schicken sie ihm als Gesellschaft auch noch unsere Lou.»
«Bernard!», schimpfte meine Mutter.
Hinter mir kicherte mein Großvater in seinen Teebecher.


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Autoren-Porträt

Jojo Moyes hat Journalistik studiert und lebte in Hongkong. Heute tätig für 'The Independent' in London. Romanveröffentlichungen.

 

Autoren-Interview

Exklusiv-Interview für Hugendubel mit Jojo Moyes

Liebe auf Leben und Tod
Ein Glücksfall: Jojo Moyes mutiger Roman

Kaum jemand schreibt so außergewöhnliche Liebesgeschichten wie Jojo Moyes. Die englische Autorin hat Mut zu sehr sensiblen Themen, die sie mit viel Einfühlungsvermögen, aber auch mit trockenem Humor anpackt. Und sie ist mit ganzem Herzen bei der Sache. Zufrieden mit sich ist sie beim Schreiben emotionaler

Szenen nur, wenn sie selbst zu Tränen gerührt ist und sicher sein kann, dass sie ihre Leser bewegt. Das gelingt ihr garantiert mit ihrem neuen Roman „Ein ganzes halbes Jahr". Es ist die Liebesgeschichte von Louisa, genannt Lou, und Will, der nach einem Unfall vom Hals abwärts querschnittsgelähmt ist - und nur noch eines plant: seinen eigenen Tod.

Durch einen Verkehrsunfall verändert sich Wills Leben grundlegend. Was ist für ihn das Schlimmste?
 Will lebte in großem Stil - er sah umwerfend aus, hatte ein hohes Einkommen, beruflichen Erfolg, begeisterte sich für Abenteuerurlaube. Er war es gewohnt, über alles die Kontrolle zu haben. Das Schlimmste an dem Unfall und seinen Folgen ist für ihn der Kontrollverlust - die Erfahrung, dass er völlig auf andere angewiesen ist.
> Die Betreuung von Will zu übernehmen, ist durchaus nicht der Traumjob von Lou. Warum ist sie dennoch genau die Richtige?
< Will braucht jemanden, der ihn nicht an sein früheres Leben erinnert. Er braucht jemanden, der offen und ehrlich mit ihm redet - und nicht erst vor jedem Satz lange herumgrübelt. Er braucht jemanden, der zupackt, und jemanden, um den er sich Gedanken und Sorgen machen kann - statt immer nur umgekehrt.
Du wegt sie dazu, über ihren Tellerrand hinauszuschauen und endlich daran zu glauben, dass sie zu viel mehr fähig ist, als sie sich bisher zugetraut hat. Wenn man im Leben Glück hat, triff t man vielleicht jemanden, der einem neue Horizonte eröffnet und einen neue Möglichkeiten sehen lässt - Will ist dieser Jemand für Lou.
Will hat fest vor, sein Leben mit Hilfe von Dignitas zu beenden. Um ihn davon abzuhalten, übertrifft sich Lou mit immer neuen Ideen. Inwiefern verkennt sie die Situation? Inwiefern macht sie genau das Richtige?
< Ich glaube, sie tut das einzige, was sie tun kann. Angesichts seiner Unnachgiebigkeit und Entschlossenheit fühlen sich alle in seiner Umgebung hilflos. Es kann gut sein, dass sie das Falsche tut, aber sie weiß, dass sie etwas tun muss. So würde es doch den meisten von uns ergehen.
 Die Mutter von Will reagiert erschüttert auf den Plan ihres Sohnes ...
< Ich glaube, es ist die völlig verständliche Reaktion einer Mutter. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als vom eigenen Kind zu hören, dass es entschlossen ist, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ich glaube, ich würde da auch ziemlich heftig reagieren.
 Sind wir - als Gesellschaft oder als Einzelne - nicht ziemlich anmaßend, wenn wir darüber bestimmen wollen, wann und wie andere Menschen sterben?
< Dieses Problem lässt sich nicht so einfach lösen. Ich habe zwei Verwandte, die rund um die Uhr Pflege brauchen. Deshalb beschäftigt mich die Frage, was ein Leben ausmacht und welche Kontrolle wir über sein Ende haben, schon seit langem intensiv. Ich weiß nicht, wie man sicherstellt, dass die, die sich nicht wehren können, geschützt werden - mit der Frage ringen ja auch Juristen und andere kluge Köpfe. Aber wenn mir mein Leben wertlos und ohne Zukunft vorkäme, würde ich vermutlich die Kontrolle darüber haben wollen, wie es endet.
 Welche Fragen lagen Ihnen beim Schreiben besonders am Herzen?
Was heißt „Lebensqualität" genau? Ist Leben immer besser als die Alternative? Welches Recht haben wir, jemandem vorzuschreiben, wie sein Leben sein sollte?