F Roman Der wichtigste Buchstabe dieses Bücherherbstes

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Produktbeschreibung

Der wichtigste Buchstabe dieses Bücherherbstes

Mit seinem Million-Seller "Die Vermessung der Welt", der auch erfolgreich verfilmt wurde, gelang Daniel Kehlmann als Schriftsteller der internationale Durchbuch. Die erzählerische Raffinesse des Nachfolgeromans "Ruhm" wurde von der Kritik gefeiert.

Auch in seinem neuen Buch spinnt der österreichische Autor wieder gekonnt sein filigranes Geschichtenerzähler-Garn rund um Themen, die ihm am Herzen liegen:
Sein und Schein, Erfolg und Scheitern, Genialität und Scharlatanerie, Lüge und Wahrheit. Nicht zu vergessen der eine, plötzliche Augenblick, der schicksalhafte Zufallsmoment, der ein Lebensgebäude zum Einsturz bringen kann.

Wie in "F", der Geschichte dreier Brüder, die sich als Heuchler, Fälscher und Betrüger in ihren Existenzen recht gut eingerichtet haben, vor deren Leben urplötzlich ein Abgrund aufklafft. Das Unheil bricht herein: über den katholischen Priester, der längst den Glauben verloren hat und den allzeit der Hunger plagt; über den hochverschuldeten Finanzberater, den unheimliche Visionen plagen; und über seinen Zwillingsbruder, der Opfer einer Verwechslung wird.

In seinem Roman "F" führt der Magische Realist Daniel Kehlmann eindrucksvoll und fesselnd das fort, was das Internet-Portal "literaturtipps.de" als typisch für die Kunst des Autors bezeichnet: "Das Schreiben ist für Daniel Kehlmann ein literarisches Experiment, in dem er sich in die Perspektive seiner Figuren hineinversetzt und ihnen extreme Charakterzüge verleiht." Experiment geglückt!
 

Bibliografische Angaben

2013, 2. Aufl., 384 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
Verlag: Rowohlt, Reinbek
ISBN-10: 3498035444
ISBN-13: 9783498035440

Rezension

"Daniel Kehlmann kann erzählen, und zwar vorzüglich, er ist intelligent, und zwar außerordentlich, er hat Phantasie, und zwar eine ungewöhnliche." Marcel Reich-Ranicki

Autoren-Porträt

Daniel Kehlmann, wurde 1975 als Sohn des Regisseurs Michael Kehlmann und der Schauspielerin Dagmar Mettler in München geboren. 1981 kam er mit seiner Familie nach Wien, wo er das Kollegium Kalksburg, eine Jesuitenschule, besuchte und danach an der Universität Wien Philosophie und Germanistik studierte. Er hatte Poetikdozenturen in Mainz, Wiesbaden und Göttingen inne und wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Candide-Preis, dem Preis der Konrad-Adenauer-Stiftung, dem Doderer-Preis, dem Kleist-Preis 2006, dem WELT-Literaturpreis 2007 sowie zuletzt mit dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet. Daniel Kehlmann lebt als freier Schriftsteller in Wien und Berlin.

Lese-Probe

F von Daniel Kehlmann

Jahre später, sie waren längst erwachsen und ein jeder verstrickt in sein eigenes Unglück, wusste keiner von Arthur Friedlands Söhnen mehr, wessen Idee es eigentlich gewesen war, an jenem Nachmittag zum Hypnotiseur zu gehen.
Es war das Jahr 1984, und Arthur hatte keinen Beruf. Er schrieb Romane, die kein Verlag drucken wollte, und Geschichten, die dann und wann in Zeitschriften erschienen. Etwas anderes tat er nicht, aber seine Frau war Augenärztin und verdiente Geld.
Auf der Hinfahrt sprach er mit seinen dreizehnjährigen Söhnen über Nietzsche und Kaugummimarken, sie stritten über einen Zeichentrickfilm, der gerade im Kino lief und von einem Roboter handelte, der auch der Erlöser war, sie stellten Hypothesen darüber auf, warum Yoda so seltsam sprach, und sie fragten sich, ob wohl Superman stärker war als Batman. Schließlich hielten sie vor Reihenhäusern einer Straße in der Vorstadt. Arthur drückte zweimal auf die Hupe, Sekunden später flog eine Haustür auf.
Sein ältester Sohn Martin hatte die letzten beiden Stunden am Fenster gesessen und auf sie gewartet, schwindlig vor Ungeduld und Langeweile. Die Scheibe war von seinem Atem beschlagen, er hatte mit dem Finger Gesichter gezeichnet, ernste, lachende und solche mit aufgerissenen Mäulern. Wieder und wieder hatte er das Glas blank gewischt und zugesehen, wie sein Atem es mit feinem Nebel überzog. DieWanduhr hatte getickt und getickt, warum dauerte es so lange? Wieder ein Auto, und wieder war es ein anderes, und wieder eines, und noch immer waren es nicht sie.
Und plötzlich hielt ein Auto und hupte zweimal.
Martin rannte den Flur entlang, vorbei an dem Zimmer, in das seine Mutter sich zurückgezogen hatte, um Arthur nicht sehen zu müssen. Vierzehn Jahre war es her, dass er leichthin und schnell aus ihrem Leben verschwunden war, aber noch immer quälte es sie, dass er existieren konnte, ohne sie zu brauchen. Martin lief die Stufen hinab, den unteren Flur entlang, hinaus und über die Straße – so schnell, dass er das heranrasende Auto nicht sah. Bremsen quietschten neben ihm, aber schon saß er auf dem Beifahrersitz, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, und jetzt erst setzte sein Herz einen Augenblick aus.
«Mein Gott», sagte Arthur leise.
Der Wagen, der Martin fast getötet hätte, war ein roter VW Golf. Der Fahrer hupte sinnloserweise, vielleicht weil er spürte, dass es nicht anging, nach so einem Vorfall gar nichts zu tun. Dann gab er Gas und fuhr weiter.
«Mein Gott», sagte Arthur noch einmal.
Martin rieb sich die Stirn.
«Wie kann man so blöd sein?», fragte einer der Zwillinge auf der Rückbank.
Martin war es, als hätte sein Dasein sich gespalten. Er saß hier, aber zugleich lag er auf dem Asphalt, reglos und verdreht. Ihm schien sein Schicksal noch nicht ganz entschieden, beides war noch möglich, und für einen Moment hatte auch er einen Zwilling – einen, der dort draußen nach und nach verblasste.
«Hin könnte er sein», sagte der andere Zwilling sachlich.
Arthur nickte.
«Aber stimmt das auch? Wenn Gott noch etwas mit ihm vorhat. Was auch immer. Dann kann ihm nichts passieren.»
«Aber Gott muss gar nichts vorhaben. Es reicht, wenn er es weiß. Wenn Gott weiß, er wird überfahren, wird er überfahren. Wenn Gott weiß, ihm passiert nichts, passiert ihm nichts.»
«Aber das kann nicht stimmen. Dann wäre es egal, was man macht. Papa, wo ist der Fehler?»
«Gott gibt es nicht», sagte Arthur. «Das ist der Fehler.»
Alle schwiegen, dann ließ Arthur den Motor an und fuhr los. Martin spürte, wie sein Herzschlag sich beruhigte. Ein paar Minuten noch, und es würde ihm wieder selbstverständlich vorkommen, dass er am Leben war.
«Und in der Schule?», fragte Arthur. «Wie läuft es?»
Martin sah seinen Vater von der Seite an. Arthur hatte ein wenig zugenommen, seine Haare, damals noch nicht grau, waren wie immer so wirr, als wären sie noch nie gekämmt worden. «Mathematik fällt mir schwer, ich könnte durchfallen. Französisch ist immer noch ein Problem. Englisch nicht mehr, zum Glück.» Er sprach schnell, um möglichst viel zu sagen, bevor Arthur das Interesse verlor. «In Deutsch bin ich gut, in Physik haben wir einen neuen Lehrer, in Chemie ist es wie immer, aber bei den Experimenten – »
«Iwan», fragte Arthur, «haben wir die Eintrittskarten?»
«In deiner Tasche», antwortete einer der Zwillinge, und jetzt wusste Martin wenigstens, wer von den beiden Iwan war und wer Eric.
Er betrachtete sie im Rückspiegel. Wie jedes Mal kam etwas an ihrer Ähnlichkeit ihm falsch vor, übertrieben, wider die Natur. Und dabei sollten sie erst einige Jahre später damit beginnen, sich gleich zu kleiden. Diese Phase, in der es ihnen Spaß machte, nicht unterscheidbar zu sein, sollte erst in ihrem achtzehnten Jahr enden, als sie für kurze Zeit selbst nicht mehr sicher wussten, wer von ihnen wer war. Danach sollte sie immer wieder das Gefühl überkommen, dass sie sich einmal verloren hatten und seither jeder das Leben des anderen führte; so wie Martin nie mehr ganz den Verdacht loswerden sollte, dass er eigentlich an jenem Nachmittag auf der Straße gestorben war.
«Glotz nicht so blöd», sagte Eric.
Martin fuhr herum und griff nach Erics Ohr. Beinahe hätte er es zu fassen bekommen, aber sein Bruder wich aus, packte seinen Arm und drehte ihn mit einem Ruck nach oben. Er schrie auf.
Eric ließ los und stellte fröhlich fest: «Gleich weint er.»
«Schwein», sagte Martin mit zitternder Stimme. «Blödes Schwein.»
«Stimmt», sagte Iwan. «Gleich weint er.»
«Schwein.»
«Selber Schwein.»
«Du bist das Schwein.»
«Nein, du.»
Dann fiel ihnen nichts mehr ein. Martin starrte aus dem Fenster, bis er sicher war, dass keine Tränen mehr kommen würden. Über die Schaufenster am Straßenrand glitt das Spiegelbild des Autos: verzerrt, gestreckt, zum Halbrund gekrümmt.
«Wie geht es deiner Mutter?», fragte Arthur.
Martin zögerte. Was sollte er darauf antworten? Arthur hatte diese Frage schon ganz zu Anfang gestellt, vor sieben Jahren, bei ihrer ersten Begegnung. Sehr hochgewachsen war sein Vater ihm vorgekommen, aber müde auch und abwesend, wie umgeben von feinem Nebel. Er hatte Scheu vor diesem Mann empfunden, aber zugleich, ohne dass er hätte sagen können, warum, auch Mitleid.
«Wie geht es deiner Mutter?», hatte der Fremde gesagt, und Martin hatte sich gefragt, ob das nun tatsächlich der Mann war, den er so oft in seinen Träumen getroffen hatte, immer in dem gleichen schwarzen Regenmantel, stets ohne Gesicht. Aber erst an diesem Tag in der Eisdiele, während er in seinem Früchtebecher mit Schokoladensauce stocherte, war Martin klargeworden, wie sehr er es genossen hatte, keinen Vater zu haben. Kein Vorbild, keinen Vorgänger und keine Last, nur die vage Vorstellung von jemandem, der vielleicht eines Tages auftauchen würde. Und das sollte er nun sein? Seine Zähne waren nicht sehr gerade, seine Haare waren wirr, auf seinem Kragen war ein Fleck, und seine Hände sahen verwittert aus. Ein Mann war das, der auch ein anderer hätte sein können; ein Mann, der aussah wie irgendeiner der vielen Menschen auf der Straße, in der Bahn, irgendwo.
«Wie alt bist du genau?»
Martin hatte geschluckt und es ihm dann gesagt: sieben Jahre.
«Und das ist deine Puppe?»
Martin brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sein Vater nach Frau Müller gefragt hatte. Er hatte sie wie immer dabei, er hielt sie unter dem Arm, ohne darüber nachzudenken.
«Wie heißt sie denn?»
Martin sagte es ihm.
«Komischer Name.»
Martin wusste nichts zu antworten. Frau Müller hatte immer so geheißen, das war einfach ihr Name. Er bemerkte, dass seine Nase lief. Er blickte um sich, aber Mama war nicht mehr zu sehen. Sie hatte schweigend die Eisdiele verlassen, sobald Arthur hereingekommen war.
Wie oft Martin später auch an diesen Tag zurückdachte und wie sehr er sich bemühte, ihr Gespräch aus dem Dunkel seines Gedächtnisses zu holen, es wollte ihm nicht gelingen. Es lag wohl daran, dass er sich diese Unterhaltung vorher zu oft ausgemalt hatte und dass die Dinge, die sie tatsächlich zueinander sagten, schon kurz darauf mit jenen, die er in all den Jahren erfunden hatte, in eins geflossen waren: Hatte Arthur ihm wirklich gesagt, er habe keinen Beruf und bringe das Leben damit zu, über das Leben nachzudenken, oder war es nur so, dass Martin diese Antwort später, als er mehr über seinen Vater wusste, für die einzig passende hielt? Und konnte es sein, dass Arthur auf die Frage, warum er ihn und seine Mutter alleingelassen habe, wirklich entgegnet hatte, wer sich der Gefangenschaft, dem kleinen Leben, dem Mittelmaß und der Verzweiflung überantworte, der könne keinem anderen helfen, weil auch ihm nicht zu helfen sei, der bekomme Krebs, dessen Herz verfette, der lebe nicht lange und verwese bei noch atmendem Leib? Es war Arthur durchaus zuzutrauen, einem Siebenjährigen so eine Antwort zu geben, aber es kam Martin unwahrscheinlich vor, dass er sich wirklich getraut haben sollte, diese Frage zu stellen.
Nach drei Monaten erst war sein Vater wiedergekommen. Diesmal hatte er Martin von zu Hause abgeholt, in einem Auto mit zwei gespenstisch ähnlichen Jungen auf der Rückbank, im ersten Moment hatte Martin sie für eine optische Täuschung gehalten. Die beiden wiederum hatten ihn kurz mit großer und bald nur mehr mit mäßiger Neugier betrachtet, sie waren ganz konzentriert auf sich selbst, gefangen im Rätsel ihrer Verdoppelung.
«Wir denken ständig dasselbe.»
«Auch wenn es komplizierte Dinge sind. Ganz dasselbe.»
«Wenn man uns etwas fragt, fällt uns die gleiche Antwort ein.»
Sogar wenn sie falsch ist.»
Dann hatten sie mit ein und derselben Stimme gelacht, und Martin war ein Schauer über den Rücken gelaufen.
Von da an hatten sein Vater und seine Brüder ihn regelmäßig abgeholt. Sie waren Achterbahn gefahren, sie hatten Aquarien mit schläfrigen Fischen besucht, sie waren durch die Wälder des Stadtrands gewandert, sie waren schwimmen gegangen in nach Chlor riechenden Becken voll Kindergeschrei und Sonnenlicht. Immer hatte man Arthur Mühe angemerkt, nie war er wirklich bei der Sache gewesen, und auch die Zwillinge hatten nicht sehr gut verborgen, dass sie nur mitkamen, weil sie es mussten. Obwohl Martin das klar erkannte, waren es die schönsten Nachmittage in seinem Leben gewesen. Beim letzten Mal hatte Arthur ihm einen bunten Würfel geschenkt, dessen Seiten man verdrehen konnte, ein neues Spielzeug, eben auf den Markt gekommen. Bald schon hatte Martin Stunden damit verbracht, er hätte Tage damit verbringen können, er war ihm völlig verfallen.
«Martin!»
Er fuhr wieder herum.
«Schläfst du?»
Er überlegte, ob er noch einmal zuschlagen sollte, aber dann ließ er es lieber sein. Es half nichts, Eric war stärker.
Schade, dachte Eric. Er hätte Martin gerne eine
Ohrfeige gegeben, dabei hatte er gar nichts gegen ihn. Es machte ihn bloß wütend, dass sein Bruder so kraftlos war, so leise und furchtsam. Außerdem nahm er ihm noch immer jenen Moment vor sieben Jahren übel, als ihre Eltern sie abends ins Wohnzimmer gerufen hatten, um ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.
«Lasst ihr euch scheiden?», hatte Iwan gefragt. Ihre Eltern hatten erschrocken den Kopf geschüttelt und gesagt: Nein, nein, wirklich nicht, nein! Und Arthur hatte erzählt, dass es Martin gab.
Eric war so verblüfft gewesen, dass er sofort entschieden hatte, so zu tun, als fände er es komisch, aber gerade als er hatte Luft holen und lachen wollen, hatte Iwan neben ihm angefangen zu kichern. So war es eben, wenn man eins war und zugleich zwei und wenn kein Gedanke einem je ganz allein gehörte.
«Das ist kein Scherz», hatte Arthur gesagt.
Aber warum erst jetzt, hatte Eric fragen wollen. Nur war Iwan ihm schon wieder zuvorgekommen: «Warum erst jetzt?»
Die Dinge seien manchmal schwierig, hatte Arthur geantwortet.
Hilflos hatte er zu ihrer Mutter gesehen, aber die hatte mit verschränkten Armen dagesessen und gesagt, auch Erwachsene seien nicht immer klug.
Die Mutter des anderen Jungen, hatte Arthur erklärt, sei nicht gut auf ihn zu sprechen, sie habe nicht gewollt, dass er seinen Sohn sehe, und er habe sich gefügt, offen gesagt, allzu bereitwillig, es habe die Dinge einfacher gemacht, und erst vor kurzem habe er seine Meinung geändert. Und jetzt werde er gehen und Martin treffen.
Noch nie zuvor hatte Eric ihren Vater nervös gesehen. Wer brauchte diesen Martin, dachte er, und wie hatte Arthur ihnen etwas so Lächerliches antun können?
Eric hatte schon früh gewusst, dass er anders sein wollte als sein Vater. Er wollte Geld verdienen, er wollte ernst genommen werden, er wollte nicht jemand sein, den man insgeheim bedauerte. Deshalb hatte er am ersten Tag in der neuen Schule den größten Jungen der Klasse angegriffen, ohne Warnung natürlich, die Überraschung hatte ihm den nötigen Vorteil verschafft: Eric hatte ihn zu Boden gestoßen, dann hatte er sich auf ihn gekniet, ihn an den Ohren gepackt und seinen Kopf dreimal auf den Fußboden geschlagen, bis er den Widerstand erlahmen fühlte. Dann erst, um des Effektes willen, hatte er ihm einen gutgezielten Schlag auf die Nase versetzt, Nasenbluten verfehlte nie seine Wirkung. Und tatsächlich, der große Junge, der Eric jetzt schon leidgetan hatte, war in Tränen ausgebrochen. Eric hatte ihn aufstehen lassen, und der andere war schniefend davongetappt, ein sich rötendes Taschentuch vor dem Gesicht. Seither wurde Eric von der gesamten Klasse gefürchtet, und keiner merkte, wie viel Angst er hatte.
Denn es kam nur auf die Entschlossenheit an, das wusste er schon. Ob es die Lehrer waren, die anderen Schüler oder auch seine Eltern, alle waren sie uneins mit sich, alle gespalten und halbherzig, was immer sie auch taten. Einen, der wirklich auf sein Ziel losging, hielt keiner auf. Das war so sicher, wie es sicher war, dass zwei mal fünf zehn ergab oder dass man umringt war von Gespenstern, deren Schemen nur manchmal im Zwielicht sichtbar wurden.
«Ich habe mich verfahren», sagte Arthur.
«Nicht schon wieder», sagte Eric.
«Das ist doch ein Trick», sagte Iwan. «Weil du keine Lust hast.»
«Natürlich habe ich keine Lust. Aber ein Trick ist es nicht.»
Arthur fuhr an den Straßenrand und stieg aus. Warme Sommerluft strömte herein, Autos schossen vorbei, es roch nach Benzin. Draußen fragte er Leute nach dem Weg: Eine alte Frau winkte ab, ein Junge auf Rollschuhen hielt nicht einmal an, ein Mann mit großem Hut machte Handzeichen nach rechts, links, oben und unten. Eine Weile sprach Arthur mit einer jungen Frau. Sie legte den Kopf auf die Seite, Arthur lächelte, sie zeigte irgendwohin, Arthur nickte und sagte etwas, sie lachte, dann sprach sie, während er
lachte, dann verabschiedeten sie sich, und sie berührte im Vorbeigehen seine Schulter. Immer noch lächelnd, stieg er ein.
«Hat sie es dir erklärt?», fragte Iwan.
«Sie war nicht von hier. Aber der Mann davor, der wusste es.»
Er bog zweimal ab, dann öffnete sich vor ihnen die Einfahrt eines Parkhauses. Besorgt starrte Eric in die Dunkelheit. Er würde nie jemandem erzählen können, wie schlimm jeder Tunnel, jede Höhle und jeder abgeschlossene Ort für ihn war. Iwan wusste es vermutlich dennoch, so wie es ja auch Eric immer wieder geschah, dass er statt eigener Gedanken die seines Zwillingsbruders dachte und Wörter in ihm auftauchten, die er nicht kannte. Auch passierte es häufig, dass er sich nach dem Aufwachen an Träume von sehr fremder Färbung erinnerte – Iwans Träume waren bunter als seine, sie waren auf eigentümliche Art weiter, die Luft schien besser darin. Und dennoch konnten sie Dinge voreinander verbergen. Eric hatte nie verstanden, weshalb Iwan sich vor Hunden fürchtete, wo doch Hunde zu den wenigen wirklich harmlosen Wesen gehörten, er begriff nicht, warum Iwan lieber mit blonden Mädchen sprach als mit dunkelhaarigen, und es war ihm ein Rätsel, wieso die alten Gemälde, die ihn im Museum bloß langweilten, in seinem Bruder so komplizierte Gefühle auslösten.

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