Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
Produktcode: AD5365
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Preis inkl. MWSt.: 19,99 €

ProduktbeschreibungHarold Fry wollte eigentlich nur einen Brief einwerfen. Einen Brief an seine alte Kollegin Queenie, die bald sterben wird. Doch Harold entscheidet sich anders. Er läuft am Postkasten vorbei. Überzeugt davon, dass Queenie erst dann stirbt, wenn er den Brief abschickt. Und so läuft er weiter und weiter. 87 Tage lang, 1.000 Kilometer weit. Bis zu Queenies Hospiz.

Klappentext zu „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“

EIGENTLICH WOLLTE ER NUR ZUM BRIEFKASTEN. DANN GEHT HAROLD FRY 1000 KILOMETER ZU FUSS.
Der unvergessliche Roman, der die ganze Welt erobert hat.
"Ich bin auf dem Weg. Du musst nur durchhalten. Ich werde Dich retten, Du wirst schon sehen. Ich werde laufen, und Du wirst leben."
Harold Fry will nur kurz einen Brief einwerfen an seine frühere Kollegin Queenie Hennessy, die im Sterben liegt. Doch dann läuft er am Briefkasten vorbei und auch am Postamt, aus der Stadt hinaus und immer weiter, 87 Tage, 1000 Kilometer. Zu Fuß von Südengland bis an die schottische Grenze zu Queenies Hospiz. Eine Reise, die er jeden Tag neu beginnen muss. Für Queenie. Für seine Frau Maureen. Für seinen Sohn David. Für sich selbst. Und für uns alle.
Der preisgekrönte Roman von Rachel Joyce über Geheimnisse und lebensverändernde Momente, Tapferkeit und Betrug, Liebe und Loyalität und ein ganz unscheinbares Paar Segelschuhe.
"Hape Kerkelings Pilgerreise war gut. Besser geht es nicht. Dachte ich ... Harold Frys Geschichte ist unglaublich stimmig, berührend. Am Ende dieses Buches habe ich mich wie verzaubert gefühlt." Christine Westermann, WDR 2 Bücher
"Ein unglaubliches Lesevergnügen." Cosmopolitan
"Große Themen verpackt in eine einfühlsam erzählte Geschichte. Es gibt nicht viele Bücher, die einen solchen Sog entfalten." Financial Times Deutschland
"Dieser Harold Fry packt einen so sehr, dass man Lust bekommt, selbst einfach mal drauf loszugehen." Alf Mentzer, hr2 Kultur
"Ein berührender Selbstfindungsroman." Der Spiegel
"Eine Hauptfigur, die man sofort ins Herz schließt." Maxi
"An alle, die durch sind mit dem Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg : Macht euch mit Rachel Joyce auf Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry . Der ist zwar erst 65, verschwindet aber genauso aufsehenerregend." Brigitte
"Manchmal ist es nur ein Gedanke, der uns trägt: Wenn es sein muss, 1000 Kilometer weit. Die Britin Rachel Joyce erzählt von Mitgefühl und Menschlichkeit und trifft mitten ins Herz." Freundin
"Rachel Joyce erzählt in wundervoll poetischen Metaphern, und überrascht den Leser immer wieder aufs Neue. Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry zwingt den Leser dazu, sich mit seinem Leben und seinen Lieben auseinanderzusetzen." NDR Kultur

Bibliografische Angaben

2013, 2. Aufl., 383 Seiten, Maße: 12,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
Verlag: FISCHER Taschenbuch
ISBN-10: 3596195365
ISBN-13: 9783596195367
Erscheinungsdatum: 25.07.2013

Autoren-Porträt von Rachel Joyce

Rachel Joyce weiß, wie man Menschen mit Worten ganz direkt berührt. Die Autorin hat über 20 Original-Hörspiele für die BBC verfasst und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Daneben hat sie Stoffe fürs Fernsehen bearbeitet und auch selbst als Schauspielerin für Theater und Film gearbeitet. "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" ist ihr erster Roman. Er erscheint in über 30 Ländern auf der ganzen Welt. Rachel Joyce lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Gloucestershire auf dem Land.

Lese-Probe

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry von Rachel Joyce



1.

Harold und der Brief

Der Brief, der alles verändern sollte, kam an einem Dienstag. An einem ganz gewöhnlichen Vormittag Mitte April, der nach frisch gewaschener Wäsche und Grasschnitt roch. Harold saß glattrasiert und im sauberen Hemd mit Krawatte am Frühstückstisch vor einer Scheibe Toast, die er nicht aß. Er sah aus dem Küchenfenster auf den kurzgeschorenen Rasen hinaus, der an drei Seiten von den blickdichten Bretterzäunen der Nachbarn eingeschlossen war. Mittendrin steckte Maureens Teleskopwäschespinne.

»Harold!«, rief Maureen über den Staubsaugerlärm hinweg. »Post!«

Eigentlich wäre er gern hinausgegangen, aber das Einzige, was es draußen zu tun gab, war Rasenmähen, und das hatte er gestern schon erledigt. Der Staubsauger verstummte, und seine Frau erschien mit dem Brief und einem säuerlichen Gesicht. Sie setzte sich Harold gegenüber.

Maureen war eine zierliche Frau mit silbergrauem Bob und flinken Schritten. Als sie sich kennenlernten, war es Harolds größte Freude, sie zum Lachen zu bringen. Zuzusehen, wie sie ihre straffe Haltung verlor und ausgelassen zu zucken begann. »Für dich«, sagte sie. Er wusste nicht, was sie meinte, bis sie einen Umschlag über den Tisch schob und bei seinem Ellbogen liegen ließ. Beide betrachteten ihn, als hätten sie noch nie einen Brief gesehen. Er war rosa. »Abgestempelt in Berwick upon Tweed.«

Er kannte niemanden in Berwick. Er kannte nirgendwo viele Leute. »Vielleicht ist er falsch abgestempelt.«

»Ich glaube nicht. Bei so was wie Poststempeln passieren keine Fehler.« Sie nahm sich Toast aus dem Ständer. Sie mochte ihn kalt und knusprig.

Harold studierte den geheimnisvollen Umschlag. Sein Rosa war nicht wie das Rosa im Bad, das sich in den Handtüchern und dem plüschigen Toilettenbezug wiederholte. Das grelle Pink weckte in Harold immer das Gefühl, er gehöre nicht hierher. Das Umschlagrosa dagegen war zart, ein Rosa wie Erdbeermilch. Name und Adresse waren ein einziges Gekrakel, die ungelenken Buchstaben purzelten durcheinander wie von einem Kind hingekritzelt: Mr. H. Fry, Fossebridge Road 13, Kingsbridge, South Hams. Die Handschrift sagte ihm nichts.

»Und?«, fragte Maureen. Sie reichte ihm ein Messer. Er setzte es an einer Umschlagecke an und stieß es in den Falz. »Vorsichtig«, mahnte sie.

Unter ihrem bohrenden Blick zog er den Brief heraus und schob seine Lesebrille zurecht. Das Blatt war mit Schreibmaschine getippt, die Absenderadresse kannte er nicht: Bernardino- Hospiz. Lieber Harold, dieser Brief wird Sie vielleicht überraschen. Sein Blick sprang nach unten zur Unterschrift.

»Und?«, fragte Maureen wieder.

»Du liebe Güte. Er ist von Queenie Hennessy.«

Maureen spießte ein Stück Butter auf und verstrich es bis in alle Ecken ihres Toasts. »Queenie wer?«

»Sie hat in der Brauerei gearbeitet. Vor Jahren. Erinnerst du dich nicht?«

Maureen zuckte mit den Achseln. »Ich wüsste nicht, wieso. Ich wüsste nicht, warum ich mich an jemanden erinnern sollte, den du vor Jahren mal gekannt hast. Reichst du mir die Erdbeermarmelade, bitte?«

»Sie war in der Buchhaltung. Sehr tüchtig.«

»Das ist die Orangenmarmelade, Harold. Erdbeermarmelade ist rot. Es hilft übrigens, wenn du die Dinge ansiehst, bevor du sie in die Hand nimmst.«

Harold reichte ihr das Gewünschte und wandte sich wieder seinem Brief zu. Perfekt in der Form natürlich, ganz das Gegenteil des Gekrakels auf dem Umschlag. Lächelnd erinnerte er sich, dass Queenie immer so gewesen war: Alles wurde gewissenhaft und tipptopp erledigt. »Sie erinnert sich an dich. Lässt dich grüßen.«

Maureen spitzte die Lippen. »Im Radio hab ich gehört, dass die Franzosen ganz wild auf unser Brot sind. Ihr eigenes lässt sich nicht richtig in Scheiben schneiden. Die kommen rüber und kaufen alles auf. Es hieß, das Brot könnte bis zum Sommer knapp werden.« Sie hielt inne. »Harold? Ist was?«

Er sagte nichts. Er richtete sich auf, ganz blass im Gesicht, öffnete halb den Mund. Als er die Stimme wiederfand, klang sie leise und wie aus weiter Ferne. »Sie hat - sie hat Krebs. Queenie schreibt, um sich zu verabschieden.« Er suchte nach weiteren Worten, fand aber keine. Da zog er ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich. »Ich ... ähem. Oje.« Seine Augen drohten überzufließen.

Augenblicke verstrichen, vielleicht Minuten. Maureen schluckte schwer, laut hörbar in der Stille. »Das tut mir leid«, sagte sie.

Er nickte. Er hätte aufblicken sollen, konnte aber nicht.

»Es ist ein schöner Vormittag«, setzte sie wieder an. »Du könntest doch die Terrassenstühle rausholen?« Aber Harold blieb reglos, wortlos sitzen, bis sie die Teller abräumte. Kurz darauf heulte in der Diele der Staubsauger wieder auf.

Harold fühlte sich, als bekäme er keine Luft. Als würde, wenn er auch nur einen Finger, einen Muskel rührte, ein Sturm von Gefühlen losbrechen, die er unbedingt unter Verschluss halten wollte. Warum hatte er zwanzig Jahre verstreichen lassen, ohne nach Queenie Hennessy zu forschen? Vor ihm stieg das Bild der kleinen, dunkelhaarigen Frau auf, mit der er vor langer Zeit zusammengearbeitet hatte; unvorstellbar, dass sie nun - wie alt? - sechzig sein sollte. Und in Berwick an Krebs starb. Warum ausgerechnet Berwick, dachte er; so weit nach Norden war er nie gereist. Er blickte wieder in den Garten hinaus und sah einen Plastikstreifen, der sich in der Lorbeerhecke verfangen hatte, hartnäckig herumflatterte und sich doch nicht löste. Er steckte Queenies Brief in die Tasche, klopfte zur Sicherheit zweimal darauf und stand auf.

Oben schloss Maureen leise die Tür von Davids Zimmer, stand kurz da und atmete Davids Gegenwart ein. Sie zog die blauen Vorhänge auf, die sie jeden Abend schloss, und vergewisserte sich, dass kein Staub am Gardinensaum hing, wo er ans Fensterbrett stieß. Sie polierte den Silberrahmen des Fotos, das ihn als Student in Cambridge zeigte, und das kleine schwarzweiße Babyfoto daneben. Sie hielt den Raum sauber, denn sie wartete darauf, dass David zurückkehrte - wann er kommen würde, wusste sie nicht. Eigentlich war sie ständig am Warten. Männer hatten keine Ahnung, was es bedeutet, Mutter zu sein. Schmerzlich ein Kind zu lieben, auch wenn es sich längst entfernt hat. Sie dachte an Harold unten mit seinem rosaroten Brief und wünschte, sie könnte mit ihrem Sohn darüber reden. Maureen verließ das Zimmer genauso leise, wie sie es betreten hatte, und ging die Betten abziehen.

Harold Fry nahm mehrere Blatt Briefpapier und einen von Maureens Tintenrollern aus der Schublade. Was sagt man zu einer an Krebs sterbenden Frau? Sie sollte wissen, wie leid es ihm tat, aber mein Beileid konnte er schlecht schreiben, das stand auf den Karten, die man fertig kaufen konnte, sozusagen für hinterher, und klang auch formelhaft, als nähme er keinen großen Anteil. Er machte einen Versuch: Liebe Miss Hennessy, ich hoffe aufrichtig, Ihr Zustand wird sich bessern, aber als er den Stift hinlegte und den Satz noch einmal überdachte, kam er ihm ebenso steif wie unglaubwürdig vor. Er knüllte das Blatt zusammen und versuchte es noch einmal. Er hatte sich noch nie gut ausdrücken können. Was er empfand, war so übermächtig, dass er es schwer in Worte fassen konnte, und selbst wenn es ihm gelänge, schickte es sich nicht, so an jemanden zu schreiben, mit dem er zwanzig Jahre lang keinen Kontakt gehabt hatte. Wäre die Lage andersherum, wüsste Queenie genau, was zu tun wäre.

»Harold?« Maureens Stimme überraschte ihn. Er dachte, sie sei oben und poliere etwas oder spreche mit David. Sie hatte ihre gelben Gummihandschuhe an.

»Ich schreibe Queenie einen kurzen Brief.«

»Einen Brief?« Sie wiederholte oft, was er sagte.

»Ja. Möchtest du unterschreiben?«

»Ich denke, nein. Es wäre kaum passend, einen Brief an jemanden zu unterschreiben, den ich nicht kenne.«

Er konnte jetzt nicht länger um formvollendeten Ausdruck ringen, sondern musste einfach niederschreiben, was von selbst kam: Liebe Queenie, danke für Ihren Brief. Es tut mir sehr leid. Alles Gute - Harold (Fry).

Das war zwar schwach, aber immerhin. Er steckte den Brief in einen Umschlag, klebte ihn rasch zu und schrieb die Hospizadresse darauf. »Ich geh mal schnell zum Briefkasten.«

Es war kurz nach elf. Er nahm seine regendichte Jacke von dem Haken, den Maureen dafür vorgesehen hatte. An der Tür wehte ihm ein Schwall Wärme und Salzgeruch in die Nase, aber bevor er den Fuß über die Schwelle setzen konnte, stand seine Frau schon neben ihm.

»Bist du länger weg?«

»Ich geh nur die Straße runter.«

Sie sah mit ihren moosgrünen Augen zu ihm hoch, hob ihm ihr zierliches Kinn entgegen. Er wünschte, ihm würde etwas einfallen, was er zu ihr sagen könnte, aber ihm fiel nichts ein, was der Rede wert gewesen wäre. Er sehnte sich danach, wie in alten Zeiten den Arm um sie zu legen, den Kopf auf ihre Schulter sinken und dort liegen zu lassen. »Tschüss dann, Maureen.« Er schloss zwischen sich und ihr die Tür, behutsam und leise.

Die Fossebridge Road zog sich an einem Hang oberhalb von Kingsbridge entlang, und so genossen die Anwohner, was Immobilienmakler gern eine unverbaubare Panoramalage nennen, mit einer weiten Aussicht über die Stadt und die Landschaft. Allerdings neigten sich die Vorgärten gewagt steil zum Gehweg hinunter, die Pflanzen klammerten sich an Bambusstäbe, als fürchteten sie um ihr Leben. Harold ging den abschüssigen, betonierten Gartenweg etwas schneller hinunter, als ihm lieb war; dabei stachen ihm fünf neue Löwenzahn- pflanzen ins Auge. Vielleicht würde er heute Nachmittag den Unkrautvernichter herausholen. Dann hätte er etwas zu tun.

Harold blieb nicht unentdeckt: Der Nachbar nebenan winkte ihm und steuerte auf den gemeinsamen Zaun zu. Rex war nicht sehr groß, hatte kleine Füße, einen kleinen Kopf und dazwischen einen sehr rundlichen Körper, so dass Harold manchmal befürchtete, falls er stürzte, gäbe es kein Halten mehr: Wie ein Fass würde er den Hügel hinunterkullern. Rex hatte vor sechs Monaten seine Frau verloren, etwa zur gleichen Zeit, als Harold in Pension ging. Seit Elisabeths Tod redete er gern darüber, wie schwer das Leben war. Er redete gern sehr ausführlich darüber. »Zuhören ist das Mindeste, was man tun kann«, sagte Maureen. Harold war nicht sicher, ob das eine allgemeine Bemerkung war oder speziell auf ihn gemünzt.

»Na? Machst du dich zu einem Spaziergang auf?«, fragte Rex.

Harold versuchte es mit einem scherzhaft-munteren Ton, hoffentlich Andeutung genug, dass er sich jetzt nicht aufhalten lassen wollte. »Hast du Post zum Einwerfen, alter Junge?«

»Niemand schreibt mir. Seit Elisabeth nicht mehr ist, krieg ich nur noch Werbung.«

Rex starrte in unbestimmte Fernen, und Harold erkannte sofort die Richtung, die das Gespräch nehmen wollte. Er warf einen Blick nach oben: Wattewölkchen segelten an einem Seidenpapierhimmel. »Richtig schöner Tag.«

»Richtig schön«, bestätigte Rex. Er seufzte in die entstehende Pause hinein. »Elizabeth mochte die Sonne so gern.« Wieder Pause.

»Guter Tag zum Mähen, Rex.«

»Sehr guter Tag dafür, Harold. Kompostierst du deinen Grasschnitt? Oder nimmst du ihn zum Mulchen?«

»Ich finde, das Mulchen mit Grasschnitt macht eine ziemliche Sauerei, ständig klebt was an den Füßen. Maureen mag es nicht, wenn ich das Zeug ins Haus schleppe.« Harold blickte flüchtig zu seinen Segelschuhen hinunter und fragte sich, warum so viele Leute Segelschuhe tragen, wenn sie mit Segeln nichts im Sinn haben. »Ich muss jetzt los, damit ich die Mittagsleerung noch erwische.« Er wedelte mit seinem Brief und ging weiter, zum Gehweg hinunter.

Zum ersten Mal in seinem Leben war Harold enttäuscht, dass der Briefkasten so schnell erreicht war. Am liebsten hätte er die Straße überquert und sich daran vorbeimogelt, aber der Kasten stand nun einmal da, am Ende der Fossebridge Road, und wartete auf ihn. Harold hob den Brief an Queenie zum Schlitz und stockte. Er blickte auf die kurze Strecke zurück, die er gelaufen war.

Die freistehenden Häuser waren mit Stuck verziert und in unterschiedlichen Gelb-, Lachs- und Blautönen gestrichen. Manche hatten noch ihre spitzen Dächer aus den Fünfzigerjahren und wie Strahlen im Halbkreis angeordnete Zierbalken; bei anderen war das Dachgeschoss ausgebaut und mit Schieferplatten verkleidet. Ein Haus war ganz im Stil eines Schweizer Chalets umgebaut worden. Harold und Maureen waren vor fünfundvierzig Jahren hergezogen, gleich nachdem sie geheiratet hatten. Die Finanzierung hatte Harolds ganze Ersparnisse aufgezehrt; es gab kein Geld mehr für Vorhänge oder Möbel. Sie hielten Distanz zu den Nachbarn, und mit der Zeit zogen die alten Nachbarn weg und neue kamen, nur Harold und Maureen blieben. Sie hatten einmal Gemüsebeete gehabt und einen Zierteich. Maureen hatte jeden Sommer Chutneys gekocht, und David hatte Goldfische gehalten. Hinter dem Haus hatte ein Gartenschuppen gestanden, in dem es nach Dünger roch; an hohen Haken hingen Werkzeuge, aufgerollte Schnur und Seile. Aber das war alles längst verschwunden. Sogar die Schule ihres Sohnes, die einmal einen Steinwurf von seinem Fenster entfernt gestanden hatte, war abgerissen und durch fünfzig erschwingliche Häuschen in hellen Primärfarben ersetzt worden, mit einer Straßenbeleuchtung im Stil alter Gaslaternen.

Harold dachte an die paar Worte, die er Queenie geschrieben hatte, und schämte sich für ihre Dürftigkeit. Er stellte sich vor, wie er nach Hause zurückkehrte, wie Maureen David anrief, wie das Leben genauso weiterging wie bisher, außer dass Queenie in Berwick im Sterben lag. Das setzte ihm schwer zu. Er ließ den Brief auf dem Rand des dunklen Briefkastenschlunds ruhen. Er schaffte es nicht, ihn hineinzuschubsen.

»Eigentlich ist es ein schöner Tag«, sagte er laut, obwohl niemand da war. Er hatte ja sonst nichts zu tun, da konnte er genauso gut zum nächsten Briefkasten laufen. Bevor er es sich anders überlegen konnte, bog er um die Ecke.

Spontane Entschlüsse waren Harolds Sache nicht. Das war ihm durchaus bewusst. Seit seiner Pensionierung vergingen die Tage in immer gleicher Einförmigkeit, außer dass sein Bauch dicker und sein Haar dünner wurde. Nachts schlief er schlecht oder manchmal überhaupt nicht. Schneller als gedacht gelangte er zum nächsten Briefkasten, und wieder hielt er inne. Er hatte etwas begonnen, was er selbst nicht durchschaute, war aber nicht bereit, mittendrin aufzuhören. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, sein Blut pochte ahnungsvoll. Wenn er seinen Brief zur Post in der Fore Street brächte, dann käme er garantiert morgen an.

Als er durch die Straßen des Neubaugebiets abwärts schlenderte, schien ihm die Sonne drückend auf den Hinterkopf und die Schultern. Verstohlen sah er in die Fenster; meist waren sie leer, manchmal erwiderte jemand seinen Blick, und Harold fühlte sich genötigt, hastig weiterzugehen. Aber manchmal entdeckte er unverhofft einen Gegenstand, eine Porzellanfigur, eine Vase, einmal sogar eine Tuba. Ausdruck der Persönlichkeit ihrer Besitzer und dazu geeignet, sich gegen die Außenwelt abzugrenzen. Harold stellte sich vor, was ein Passant aus den Fenstern der Fossebridge Road 13 über ihn und Maureen ablesen konnte - nicht sehr viel, der Gardinen wegen. Er schlug die Richtung zum Hafen ein, in seinen Oberschenkeln zuckten schon die Muskeln.

Es war Ebbe, und die Jollen, die alle einen Anstrich brauchten, lagen schief in einer Mondlandschaft aus schwarzem Schlamm. Harald hinkte zu einer freien Bank und faltete den Brief auseinander, den Queenie ihm geschrieben hatte.

Sie erinnerte sich. Nach all den Jahren. Und er hatte ganz normal weitergelebt, als ginge ihn, was sie getan hatte, überhaupt nichts an. Er hatte nicht versucht, sie aufzuhalten. Er war ihr nicht gefolgt. Er hatte sich nicht einmal verabschiedet. Neue Tränen traten ihm in die Augen, und der Himmel und der Gehweg verschwammen in eins. Dann schoben sich die wässrigen Umrisse einer Mutter mit einem Kind davor. Beide hielten Eiswaffeln in den Händen, die sie wie Fackeln vor sich hertrugen. Die Frau hob den Jungen hoch und setzte ihn auf das andere Ende der Bank.

»Schöner Tag«, sagte Harold. Er wollte nicht wie ein alter Mann erscheinen, der vor sich hin weinte. Die Frau blickte weder auf, noch stimmte sie ihm zu. Sie beugte sich über die Faust ihres Kindes und leckte seine Eiskugel glatt, damit sie nicht tropfte. Der Junge sah zu und hielt ganz still, das Gesichtchen so dicht an dem seiner Mutter, dass es fast damit verschmolz.

Harold fragte sich, ob er je mit David am Kai gesessen und Eis gegessen hatte. Hatte er bestimmt, auch wenn die Erinnerung verschüttet blieb. Er musste weiter. Er musste seinen Brief aufgeben.

Vor dem Old Creek Inn lachten Büroangestellte bei ihrem Mittagsbier, aber Harold bemerkte sie kaum. Als er die steile Fore Street hinaufzusteigen begann, dachte er an die Mutter, die so mit ihrem Sohn beschäftigt war, dass sie niemand anderen sah. Ihm fiel auf, dass immer nur Maureen mit David redete, ihm berichtete, was es Neues gab. Maureen hatte alle Briefe und Postkarten an David für Harold mit unterschrieben (Dad). Sogar das Pflegeheim für seinen Vater hatte Maureen gefunden. Harold drückte auf den Knopf der Fußgängerampel. Wenn Maureen seine Stelle einnahm, stellte sich doch die Frage: »Wer bin dann eigentlich ich?«

Er ging an der Post vorbei, ohne haltzumachen.

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