Die Burg der Könige Historischer Roman

Die Burg der Könige Historischer Roman
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 Produktbeschreibung 1524: Die deutschen Lande werden von den Bauernkriegen zerrissen. Dem Adel droht der Machtverlust, dem Volk der Hunger. Die Herrschaft Karls V. ist in Gefahr. Da stoßen die Burgherrin Agnes und Mathis, der Sohn eines Burgschmieds, auf ein Geheimnis, das über die Zukunft der Krone entscheiden könnte. Den Schlüssel zu ihrem Schicksal birgt: der Trifels - Hort vieler Geheimnisse, legendäre Burg der Staufer.

 

 

Bibliografische Angaben

2013, 942 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su., Deutsch
Verlag: List
ISBN-10: 3471350837
ISBN-13: 9783471350836

Autoren-Porträt von Oliver Pötzsch

Oliver Pötzsch, Jg. 1970, arbeitet seit Jahren als Filmautor für den Bayerischen Rundfunk, vor allem für die Kultsendung quer. Er ist ein Nachfahre der Kuisls, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert die berühmteste Henker-Dynastie Bayerns waren. Oliver Pötzsch lebt in München.

Autoren-Interview

Die heimliche Hauptfigur Ihres neuen Romans ist eine Burg in der Nähe von Speyer, der Trifels. Was für ein Verhältnis haben Sie zu Burgen?

Oliver Pötzsch: Ich bin schon seit meiner Kindheit verrückt nach Burgen. Für einen Jungen ist das vermutlich nichts Ungewöhnliches, aber mittlerweile muss ich wohl von einem Tick sprechen, den auch meine Frau und meine beiden Kinder aushalten müssen ... Wir machen nämlich keinen Urlaub, in dem der Papa nicht mindestens eine Burg besichtigen darf. Und wenn wir durch das Burgenreiche Südtirol fahren, mache ich gerne ein Ratespiel: Wer zuerst eine Burg sieht, bekommt ein Gummibärchen - die krieg ich immer alle. Dieses Jahr hätte ich gerne einen Burgen-Urlaub in Schottland gemacht, ein Burgenhopping sozusagen, aber da hat meine Familie gestreikt. Die wollen jetzt einfach mal ans Meer ...

Wer wären Sie gerne auf einer Burg gewesen, wenn Sie dort gelebt hätten?

Oliver Pötzsch: Mir ist ganz wichtig zu unterscheiden: Die romantische Vorstellung von Burgen ist etwas anderes als die tatsächliche Welt derjenigen, die dort gelebt haben. Ehrlich gesagt: In dieser Welt hätte ich überhaupt nicht leben wollen. Das war ein sehr unwirtlicher Ort, es hat furchtbar gezogen, es war immer kalt, selbst im Sommer, die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal, und es war auch saulangweilig. Es ist nämlich ein Missverständnis, dass viele Menschen auf einer Burg gelebt und dass sie ständig gefeiert haben. Meistens gab es nur eine ganz kleine Besatzung von 4-5 Wachleuten, dem Vogt und ein wenig Gesinde.

In einer romantischen Burgenwelt hingegen, wie ich sie mir als Kind vorgestellt habe, wäre ich vielleicht der Sohn des Burgvogts gewesen, ein Knappe, der zum Ritter ausgebildet wird.

Wofür steht eine Burg?

Oliver Pötzsch: Eine Burg ist zunächst mal ein Symbol für eine körperliche Auseinandersetzung, für den Kampf schlechthin. Vor allem aber ist eine Burg ein Hort von Geschichten. Wie ein altes Kloster kann auch eine Burg eine sehr lange Geschichte erzählen. Ich habe mir als Kind immer vorgestellt, wie es dort zuging, habe mir die Geheimgänge ausgemalt, die Schatzkammern und finsteren Kerker.

Ist der Trifels in diesem Zusammenhang eine besondere Burg?

Oliver Pötzsch: Aber ja! Der Trifels war einst das Zentrum des Deutschen Reiches und kann deshalb besonders viele Geschichten erzählen. Schließlich war er eine der Hauptburgen der Staufer, dem berühmten Herrschergeschlecht des 12. und 13. Jahrhunderts, das deutsche Könige und Kaiser hervorgebracht hat. Von Barbarossa, dem Ur-Staufer sozusagen, heißt es, dass er unter dem Trifels schläft, einer der möglichen Orte neben dem Kyffhäuser. Das ist die eine Geschichte. Man kann auch vom legendären Normannenschatz erzählen, der mit dem Nibelungenschatz verglichen wird und sich dort wohl eine Zeitlang befunden hat. Er war so groß, dass 130 Esel nötig waren, um ihn zu transportieren. Außerdem wurde der berühmte Richard Löwenherz auf dem Trifels gefangen gehalten, und

schließlich bewahrte man hier die sogenannten Reichskleinodien auf, die man brauchte, um den deutschen König zu krönen. Wie wirkungsmächtig diese Geschichten sind, haben später auch die Nationalsozialisten erkannt. Sie wollten den Trifels zu einer NS-Pilgerstätte ausbauen. Der sogenannte große Kaisersaal zum Beispiel, wie man ihn heute dort vorfindet, geht noch auf die NS-Architektur zurück.

Alle diese Geschichten kommen im Roman vor, sind aber zum Zeitpunkt der Erzählung schon selbst Geschichte. Warum haben Sie die Handlung in das 16. Jahrhundert verlegt, in die Zeit der Bauernkriege?

Oliver Pötzsch: Mich interessieren historische Übergänge, die Prozesse, wenn eine Epoche in die andere übergeht. Außerdem wollte ich einmal den Niedergang einer Burg erzählen. Und so habe ich mich für den Beginn des 16. Jahrhunderts entschieden, wo die Zeit der Ritter zu Ende geht. Feuerwaffen und Soldaten spielen ab diesem Zeitpunkt eine immer größere Rolle und lösen den Kampf Mann gegen Mann, wie ihn die Ritter führten, ab. Und in diese Zeit, um 1525 herum, fallen auch die Bauernkriege, die, wie ich finde, in Romanen bisher sträflich vernachlässigt wurden. Nicht zu vergessen das Auftreten Luthers: der Beginn des Protestantismus und die Kirchenspaltung. Das heißt, in dieser kurzen Zeit, in der „Die Burg der Könige" spielt, konnte ich viel von der deutschen Geschichte erzählen.

Wie viel historische Korrektheit ist nötig, wie viel literarische Freiheit möglich?

Oliver Pötzsch: Für mich ist die erste Regel: Alles, was passiert, muss theoretisch möglich, also plausibel sein. Die zweite Regel: Die äußere Historie und die wichtigen großen Figuren müssen stimmen. Das heißt, wenn, wie hier, ein Götz von Berlichingen vorkommt, dann muss der auch ungefähr so sein, wie er in den Quellen belegt ist. Der darf zum Beispiel kein Holzbein haben. Da wären die Leser zu Recht beleidigt. Auch die Kulturgeschichte muss korrekt recherchiert sein. Im 16. Jahrhundert dürfen keine Kartoffeln vorkommen. Freiheit habe ich bei der Ausgestaltung dessen, was die einzelnen Figuren erleben.

Glauben Sie, dass die Menschen im 16. Jahrhundert anders waren?

Oliver Pötzsch: Sie waren komplett anders, gerade im Hinblick auf Brutalität. Ich habe mal gelesen, dass bei Shakespeare vor einer Theateraufführung zum Amüsement der Zuschauer Katzen angezündet und verbrannt wurden. Das gleiche galt für Hinrichtungen. Das war eine Zeit, die eben auch furchtbar langweilig war, kein Kino, kein Fernsehen, die einfachen Menschen konnten nicht lesen. Da war dann eine Hinrichtung das „Highlight" im Jahr, wo alle hingegangen sind. Vielleicht hat einen das nicht so berührt, weil man durch die hohe Sterblichkeitsrate, auch in der eigenen Familie, ständig vom Tod umgeben war.

Bis zum 18. Jahrhundert, bis zur Aufklärung, muss man das Weltbild auch immer in Verbindung mit dem Gottesbild sehen. Wenn die „Hexe" verbrannt wurde, dann war das aus Sicht der Leute gut für sie, denn dadurch hat sie sich die Hölle erspart. Sie hat davor ja auch die Absolution bekommen. Das kann man sich heute nur noch schwer vorstellen.

Genauso wenig wie die andere Funktion der Folter. Es gab damals eben kein Urteil ohne Geständnis - das war ein großer Fortschritt! Denn erst seit der Karolinischen Gerichtsordnung im 16. Jahrhundert gab es richtige Prozesse. Vorher existierte in vielen Bereichen die Praxis der Blutfehde. Natürlich ist uns heute klar, dass jemand gestehen wird, wenn ich dem Schmerzen zufüge. Sicher haben das auch damals einige Menschen so gesehen, aber die waren absolut in der Minderzahl.

Lassen Sie uns einen Blick in Ihre Werkstatt werfen: Wie legen Sie eine Figur an, damit sie trotz des historischen Abstandes glaubwürdig und interessant für die Leser wirkt?

Oliver Pötzsch: Nehmen wir als Beispiel Agnes, die Tochter des Burgvogts, meine weibliche Hauptfigur. Mir war klar, dass ich eine starke Frau brauche. Wenn Sie historische Romane erzählen, kommen Sie um eine Frauenfigur nicht herum. Und diese Figur muss eine gewisse Brechung haben, muss anders sein als die gewöhnlichen Frauen zu ihrer Zeit, damit sie einen inneren Konflikt haben kann. Agnes zum Beispiel habe ich einen Falken an die Seite gestellt. Die Falknerei war damals eine absolute Männersache. Das macht sie als Figur schon mal ungewöhnlich. Hinzu kommt, dass die Falknerei eigentlich ins Hochmittelalter gehört - man denke an das berühmte Falkenbuch von Friedrich dem Staufer, in dem Agnes gerne liest. Das heißt, Agnes ist eine Figur, die aufgrund verschiedener Attribute nicht in ihre Zeit hineinpasst. Sie ist ganz vernarrt ins Lesen und in die alte Zeit der Ritter, die auch für die Zeit der Burgen steht. Wobei sie aber am Ende einsieht, dass es hat keinen Sinn hat, darin zu verharren.

Zugleich ist sie als Frau aber auch höchst modern, weil emanzipiert ...

Oliver Pötzsch: Würde ich ein historisches Sachbuch schreiben, gäbe es eine Figur wie die Agnes nicht. Die Menschen sind damals komplett anders sozialisiert worden. Sie hätte sich vermutlich in ihr Schicksal „gefügt" und hätte es gar nicht als bedauerlich wahrgenommen, dass sie einen Grafen heiraten „muss". Im Gegenteil! Sie hätte das wahrscheinlich prima gefunden und wäre nie auf die Idee gekommen zu sagen: „Ich will unabhängig sein, ich will mir den Mann selber aussuchen." Aber Leser, auch von historischen Romanen, wollen sich darin wiederfinden, suchen nach Identifikationsfiguren. Die müssen einem vertraut sein, etwas Heutiges an sich haben. Deswegen bezeichne ich meine - oder überhaupt viele historische Romane - lieber als moderne Romane im „historischen Gewand".

Auch Ihre eigene Familiengeschichte haben Sie schon als Stoff für Romane genutzt. Die erfolgreiche Romanserie um die kluge Henkerstochter Magdalena und ihren Vater Jakob Kuisl (bisher 4 Bände), die Sie auch weiterführen werden, ist in gewisser Weise autobiografisch. Denn Sie entstammen einer bekannten bayerischen Henkersdynastie, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Mindestens 14 Scharfrichter, darunter auch die Kuisls, gehörten laut Stammbaum dazu. Wie geht man in Ihrer Familie damit um?

Oliver Pötzsch: Das hat sich im Laufe der Generationen verändert. Für meine Großmutter beispielsweise war es noch ein absolutes Tabu: „Darüber hat man nicht geredet." Auch für meine Mutter, die mir von unseren Vorfahren erzählte, hat die Geschichte immer noch einen bitteren Beigeschmack. Das ist bei mir und meinen Kindern gar nicht mehr der Fall. Ich muss aber auch betonen, dass meine Vorfahren schließlich nicht die Henker der Geschwister Scholl waren. Von der zeitlichen Nähe und vom moralischen Empfinden her hätte ich dazu vermutlich ein anderes Verhältnis. Der letzte Henker meiner Familie ist bereits Anfang des 19. Jahrhunderts gestorben. Die Familiengeschichte ist für mich heute vor allem ein Fundus an spannenden Geschichten, und so gebe ich es auch an meine Kinder weiter. Meine kleine Tochter sieht im Henker eher eine Art guten Polizisten.

Sind Ihre Bücher dann eine Ehrenrettung für den Berufsstand? Immerhin war es ja sogar ein Lehrberuf?

Oliver Pötzsch: Genau das sage ich immer auf meinen Lesungen. Normalerweise kommen Henker in Filmen und Romanen extrem schlecht weg: Sie haben immer diese gruselige Kapuze auf, dürfen einmal grimmig lachen und dann - rumms - fällt das Beil. Aber Henker waren gerade in den kleinen Ortschaften weitaus mehr als „Killermaschinen", sie waren zum Beispiel auch Heiler. Sie mussten die Gefolterten

ja oft gesundpflegen, bevor sie hingerichtet wurden. Außerdem waren sie in Chirurgie bestens bewandert, was mit dazu führte, dass sie sich später gelegentlich zu Ärzten entwickelt haben. Ansonsten war das ein hartes Leben. Henker mussten außerhalb der Stadt wohnen, wurden in der Regel nicht auf dem Friedhof begraben, durften ihre Kinder nicht taufen und nicht in die Wirtshäuser gehen. Das konnte man bislang so genau nicht lesen. Henker waren vielleicht nicht die Guten, aber eben auch nicht die Bösen.

Haben Sie sich jemals ernsthaft vorgestellt, Sie hätten damals das Erbe ihrer Familie antreten müssen und selbst Scharfrichter lernen?

Oliver Pötzsch: Ich hätte keine andere Wahl gehabt. Man konnte als Sohn nicht sagen: „Du, Papa, ich kann kein Blut sehen, ich möchte lieber Goldschmied oder Dichter werden." Das ging schon bei anderen Berufen nicht, auch als Bäckerssohn wurde man Bäcker. Bei Henkern war es erst recht schwierig, weil es ein „ehrloser" Beruf war, wie Hure oder Schinder, und Ehrlose mussten unter sich bleiben. Das bedeutet, ich hätte ich die Stadt verlassen müssen und wäre vermutlich vogelfrei gewesen.

Was hat sich denn für Sie verändert, seit Sie sich schreibend mit Ihren Ahnen beschäftigen?

Oliver Pötzsch: Ich war schon vorher ein ziemliches Familientier, aber der Clan-Gedanke ist noch wesentlich stärker geworden. In diesem Clan fühle ich mich sicher und geborgen, auf den kann ich mich verlassen. Und das versuche ich auch an meine Kinder weiterzugeben, dass Familie mehr ist als Vater, Mutter und Kind.

Wir haben im Haus ein großes Bild, auf dem die Fotos meiner Ahnen zusammengestellt sind. Erst hing es im Zimmer meines Sohnes, jetzt wollte es meine Tochter bei sich haben. Die wachen praktisch über uns. Einmal habe ich versucht, das Richt-Schwert meiner Vorfahren, beziehungsweise einen Nachbau davon, im Wohnzimmer aufzuhängen, das wurde mir allerdings von meiner Frau verboten ...

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihre Ahnen Ihnen beim Schreiben zuschauen?

Oliver Pötzsch: Die Fahnen des zweiten Henkerstocher-Romans habe ich im Haus meiner Großmutter korrigiert. Das ist schon länger im Besitz der Familie, und dort sind auch die Kuisl-Gräber in der Nähe. Es ist für mich ein mystischer Ort, und da hatte ich tatsächlich das Gefühl, mir würden die Ahnen über die Schulter schauen. Hier in meinem Münchner Reihen-Eckhaus geht es mir nicht so ...

Und wer hat Ihnen beim Schreiben der „Burg der Könige" über die Schulter geschaut?

Oliver Pötzsch: Oh, Sie meinen, neben meiner Lektorin? Ich nehme an, der alte versoffene Burgvogt. Und ich hoffe, er ist zufrieden damit, was ich über den Trifels geschrieben habe. Schließlich liebe ich seine Burg fast ebenso wie er.

Lese-Probe

Die Burg der Könige von Oliver Pötzsch


Prolog

Palast von Valladolid, 3. März, Anno Domini 1524, spätnachts

Der Kaiser hielt die Welt in seinen Händen, doch er war nicht glücklich.

Mit langen manikürten Fingern fuhr Karl V. über die glattpolierte Oberfläche der Erdkugel, die all die Länder zeigte, deren Herrscher er seit einigen Jahren war. Die Finger wanderten von Flandern bis Palermo, vom sturmumtosten Gibraltar bis nach Wien an der Donau, von Lübeck an der Nordsee bis hin zu jenem Land, das man neuerdings Amerika nannte und aus dem Gold in dickbäuchigen Galeeren nach Europa kam. Der Kaiser gebot über ein Reich, in dem die Sonne niemals unterging.

Und nun war dieses Reich in Gefahr.

Karl kniff die Augen zusammen und suchte auf der hölzernen Kugel einen winzigen Ort, der nicht größer als ein Fliegendreck sein konnte. Doch obwohl der Globus von einem der besten Kartographen seiner Zeit stammte und viele Tausend Gulden gekostet hatte, konnte er den Ort nicht finden. Seufzend verpasste der Habsburger Kaiser der Kugel einen Schubs, so dass sie wild zu rotieren begann. In der lackierten Oberfläche spiegelte sich sein Gesicht. Erst vor einigen Tagen war Karl V. vierundzwanzig Jahre alt geworden, er war ein eher schwächlicher junger Mann, dessen ungewöhnliche Blässe in Adels kreisen als besonders vornehm galt. Sein Unterkiefer war leicht nach vorne geschoben, was ihn immer etwas trotzig aussehen ließ; die Augen quollen leicht hervor wie bei allen Mitgliedern seiner Familie. Während sich die Kugel weiterdrehte, wandte er sich wieder den Briefen auf seinem Schreibtisch zu.

Besonders einem Brief.

Es waren nur ein paar hingekritzelte Zeilen, aber sie konnten den Lauf der Welt verändern. Unter dem Text fand sich eine hastige Zeichnung, das Porträt eines bärtigen Mannes. Eingetrocknete Blutspritzer auf dem Rand des Blattes verrieten, dass dieser Brief nicht gewaltlos in die Hände des Kaisers gelangt war.

Ein leises Klopfen ließ Karl aufblicken. Beinahe lautlos öffnete sich eine der hohen Flügeltüren, und sein Erzkanzler, Marchese Mercurino Arborio di Gattinara, trat ein. Mit der schwarzen Schaube und dem ebenso schwarzen Barett glich er wie so oft einem leibhaftigen Dämon.

Es gab nicht wenige Menschen am spanischen Hof, die behaupteten, dass er tatsächlich einer war.

Gattinara verbeugte sich tief, doch Karl wusste, dass diese Demut nur ein Ritual war. Der Kanzler war beinahe sechzig und hatte in anderen Funktionen bereits Karls Vater Philipp und auch seinem Großvater Maximilian gedient. Seit dem Tode Maximilians vor fünf Jahren herrschte nun Karl über das größte deutsche Reich seit seinem Namensvetter Karl dem Großen.

»Eure Exzellenz«, sagte Gattinara, während er den Kopf weiterhin gesenkt hielt, »Ihr habt mich gerufen?«

»Ihr wisst, warum ich Euch trotz der späten Stunde herbestellt habe, Gattinara«, erwiderte der junge Kaiser. Er hielt den blutbefleckten Brief hoch. »Wie konnte das passieren?«

Erst jetzt hob der Kanzler den Blick, seine Augen waren eisgrau. »Nun, wir haben den Mann kurz vor der französischen Grenze abgefangen. Leider lebte er nicht lange genug, um ihn näher zu befragen.«

»Das meine ich nicht. Ich meine, wie konnte er an diese Information gelangen?«

Der Kanzler zuckte mit den Schultern. »Die französischen Agenten sind wie Ratten. Sie verschwinden in einem Loch und tauchen an anderer Stelle wieder auf. Vermutlich gibt es ein Leck in den Archiven.« Er lächelte. »Majestät wird beruhigt sein zu hören, dass wir bereits mit der Befragung möglicher Verdächtiger begonnen haben. Ich leite die Verhöre persönlich, um ihnen die ... nun, die nötige Intensität zu verleihen.«

Karl zuckte kurz zusammen. Er hasste es, wenn Gattinara selbst den Inquisitor spielte, aber eins musste man ihm lassen: Er war gründlich. Auch bei der Königswahl nach Maximilians Tod hatte er dafür gesorgt, dass das Geld der Fugger in die richtigen Kanäle geflossen war. Die deutschen Kurfürsten hatten daraufhin Karl und nicht seinen härtesten Konkurrenten, den französischen König Franz, zum deutschen Herrscher gemacht.

»Und was, wenn dieser Mann nicht der Einzige war?«, hakte der junge Kaiser nach. »Vielleicht gibt es Abschriften dieses Briefs. Es könnten mehrere Boten geschickt worden sein.«

»Nun, die Möglichkeit besteht tatsächlich. Ich halte es deshalb für unerlässlich, das zu vollenden, was Euer Großvater bereits begonnen hat. Zum Wohle des Reiches«, fügte Gattinara hinzu und verneigte sich erneut.

»Zum Wohle des Reiches«, murmelte Karl. Schließlich nickte er. »Tut, was zu tun ist, Gattinara. Ich verlasse mich auf Euch.«

Der Kanzler machte eine letzte tiefe Verbeugung, dann schob er sich wie eine dicke schwarze Spinne rückwärts aus der Kammer. Die Türen schlossen sich, und der Kaiser war wieder allein.

Karl dachte eine Weile nach, dann ging er erneut zum Globus und suchte nach jenem winzigen Ort, von dem aus dem Reich so große Gefahr drohte.

Doch alles, was er dort entdeckte, waren die schraffierten Zeichnungen dichter schwarzer Wälder.


Erstes Buch

Dunkle Wolken

März bis Juni 1524


Kapitel 1

Queichhambach bei Annweiler im Wasgau,

21. März, Anno Domini 1524

Der Junge, dem der Henker die Schlinge um den Hals legte, war nicht älter als Mathis. Er zitterte am ganzen Körper, und dicke Tränen rannen ihm über das von Rotz und Dreck verschmierte Gesicht. Von Zeit zu Zeit würgte der Knabe ein Schluchzen hervor, ansonsten schien er sich mit seinem Schicksal abgefun

den zu haben. Mathis schätzte, dass er vielleicht sechzehn Sommer zählte, ein erster Flaum spross um seine Lippen. Vermutlich hatte der Junge ihn mit Stolz getragen und versucht, die Mädchen damit zu beeindrucken, doch nun würde er ihnen nie wieder hinterherpfeifen. Sein kurzes Leben war vorbei, ehe es richtig begonnen hatte.

Die beiden Männer neben dem Knaben waren um einiges älter. Ihre Hemden und Beinlinge waren schmutzig und zerrissen, das Haar stand ihnen wirr vom Kopf, und sie murmelten lautlose Gebete. Alle drei standen auf schiefen Leitern, die an einem von Sturm und Regen stark verwitterten Holzbalken lehnten. Der Queichhambacher Galgen war fest und massiv gebaut, seit vielen Jahrzehnten fanden hier die Hinrichtungen der Gegend statt. Und in letzter Zeit waren es mehr und mehr geworden. Die vergangenen Jahre hatten zu kalte Winter und zu trockene Sommer gebracht, die Pest und andere Seuchen waren über das Land gezogen. Hunger und die drückenden Abgaben hatten viele der Pfälzer Bauern in die Wälder getrieben, wo sie sich Räuberbanden und Wilderern anschlossen. Auch die drei dort vorne am Galgen waren auf frischer Tat beim Wildern erwischt worden, nun wurde die dafür vorgesehene Strafe an ihnen vollstreckt.

Mathis hielt sich ein wenig abseits der gaffenden Menschenmenge, die sich an diesem verregneten Vormittag zur Hinrichtung versammelt hatte. Der Galgenhügel befand sich gut eine Viertelmeile entfernt vom Ort, jedoch nahe genug an der Straße nach Annweiler, dass Reisende ihn gut sehen konnten. Eigentlich hatte Mathis nur dem Queichhambacher Dorfvogt ein paar Hufeisen gebracht, die dieser bei Mathis' Vater, dem Trifelser Burgschmied, bestellt hatte, doch auf dem Rückweg war er am Galgenhügel vorbeigekommen. Er wollte schon weitergehen - schließlich war heute sein freier Tag, und er hatte noch etwas Bestimmtes vor -, aber angesichts der vielen Menschen, die mit angespannten, verhärmten Gesichtern im eisigen Regen auf die Hinrichtung warteten, siegte die Neugierde. Also blieb er stehen und beobachtete den Schinderkarren, auf dem die drei Gefangenen der Hinrichtungsstätte entgegenfuhren.

Mittlerweile hatte der Henker die Galgenleitern aufgestellt und die drei armen Sünder wie Schlachtvieh zum Balken hinaufgezerrt, wo er einem nach dem anderen die Schlinge um den Hals legte. Als es schließlich so weit war, senkte sich ein tiefes Schweigen über die Menge, nur unterbrochen durch das gelegentliche Schluchzen des Jungen.

Mit seinen siebzehn Jahren hatte Mathis bereits einige Hinrichtungen erlebt. Meist waren es Räuber oder Diebe gewesen, die gehenkt oder gerädert wurden, und die Leute hatten geklatscht und die zitternden Kreaturen noch am Schafott mit faulem Obst und Gemüse beworfen. Doch diesmal war es anders. Eine beinahe vibrierende Spannung lag in der Luft.

Obwohl es bereits Mitte März war, fanden sich auf den umliegenden Äckern noch zahlreiche Schneefelder. Fröstelnd beobachtete Mathis, wie die Menge sich widerwillig teilte, als nun der Annweiler Stadtvogt Bernwart Gessler gemeinsam mit dem feisten Gemeindepfarrer Pater Johannes auf die Anhöhe zuschritt. Es war offensichtlich, dass die beiden Herren sich Besseres vorstellen konnten, als an einem verregneten, nasskalten Frühlingstag drei Galgenvögeln beim Baumeln zuzusehen. Mathis vermutete, dass sie gerade noch bei ein paar Gläsern Pfälzer Wein in einer warmen Annweiler Wirtsstube gesessen hatten, doch als herzoglicher Stellvertreter war der Stadtvogt nun einmal für die hohe Gerichtsbarkeit in der Gegend zuständig, und nun galt es, Recht zu sprechen. Gessler stemmte sich gegen den Regen, der ihm in Böen ins Gesicht wehte, angestrengt hielt er sein schwarzsamtenes Barett fest, dann kletterte er auf den nunmehr leeren Schinderkarren.

»Bürger von Annweiler!«, wandte er sich mit lauter, hochfahrender Stimme an die Umstehenden. »Diese drei Burschen sind der Wilderei überführt! Sie sind nicht mehr als Vagabunden und Räuber und haben das Recht auf Leben verwirkt. Ihr Tod sollte uns allen eine Mahnung sein, dass Gottes Zorn furchtbar, aber auch gerecht ist!«

»Von wegen Räuber«, knurrte ein hagerer Bauer neben Mathis. »Den armen Schlucker ganz rechts kenn ich, das ist der Sammer Josef aus Gossersweiler. Ein ganz anständiger Knecht war das, doch dann konnte ihn sein Herr nicht mehr bezahlen, und er ist in die Wälder.« Er spuckte auf den Boden. »Was soll unsereins denn noch essen nach zwei verhagelten Ernten? Nicht einmal mehr Bucheckern gibt's im Wald. Der ist so leer wie die Mitgifttruhe meiner Frau!«

»Die Pacht haben sie uns auch schon wieder erhöht«, fiel ein zweiter Bauer brummend ein. »Und die Pfaffen leben in Saus und Braus, die kassieren trotz allem ihren Kirchenzehnten. Schaut nur, wie fett unser Pfarrer mittlerweile ist!«

Soeben ging der wohlbeleibte Pater Johannes mit einem einfachen Holzkreuz hinüber zu den Galgenleitern. Unter jeder von ihnen blieb er stehen und sprach mit hoher, leiernder Stimme ein kurzes lateinisches Gebet. Doch die Verurteilten über ihm schienen bereits in einer anderen Welt, sie starrten ins Leere. Nur der Junge schluchzte noch immer herzerweichend. Es klang, als riefe er nach seiner Mutter, aber niemand in der Menge antwortete.

»Kraft des mir vom Zweibrückener Herzog verliehenen Amtes befehle ich dem Scharfrichter, diese drei Missetäter ihrer gerechten Strafe zuzuführen!«, rief der Stadtvogt hinaus in die Menge. »Ihr Leben ist hiermit verwirkt!«

Er zerbrach einen kleinen Holzstab, und der Queichhambacher Scharfrichter, ein stämmiger Mann mit weiten Landsknechtshosen, Leinenhemd und Augenbinde, zog dem ersten Delinquenten die Leiter unter den Füßen weg. Der Mann zappelte eine Weile, sein ganzer Körper schwang hin und her wie ein außer Kontrolle geratenes Uhrpendel, ein nasser Fleck breitete sich auf seiner Hose aus. Während seine Bewegungen schwächer wurden, zerrte der Henker bereits an der nächsten Leiter. Ein weiterer wilder Tanz setzte ein, als der zweite Mann am Seil baumelte. Als der Scharfrichter sich schließlich dem Knaben zuwandte, ging ein Raunen durch die Menge. Nicht nur Mathis war aufgefallen, wie jung der Bursche war.

»Kinder! Ihr hängt Kinder!«, zeterte jemand. Mathis wandte sich um und sah eine verhärmte Frau, an deren Rockzipfeln zwei kleine rotznasige Mädchen hingen. Ein winziger Säugling schrie unter dem zusammengerollten Leinentuch, das sich die Frau auf den Rücken gebunden hatte. Sie schien nicht die Mutter des Jungen zu sein, trotzdem war ihr Gesicht rot vor Zorn und Entrüstung. »So was kann Gott nicht gewollt haben!«, schrie sie ihre Wut hinaus. »Kein gerechter Gott lässt so etwas zu!«


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