Der Thron der Welt Historischer Roman

Der Thron der Welt  Historischer Roman
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Produktbeschreibung

Sie haben eine große Mission

Eine Reise: unglaublich. Der Einsatz: hoch. Das Ziel: der Thron der Welt. Kommen Sie mit auf eine Abenteuerreise bis an die Grenzen der bewohnten Welt.

Man schreibt das Jahr 1072 nach Christi Geburt. Der fränkische Krieger Vallon hat nichts mehr zu verlieren. In den Alpen begegnet er dem jungen Gelehrten Hero, unterwegs mit seinem Meister. Als dieser stirbt, bittet Hero Vallon um seine Begleitung nach England, wo er einem normannischen Ritter die Lösegeldforderung des türkischen Sultans für seinen Sohn überbringen soll. Doch der Preis für die Freiheit des jungen Sir Walter Olbec ist unermesslich hoch: vier weiße Gerfalken, kostbare Vögel, die überaus selten sind. Nur hoch im Norden, im ewigen Eis, hat man schon Exemplare davon gesehen. Für Vallon, Hero und ihre Gefährten beginnt eine atemberaubende Odyssee durch die entlegensten Länder der Welt - von Grönland über Russland bis nach Konstantinopel, über das tobende Nordmeer und blutgetränkte Schlachtfelder. Grausame Wikingerkrieger und rachsüchtige Normannen stellen sich ihnen in den Weg, wilde Flüsse und unweg­same Pfade gilt es zu überwinden, bis sie endlich ans Ziel kommen - und die Welt plötzlich nicht mehr so ist, wie sie einmal war.

Glossar - Falknerei


Während einer legendären Schlacht im Ostanatolien des Jahres 1071 gerät der junge Engländer Sir Walter Olbec in Gefangenschaft der muslimischen Seldschuken. Der fränkische Abenteurer und Glücksritter Vallon macht daraufhin sich gemeinsam mit seinem treuen Gefährten auf, der Familie Olbec in England die Lösegeldforderung der Seldschuken zu überbringen. Suleiman, der Anführer der siegreichen Seldschuken, fordert für die Freilassung Walters die Überbringung einer unvorstellbaren Summe von neunundsechzig Pfund Gold - oder aber, als Alternative dazu: Zwei Paare weißer Gerfalken.

 

Objekte der Begierde

Diese Forderung entsprach der persönlichen Vorliebe des Emirs, der sein größtes Vergnügen in der Falknerei und Jagd fand. Doch die besagten Gerfalken waren nicht nur bei diesem islamischen Fürsten, sondern über viele Jahrhunderte hinweg ein überaus begehrtes Objekt in fast allen Adels- und Herscherhäusern. So gibt es Aufzeichnungen darüber, dass sich beispielsweise der dänische Königshof im Verlauf des 18. Jahrhunderts über 5.000 Gerfalken aus Island liefern ließ, um diese als diplomatische Gaben an europäische Königshöfe zu verschenken. In Russland gehörten alle im Reich gefangenen Gerfalken ausschließlich dem Zaren, der diese dann wiederum auch als diplomatisches Geschenk nutzte.

 

Anmut und Schnelligkeit

Der Gerfalke ist der größte und seltenste der Falkenvögel. Sein Gefieder kann unterschiedliche Färbungen haben; die hellsten und kostbarsten weißen Gerfalken sind ursprünglich vorwiegend in Grönland zu finden. Im September ziehen die Gerfalken von dort nach Island, und kehren im April in ihre nördlicheren Brutgebiete zurück. Die Gerfalken sind für ihre Schnelligkeit und ihre anmutige Wendigkeit bekannt. Sie kreisen suchend in der Höhe, um sich dann blitzartig und mit großer Geschwindigkeit auf ihr Opfer - mit Vorliebe Schneehühner - zu stürzen. In einer Variante seiner Jagd fliegt der Gerfalke sehr dicht über dem Boden, und überrascht so seine sitzenden oder gerade eben auffliegenden Beutetiere. Zugute kommt dem Raubvogel dabei sein hervorragendes Sehvermögen, dass ihm auch in der Dämmerung noch ein zielgenaues Zustoßen ermöglicht.

 

Faszination Beizjagd

Um einen Greifvogel für eine „Beizjagd" einsetzbar zu machen, muss er von einem Falkner über mehrere Wochen hinweg abgerichtet werden. Der Jungvogel wird erst langsam an den Menschen gewöhnt, dann lernt er, zuerst an eine dünne Schnur gebunden, immer wieder zum Falkner zurückzukehren. Erst wenn er dieses Verhalten über Belohnungsreize verinnerlicht hat, wird der Greifvogel zur Jagd eingesetzt: Der Jagdhund des Falkners sucht und stöbert Wild auf, der Falkner bringt den Vogel in eine günstige Ausgangsposition, dann übernimmt der Vogel auf eigenen Impuls hin die eigentliche Jagd. Dieses ineinander greifende Wirken von Mensch und Tier, das im besten Fall ein harmonisches Zusammenspiel, ein Eingebundensein in die natürlichen Abläufe darstellt, fasziniert Liebhaber der Falknerei seit Jahrtausenden.

 

Teure Eleganz

Mit seinem edlen Aussehen und seiner unvergleichlichen Eleganz war und ist der Gerfalke ein ganz besonderes Prestigeobjekt für jeden Falkner, so dass die Lösegeldforderung des Emirs im „Thron der Welt" durchaus nachvollziehbar erscheint. Zumal die Falknerei, die bis ins 2. Jahrtausend vor Christus zurückreichende Wurzeln hat, auf nomadisch lebende Reitervölker Zentralasiens zurückgeht und dort traditionell hochgeschätzt wird. Von einer frühen Nutzung gezähmter Greifvögel in Persien breitete sich die Beizjagd im Verlauf der Jahrhunderte nach Osten und Westen aus, und wurde bald überall zum Sinnbild von Reichtum und Macht. Während in Europa die Falknerei seit Beginn des 19. Jahrhunderts an Bedeutung verlor, hat sie im Nahen Osten weiterhin einen hohen Status. Auch heute noch werden dort für die inzwischen sehr selten gewordenen weißen Gerfalken extrem hohe Preise gezahlt. Und dies, obwohl die Gerfalken hitzeanfällig sind und wegen der hier herrschenden hohen Temperaturen in diesen Breiten kaum zur Falknerei taugen, sondern lediglich der Zierde dienen können. Doch dies wusste der mittelalterliche Seldschuke Suleiman wahrscheinlich einfach noch nicht, als er seine exotische Lösegeldforderung stellte.
 

Bibliografische Angaben

2013, 960 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Klappenbroschur, Deutsch
Verlag: Wunderlich
ISBN-10: 3805250266
ISBN-13: 9783805250269

Autoren-Porträt von Robert Lyndon

Robert Lyndon beschäftigt sich seit seiner Kindheit mit Falknerei und Geschichte. Einige Szenen in seinen Büchern gründen sich auf seine eigenen Erfahrungen als Falkner, Kletterer und Reisender.

Lese-Probe

Der Thron der Welt von Robert Lyndon


I

An diesem Morgen nahm eine normannische Reiterpatrouille einen jungen Engländer gefangen, der in den Wäldern südlich des Tyne wilderte. Nachdem die Reiter ihn befragt hatten, entschieden sie, dass er ein Aufständischer sei, und hängten ihn als Warnung für die Bewohner des Tales auf einem Hügel. Die Soldaten warteten mit hochgezogenen Schultern in der Kälte, bis die Zuckungen ihres Opfers erstarben, dann ritten sie fort. Noch während sie abzogen, stießen Aasvögel herab, die am Himmel gekreist hatten, und stürzten sich wie ein Schwarm bösartiger Fledermäuse auf die Leiche.
Gegen Abend schlichen ein paar hungernde Bauern den Hügel hinauf und verscheuchten die Vögel. Sie schnitten die Leiche ab und legten sie auf den gefrorenen Boden. Augen, Zunge, Nase und Genitalien fehlten, der lippenlose Mund war in einem stummen Schrei aufgerissen. Die Männer standen mit Haumessern in den Händen im Kreis um den Toten, ohne einen Blick oder ein Wort miteinander zu wechseln. Schließlich trat einer von ihnen vor, hob einen Arm des Toten an, schwang die Klinge und ließ sie niederfahren. Die anderen schlossen sich ihm an, sie hackten und sägten, von Krähen und Raben umflattert, die sich um Fleischfetzen zankten. Unvermittelt flogen die Aasvögel mit rau lärmendem Geschrei davon. Die menschlichen Aasfresser hoben den Blick, erstarrten in ihrer Metzelei und richteten sich erschrocken auf, als ein Mann über dem Hügelkamm auftauchte. Er schien aus der Erde emporzuwachsen, schwarz gegen den düsteren Februarhimmel, ein Schwert in der Hand. Einer der Aasjäger rief etwas, und die Bande drehte sich um und rannte davon. Eine Frau verlor, was sie in den Händen hielt, schrie auf und wollte die paar Schritte zurück, um es aufzuheben, doch einer der Männer packte sie am Arm. Sie jammerte mit zurückgewandtem Blick, als er sie weiterzerrte.
Der Franke beobachtete ihre Flucht, sein Atem stieg wie weißer Rauch in die kalte Luft, dann steckte er sein Schwert wieder in die Scheide und zog sein knochiges Maultier auf den Galgen zu. Noch verdreckt und erschöpft von der Reise, war er ein furchteinflößender Anblick - er war groß, mit tiefliegenden Augen und einer hervorspringenden Nase. Ungekämmtes Haar umrahmte strähnig sein hageres Gesicht, und die wettergegerbte Haut über seinen Wangenknochen erinnerte an die Farbe von geräuchertem Aal.
Sein Maultier schnaubte, als sich eine Krähe, die sich im Brustkorb des Toten verfangen hatte, mit wilden Flügelschlägen befreite. Der Mann betrachtete die verstümmelte Leiche ohne große Gefühlsregung, dann runzelte er die Stirn. Vor ihm im fahlen Zwielicht lag das, was die Frau hatte fallen lassen. Es schien in ein Tuch eingewickelt zu sein. Er band sein Maultier an den Galgen, ging hinüber, drehte das Bündel mit dem Fuß um und blickte in das runzelige Gesicht eines Babys. Es war erst ein paar Tage alt, hatte Augen und Mund fest geschlossen. Es lebte.
Er sah sich um. Die Aasvögel flatterten wieder heran. Es gab keine Stelle, an der er das Baby hätte verstecken können. Die Vögel würden sich darüber hermachen, sobald er den Hügel verließ. Es wäre barmherzig gewesen, seinem Leiden auf der Stelle ein Ende zu bereiten, mit einem einzigen Schwerthieb. Denn selbst wenn seine Mutter zurückkäme, würde das Baby die Hungersnot nicht überleben.
Sein Blick fiel auf den Galgen. Nach kurzem Zögern hob er das Baby auf. Wenigstens war es gut gegen die Kälte geschützt. Er stapfte zurück zu seinem Maultier, öffnete eine Satteltasche und zog einen leeren Sack heraus. Das Baby machte ein seufzendes Geräusch, und sein Mund bewegte sich im Saugreflex. Er legte das Kind in den Sack, stieg auf das Maultier und band den Sack so weit oben an den Henkersstrick, dass die Wölfe ihn nicht erreichen konnten. Das würde die Vögel nicht lange abhalten, aber er nahm an, dass die Mutter zurückkommen würde, sobald er von dem Hügel verschwunden wäre.
Er lächelte freudlos. «Gehängt, bevor du eine Woche alt warst. Wenn du überlebst, kannst du dich damit brüsten.»
Die Vögel flatterten erneut auf, als ein weiterer Mann mit schweren Schritten den Hügelkamm erklomm. Beim Anblick des Galgens blieb er wie erstarrt stehen.
«Beeil dich», rief der Franke. «Es wird bald dunkel.»
Kopfschüttelnd sah er den Jüngeren näher kommen. Der Sizilianer war eine wandelnde Vogelscheuche. Noch eine Nacht ohne etwas zu essen oder eine Unterkunft mochte sein Ende sein, doch Tisch und Bett würden sie nur bei den Leuten finden, die den Engländer gehängt hatten.
Der Sizilianer blieb erschöpft stehen, seine Augen wirkten in dem blassen Gesicht dunkel und ausdruckslos. Er starrte auf die zerstückelte Leiche hinab und zischte angeekelt.
«Wer hat das getan?»
«Hungerndes Bauernvolk», sagte der Franke und nahm die Zügel des Maultiers. «Sie waren noch hier, als ich kam. Ein Glück, dass nicht du vorangegangen bist.»
Der Blick des Sizilianers zuckte in alle Richtungen und blieb schließlich an dem Sack hängen.
«Was ist das?»
Der Franke reagierte nicht auf die Frage. «Sie können nicht weit sein. Bestimmt lauern sie uns irgendwo auf.» Er führte das Maultier von dem Galgen weg. «Halte dich dicht hinter mir, wenn du nicht in einem Kochtopf enden willst.»
Der Sizilianer konnte sich vor Schwäche kaum noch von der Stelle bewegen. «Ich hasse dieses Land», murmelte er. Seine Erschöpfung war so groß, dass er einen Gedanken nur noch zu fassen bekam, wenn er ihn aussprach. «Ich hasse es!»
Ein schwaches Maunzen ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Er hätte schwören können, dass das Geräusch aus dem Sack kam. Er sah dem Franken nach und stellte beunruhigt fest, dass seine Gestalt beim Abstieg vom Hügelkamm schon außer Sicht geriet. Der Sack maunzte wieder. Vögel sanken aus dem steingrauen Himmel nieder wie zerfledderte schwarze Lumpenbündel. Einer von ihnen hüpfte auf den Schädel der Leiche, schielte ihn an, und versenkte seinen Kopf in dem weit aufgerissenen Mund. «Wartet!», schrie der Sizilianer, und stolperte über den grausigen Hügelkamm seinem Herrn hinterher.

Der Franke hastete durch die Abenddämmerung. Der Weg wurde ebener, und die Umrisse ferner Berge kamen in Sicht. Ein Stück weiter sank er in die Hocke, um ein breites Tal in Augenschein zu nehmen, das sich vor ihm öffnete. Eine Flussniederung lag in tiefen Schatten, und er hätte die Burg vielleicht nicht entdeckt, wenn sie nicht so neu gewesen wäre. Die Axtspuren an dem weiß gekalkten Balkenwerk waren noch deutlich zu erkennen. Die Burg stand auf der Landzunge zwischen dem Zusammenfluss zweier Ströme, von denen einer aus Norden und der andere in einem weiten Bogen von Westen kam. Mit den Augen folgte er dem Flusslauf, bis dieser von der aufsteigenden Dunkelheit im Osten verschlungen wurde. Er rieb sich die Augen und warf einen erneuten Blick auf die Burg. Normannisch, zweifellos, gebaut in Form einer Acht, der Bergfried auf einer Motte mit eigener Palisade errichtet, der saalartige Palas und einige weitere, kleinere Gebäude etwas niedriger hinter einer zweiten Einfriedung gelegen. Keine schlechte Stelle, dachte er. Auf zwei Seiten von Flüssen geschützt, die von leicht zu verteidigenden Brücken überspannt wurden.
Er hob den Blick zu einer Verteidigungslinie auf dem Hügelkamm ein paar Meilen hinter der Burg. In seinem ganzen Leben auf den Schlachtfeldern hatte er nichts dergleichen zu Gesicht bekommen - ein Wall, unterbrochen von Wachtürmen, zog sich ohne Rücksicht auf die Hindernisse der Natur quer durch die Landschaft. Das musste die Befestigung sein, die von den Römern zum Schutz ihrer nördlichsten Grenze vor den Barbaren gebaut worden war. Und es stimmte, im Dämmerlicht der aufziehenden Nacht sahen die winterlichen Hügel dahinter aus wie das Ende der Welt.
Ein Rauchschleier hing über der Burg. Er glaubte zu erkennen, dass sich von den umliegenden Feldern Menschen auf die Burg zubewegten. Nicht weit flussabwärts lag ein Dorf von ansehnlicher Größe, doch die Häuser schienen eingestürzt, und von den vereinzelten Bauerngehöften außerhalb des Dorfes waren nur noch große, verkohlte Aschehaufen geblieben. Seit sie vor fünf Tagen den Humber überquert hatten, waren die Reisenden an keinem einzigen bewohnten Dorf mehr vorbeigekommen. Plünderung des Nordens wurde diese Verwüstung genannt - die normannische Rache für einen Aufstand der Engländer und Dänen in York zwei Winter zuvor. Im letzten Tageslicht stellte der Franke fest, dass der Weg zur Burg durch ein Wäldchen führte.
Der Sizilianer sackte neben ihm zu Boden. «Habt Ihr es gefunden? »
Der Franke deutete auf die Burg.
Der Sizilianer spähte in die Dämmerung. Der hoffnungsfrohe Funke in seinen Augen erlosch, und er verzog enttäuscht das Gesicht. «Das ist ja nur ein hölzerner Turm.»
«Was hast du denn erwartet? Einen Marmorpalast mit vergoldeten Turmspitzen?» Der Franke richtete sich auf. «Hoch mit dir. Bald ist es dunkel, und heute Nacht sieht man keine Sterne.»
Der Sizilianer blieb auf dem Boden liegen. «Ich glaube nicht, dass wir dort hinuntergehen sollten.»
«Was willst du damit sagen?»
«Es ist zu gefährlich. Wir können die Dokumente ebenso gut dem Bischof von Durham übergeben.»
Die Kiefermuskeln des Franken spannten sich. «Ich habe dich sicher durch ganz Europa geführt, und nun, wo wir unser Ziel vor Augen haben, nach all den Entbehrungen, die ich auf mich genommen habe, willst du, dass wir umkehren.»
Der Sizilianer rieb sich die Fingerknöchel. «Ich hätte niemals erwartet, dass unsere Reise so lange dauert. Die Normannen betrachten Fragen der Erbfolge ziemlich nüchtern. Unsere Nachricht ist ihnen möglicherweise gar nicht mehr willkommen.»
«Willkommen oder nicht, heute Nacht wird es schneien. Durham liegt einen Tagesmarsch hinter uns. Die Burg ist unsere einzige Zuflucht.»
Unvermittelt verstummten die Aasvögel. Der ganze Schwarm erhob sich, flog einen Kreis und schwebte dann zu dem Wäldchen hinunter. Als ihre gezackten, schwarzen Umrisse verschwunden waren, breitete sich eine lastende Stille aus.
«Hier.» Der Franke warf dem Sizilianer ein Stück Brot hin. Der junge Mann starrte das Brot an. «Ich dachte, wir hätten nichts mehr zu essen.»
«Ein Soldat hält immer eine Reserve zurück. Mach schon. Nimm es.»
«Aber was ist mit Euch?»
«Ich habe meinen Anteil schon gegessen.»
Der Sizilianer stopfte sich das Brot in den Mund. Der Franke entfernte sich ein paar Schritte, damit er nicht mit ansehen musste, wie der andere aß. Als er zurückging, schluchzte der Junge. «Was ist denn nun wieder?»
«Es tut mir leid, Herr. Ich war nichts als eine Last und eine Prüfung für Euch.»
«Steig auf das Maultier», befahl der Franke und erstickte gleich jeden Protest. «Ich mache mir keine Sorgen um deine Bequemlichkeit, ich will nur nicht noch eine Nacht mit einem Stein als Kopfkissen schlafen.»

Bis sie das Wäldchen erreicht hatten, waren die Bäume kaum noch zu sehen. Der Franke hielt sich am Schwanz des Maultiers fest und ließ das Tier den Weg suchen. Er stolperte über Wurzeln und trat in eisüberzogene Pfützen. Der Schnee, der sich den ganzen Tag schon angekündigt hatte, begann herabzurieseln, zunächst nur ganz fein, wie weißer Staub. Der Franke spürte, wie sein Gesicht und seine Füße in der Kälte taub wurden.
Auch er verabscheute dieses Land - das üble Wetter, die mürrische Hoffnungslosigkeit seiner Bewohner, die großtuerische Prahlerei seiner Eroberer. Er schlang sich einen Zipfel seines Umhangs um den Kopf und zog sich schlafwandlerisch in einen Traum zurück. Er ging durch Obstgärten, einen Weinberg, einen Kräutergarten, in dem Bienen summten. Er betrat ein Herrenhaus, überquerte einen gefliesten Boden und ging in ein Zimmer, in dem Rebenholz im Herdfeuer glühte. Seine Frau stand lächelnd von ihrer Nadelarbeit auf. Seine Kinder sprangen auf ihn zu und schrien vor Freude über seine wundersame Rückkehr.


II

Ihre Wege hatten sich im Herbst zuvor auf dem San-Bernardino- Pass in den Alpen gekreuzt. Der Franke, der unter dem Namen Vallon reiste, war zu Fuß unterwegs, nachdem er sein Pferd und seine Rüstung in Lyon verkauft hatte. Bald nachdem er seinen Weg nach Italien hinunter angetreten hatte, war er an einer Gruppe Pilger und Wanderhändler vorbeigekommen, die sich angsterfüllt nach den Unwetterwolken umsahen, die sich am südlichen Himmel über ihnen zusammenballten. Durch eine Wolkenlücke fiel ein gebündelter Sonnenstrahl auf die Sommerweide eines Hirten weiter unten vor einer Talschlucht. Bis dorthin würde er an diesem Abend noch gehen, nahm er sich vor.
Er hatte weniger als die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als sich die Wolken endgültig vor die Sonne schoben. Schlagartig wurde es kälter. Ein Wind, der als fernes Seufzen angehoben hatte, peitschte ihm nun Hagel ins Gesicht. Das Kinn auf die Brust gedrückt kämpfte er gegen den Sturm. Der Hagel wurde zu Schnee, der Tag wurde zur Nacht. Er kam vom Weg ab, stolperte über Felsgestein und quälte sich durch Schneeverwehungen.
Schließlich erreichte er flacheres Gelände, und ein Hauch Feuerrauch zog an ihm vorbei. Also musste er auf der windabwärts gelegenen Seite der Sommerweide sein und die Talschlucht zu seiner Linken haben. Er bewegte sich vorsichtig weiter, ertastete mit dem Schwert, was vor ihm lag, bis eine dunkle, massige Erhebung seinen Weg blockierte. Es war eine halb eingeschneite Hütte. Er schob sich an ihren Außenwänden entlang, bis er auf der windabgewandten Seite die Tür fand. Mit einem Fußtritt öffnete er sie und stolperte in einen vollkommen verräucherten Raum.
Auf der anderen Seite des Feuers sprang eine Gestalt auf. «Bitte, tut uns nichts!»
Vallon machte einen schlaksigen Jüngling mit wildem Blick aus. Im Feuerschein hinter ihm regte sich eine weitere Gestalt in unruhigem Schlaf. «Beruhige dich», knurrte Vallon und schob sein Schwert in die Scheide. Er drückte die Tür zu, klopfte sich den Schnee von den Gewändern und kauerte sich vor das Feuer.
«Ich bitte Euch inständig um Verzeihung», stammelte der Jüngling. «Meine Sorge lässt mich nicht klar denken. Dieses Unwetter ... »
Die Gestalt in der Ecke murmelte etwas in einer Sprache, die Vallon nicht verstand. Der Jüngling hastete zu dem Lager.
Vallon legte Dungstücke aufs Feuer und massierte sich die vor Kälte starren Hände. Dann zog er sich an die Wand zurück und nagte an einem Brotkanten. Rauchfäden umrankten die Lampe drüben in der Nische. Der Mann auf dem Lager schlief nicht. Seine Brust pfiff wie ein undichter Blasebalg.
Vallon trank einen Schluck Wein, der Geschmack ließ ihn leicht zusammenzucken. «Dein Gefährte ist krank.»
In den Augen des jungen Mannes schimmerte es feucht. «Der Meister stirbt.»
Vallon hörte auf zu kauen. «Es ist doch nicht die Pest, oder?»
«Nein, Herr. Ich glaube, ein Geschwür sitzt in seiner Brust. Der Meister kränkelt schon, seit wir Rom verlassen haben. Heute Morgen war er zu schwach, um auf sein Maultier zu steigen. Unsere Reisegefährten mussten uns zurücklassen. Mein Meister beharrte trotzdem darauf, dass wir weiterziehen, aber dann hat uns der Sturm eingeholt, und unser Knecht ist uns davongelaufen. »
Vallon spie den sauren Wein aus und ging zu den beiden hinüber. Kein Zweifel, der alte Mann würde noch vor dem Morgengrauen von allen irdischen Sorgen befreit sein. Doch welches Leben war in seine Züge eingeschrieben - die Haut spannte sich straff über breite Wangenknochen, er hatte die Adlernase eines anspruchsvollen Edelmanns, ein dunkles Auge blickte verschleiert, das andere war nur noch eine Narbenhöhle. Seine Gewänder erzählten von Abenteuern in der Fremde - der seidene Mantel besaß Verschlüsse aus Elfenbeinknebeln, die Pluderhosen steckten in Stiefeln aus Ziegenleder, ein Zobelumhang lag um seine Schultern, der noch kostspieliger gewesen sein musste als der Ring, der an seiner knochigen Hand glitzerte.
Der Blick aus dem dunklen Auge wanderte zu ihm. Die schmalen Lippen öffneten sich. «Du bist gekommen.»
Vallons Nackenhaare stellten sich auf. Der Alte musste glauben, der Geist des Todes sei erschienen, um ihn durch die letzte Pforte zu geleiten. «Ihr täuscht Euch. Ich bin nur ein Reisender, der vor dem Sturm Schutz gesucht hat.»
Der sterbende Mann nahm es zur Kenntnis. «Ein Pilger auf dem Weg nach Jerusalem.»
«Ich reise nach Konstantinopel, um in die kaiserliche Leibwache einzutreten. Wenn ich durch Rom komme, zünde ich vielleicht in Sankt Peter eine Kerze an.»
«Ein Glücksritter», sagte der alte Mann. «Gut, gut.» Dann murmelte er etwas auf Griechisch, was den Jüngling veranlasste, Vallon scharf anzusehen. Um Atem ringend tastete der alte Mann unter seinem Mantel herum, zog eine Mappe aus weichem Leder hervor und drückte sie seinem Begleiter in die Hand. Der junge Mann schien die Mappe nicht nehmen zu wollen. Da packte ihn der Alte am Arm und richtete eindringliche Worte an ihn. Bevor er eine Antwort gab, sah der Jüngling Vallon erneut an. Welche Antwort er dann auch immer gegeben haben mochte - sie schien dem Sterbenden zu genügen. Er ließ seine Hand vom Arm des jungen Mannes gleiten. Sein Auge schloss sich.
«Er verlässt uns», murmelte der Jüngling.
Da öffnete der Alte unvermittelt noch einmal sein Auge und fixierte Vallon. Er flüsterte etwas - es klang wie das Rascheln, mit dem zerknittertes Pergament glattgezogen wird. Dann wanderte sein Blick in ein Gefilde jenseits des Wahrnehmbaren. Als Vallon sich hinunterbeugte, war das Auge schon getrübt.
Wie Nebel zog die Stille durch den Raum.
«Was hat er gesagt?»
«Ich weiß es nicht genau», sagte der junge Mann schluchzend. «Es war etwas über das Geheimnis der Flüsse.» Vallon bekreuzigte sich. «Wer war er?»
Der Jüngling schniefte. «Cosmas von Byzanz, auch Monophalmos genannt, der Einäugige.»
«Ein Priester?»
«Philosoph, Geograph und Diplomat. Der größte Entdecker unseres Zeitalters. Er ist den Nil hinauf zu den Pyramiden von Gizeh gesegelt, hat die Tempel von Petra erkundet und die Manuskripte aus Pergamon gelesen, die Marc Anton Kleopatra übergeben hat. Er hat die Lapislazuli-Minen in Persien gesehen, die Einhornjagd in Arabien und die Nelken- und Pfefferplantagen Indiens.»
«Du bist auch Grieche.»
«Ja, Herr. Aus Syrakus in Sizilien.»
Die Erschöpfung brachte Vallons Neugierde zum Erliegen. Das Feuer war beinahe ausgegangen. Er legte sich auf den schmutzigen Boden und deckte sich mit seinem Umhang zu. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Der Sizilianer intonierte einen Messgesang, die Totenklage vermischte sich mit dem dröhnenden Wind.
Vallon stemmte sich auf einen Ellenbogen. «Das genügt. Dein Meister hat seinen Frieden gefunden. Nun lass mir auch meinen.»
«Ich habe geschworen, ihn sicher zu beschützen. Und nun ist er vor Monatsfrist tot.»
Vallon zog sich den Umhang übers Gesicht. «Er ist nun in Sicherheit. Schlaf jetzt.»
Er hatte unruhige, wirre Träume. Als er aus diesem Dämmerschlaf voller Schreckbilder halb erwachte, sah er den Sizilianer bei dem Griechen kauern und ihm den Ring vom Finger ziehen. Den feinen Pelzumhang hatte er ihm schon weggenommen. Vallon setzte sich auf.
Ihre Blicke trafen sich. Der Sizilianer trug den Umhang herüber und hängte ihn dem Franken über die Schultern. Vallon schwieg. Dann kehrte der Sizilianer in seine Ecke zurück und streckte sich stöhnend aus. Vallon stellte sein Schwert aufrecht auf den Boden und stützte sein Kinn auf den Knauf. Er starrte vor sich hin, blinzelte wie eine Eule, jedes Blinzeln eine Erinnerung, jedes Blinzeln träger als das vorangegangene, bis seine Augen schließlich geschlossen blieben und er unter dem Wüten des Sturms einschlief.
Die Geräusche tropfenden Wassers und merkwürdiger, dumpfer Schläge weckten ihn wieder. Durch Spalten in den Wänden fiel Tageslicht herein. Eine Maus huschte von seiner Seite weg, wo der Sizilianer weißes Brot, Käse, ein paar Feigen und eine lederne Flasche hingelegt hatte. Vallon nahm das Mahl mit zur Tür und trat in den stechenden Sonnenschein hinaus. Schmelzwasserströme rauschten weiß schäumend die Felshänge herunter. Fußspuren führten als bläuliche Furchen durch den Schnee zu Tierpferchen hinüber. Ein Schneebrett stürzte von einem Überhang herab. Vallon spähte den Passweg hinauf und fragte sich, ob die anderen die sichere Zuflucht auf der Passhöhe erreicht hatten. Während seiner Rast dort oben hatte ihm ein Mönch eine Eiskammer gezeigt, in der über Winter die Leichen der Reisenden in der erfrorenen Körperhaltung abgelegt wurden, in der man sie aus dem Schnee gegraben hatte. Vallon setzte die Flasche an und schmeckte herben Rotwein. Wärme breitete sich in ihm aus. Als er gegessen hatte, reinigte er seine Zähne mit einem Zweig und spülte sich den Mund aus.
Nur einen Speerwurf von der Hütte entfernt gähnte schwarz die Schlucht. Er ging bis an den Rand, knüpfte sich die Hosen auf und pisste hinunter, wohl wissend, dass er, wenn er in der vorangegangenen Nacht nur ein paar Schritte weitergegangen wäre, nun als zerschmetterte Masse aus Blut und Knochen so tief in der Erdspalte liegen würde, dass ihn nicht einmal die Geier entdeckt hätten.
Zurück in der Hütte, entzündete er mit Flintstein und Stahl die Lampe und sammelte seine Besitztümer ein. Der Grieche lag da wie eine Grabplastik, die Hände auf der Brust gefaltet.
«Ich wünschte, wir hätten Gelegenheit gehabt, uns zu unterhalten », hörte sich Vallon sagen. «Es gibt Dinge, für die Ihr vielleicht eine Erklärung gehabt hättet.» Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, und im Innersten fühlte er sich wie erstorben.
Ein Rabe krächzte über der Hütte. Vallon verneigte sich vor dem Toten und blies die Lampe aus. «Möglicherweise begegnen wir uns ja wieder, wenn der Tod erst einmal seine tröstende Hand um mein Herz geschlossen hat.»
Er stapfte zur Tür, zog sie auf und hatte den Sizilianer vor sich, der mit einem schmucken rotbraunen Pony und einem schönen grauen Maultier auf ihn wartete. Vallon musste über den Gegensatz zwischen der trauernden Miene des Jünglings und seinem fröhlichen Aufzug beinahe lächeln. Er trug einen Wollumhang mit einem Randbesatz aus blauem Satin, spitze Schuhe von lachhafter Ungeeignetheit und einen weichen, runden Hut, der mit einer flotten Kokarde geschmückt war. Es war am Abend zuvor nicht die Angst gewesen, die ihm die Augen hatte aus dem Kopf treten lassen. Die Natur hatte ihm einen Ausdruck immerwährenden Staunens verliehen, dazu eine Nase wie ein Stachel und die Lippen eines Mädchens.
«Ich dachte, du wärst fort.»
«Was? Meinen Meister verlassen, wenn er noch nicht zur Ruhe gebettet ist?»
Eine Beerdigung war in diesem felsigen Grund unmöglich. Sie legten ihn in eine Steinfurche, die nach Süden ausgerichtet war, und häuften Steine auf ihn. Der Sizilianer pflanzte ein behelfsmäßiges Kreuz auf den Steinhaufen. Nach dem Gebet ließ er seinen Blick über die Gipfel und Gletscher schweifen.
«Er wollte dort beerdigt werden, wo er stirbt, aber es ist bitter, dass ein Mann, der die Pracht so vieler Kulturen bezeugt hat, in dieser Wildnis ruhen muss.»
Ein hungriger Geier schwebte über die Abhänge. Von fernen Weiden klangen Kuhglocken herauf.
Vallon erhob sich von den Knien. «Er hat sich sein Grab gut ausgesucht. Nun liegt ihm die ganze Welt zu Füßen.» Er stieg auf das Maultier und lenkte es Richtung Tal. «Meinen Dank für das Essen.»
«Wartet!»
Hohe Schneeverwehungen lagen auf Vallons Weg. Es war, als müsste er durch eisigen Haferschleim waten. Aber die Gebirgsausläufer vor ihm schimmerten unter Hitzeschlieren. Zur Mittagszeit würde er über weiche, grüne Hänge reiten. Und abends würde er dampfendes Fleisch essen und tiefroten Wein dazu trinken.
«Herr, ich bitte Euch.»
«Dein Weg führt bergauf. Du gehst besser los, wenn du vorm Dunkelwerden über den Pass sein willst.»


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