Der Händler der verfluchten Bücher Roman. Ein Mittelalter-Thriller

Der Händler der verfluchten Bücher Roman. Ein Mittelalter-Thriller
Produktcode: AD5374
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ProduktbeschreibungVenedig, 1218:
Der Reliquienhändler Ignazio da Toledo erhält den Auftrag, das gefährlichste Buch der Welt zu beschaffen. Wer das "Uter Ventorum" besitzt, wird zum Herrscher des Universums. Auf seiner Suche gerät Ignazio in ein tödliches Intrigenspiel.

Klappentext zu „Der Händler der verfluchten Bücher“

Venedig 1218: Der Reliquienhändler Ignazio da Toledo erhält den Auftrag, das gefährlichste Buch der Welt zu
beschaffen. In alten Schriften heißt es: Wer das "Uter Ventorum" besitzt, wird zum Herrscher des Universums. Auf der Suche nach der Handschrift gerät Ignazio in ein tödliches Intrigenspiel. Jemand scheint alle seine Schritte vorauszuahnen. Dunkle Mächte wollen das Buch um jeden Preis und um es in ihren Besitz zu bringen, schrecken sie vor nichts zurück.

Bibliografische Angaben

2013, 368 Seiten, Maße: 14 x 22,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
Verlag: Emons
ISBN-10: 3954511932
ISBN-13: 9783954511938

Autoren-Porträt von Marcello Simoni

Marcello Simoni, 1975 in Comacchio in der italienischen Provinz Ferrara geboren, studierte Literatur und arbeitete als Buchhändler und Archäologe.

Lese-Probe

Der Händler der verfluchten Bücher von Marcello Simoni
Aus dem Italienischen von Barbara Neeb und Katharina Schmidt


Prolog

Im Jahr des Herrn 1205. Aschermittwoch.

Eiskalte Windböen peitschten gegen die Mauern der Abtei von San Michele della Chiusa und trieben den Geruch von Harz und welken Blättern nach drinnen, Vorboten eines aufziehenden Unwetters.

Die Vesper war noch nicht vorüber, als sich Pater Viviën de Narbonne entschloss, die Klosterkirche zu verlassen. Durch die wabernden Weihrauchdämpfe und die flackernden Kerzenflammen in Unruhe versetzt, schritt er durch das Eingangsportal und eilte über den schneebedeckten Hof. Am Horizont erstickte die Dämmerung gerade die letzten Funken Tageslicht.

Ein plötzlicher Windstoß warf ihn beinahe zu Boden und jagte ihm einen Schauer über die Haut. Der Mönch hüllte sich noch enger in seine Kutte und runzelte die Stirn, als wäre ihm eine Kränkung widerfahren. Das ungute Gefühl, das ihn seit dem Aufstehen begleitete, schien ihn nicht mehr verlassen zu wollen; es hatte sich im Laufe des Tages eher noch verstärkt.

In der Hoffnung, er könne seine innere Unrast durch ein wenig Schlaf besänftigen, wandte er sich dem Kreuzgang zu und schritt zwischen dessen Säulen hindurch, bis er das beeindruckende Dormitorium der Mönche erreichte. Im gelblichen Schein der Fackeln, der ihn dort empfing, fiel ihm einmal mehr die schier endlose Aufeinanderfolge von schmalen, ja erdrückend engen Räumen auf.

Viviën schob dieses plötzliche Gefühl der Beklemmung beiseite, rieb sich die kalten Hände und durcheilte das Labyrinth aus Fluren und Treppen. Er hatte den dringenden Wunsch, sich niederzulegen, an nichts mehr zu denken, doch als er zu seiner Zelle gelangte, zuckte er jäh zusammen. In der Tür steckte ein kreuzförmiger Dolch. An seinem bronzenen Griff hing ein zusammengerolltes schmales Pergament. Der Mönch starrte es, von einer furchtbaren Vorahnung ergriffen, einen Moment lang an, bis er sich ein Herz fasste und las.

Die Botschaft war kurz und schrecklich:

Viviën de Narbonne, der Schwarzen Kunst für schuldig befunden. So lautet das Urteil des Geheimtribunals der Heiligen Vehme. Orden der Freirichter.

Vor Angst benommen, sank Viviën auf die Knie. Die Heilige Vehme? Die Erleuchteten? Wie hatten sie ihn in dieser Zuflucht hoch in den Alpen aufgestöbert? Nach jahrelanger Flucht hatte er geglaubt, er hätte all seine Spuren verwischt und wäre nun in Sicherheit. Doch nein. Sie hatten ihn gefunden!

Dennoch durfte er sich jetzt nicht der Verzweiflung überlassen. Wieder einmal musste er fliehen.

Mit zitternden Beinen erhob er sich, riss hastig die Tür zu seiner Zelle auf, raffte achtlos ein paar Habseligkeiten zusammen und warf sich im Laufen seinen schweren Umhang über die Schultern. Auf dem Weg zum Stall kam es ihm so vor, als würden sich die in den Fels gehauenen Flure verengen und seine klaustrophobische Angst noch schüren.

Beim Verlassen des Dormitoriums spürte er, dass sich die Luft weiter abgekühlt hatte. Der Wind trieb mit lautem Heulen die Wolken vor sich her und ließ die kahlen Zweige der Bäume hin- und herpeitschen. Seine Mitbrüder verweilten noch in der Klosterkirche, eingehüllt in die geheiligte Wärme des Hauptschiffs.

Viviën zog seinen Umhang enger und betrat die Stallungen. Er sattelte ein Pferd, stieg auf und durchritt im Trab den Innenhof von San Michele. Dicke, nasse Schneeflocken legten sich schwer auf seine Schultern und durchdrangen den Wollstoff seines Umhangs. Doch nicht die Kälte ließ ihn frösteln, sondern seine Gedanken. Er war darauf gefasst, jeden Augenblick in einen Hinterhalt zu geraten.

Als er den Durchgang in der Umfriedungsmauer fast erreicht hatte, kam ihm ein Mönch entgegen, die Kapuze seiner Kutte tief ins Gesicht gezogen. Er schlug sie zurück und enthüllte einen langen

rabenschwarzen Vollbart und zwei erstaunte Augen. Es war Pater Geraldo da Pinerolo, der Cellerar des Klosters.

»Wo willst du hin, Bruder?«, fragte er. »Kehr lieber um, bevor das Unwetter losbricht.«

Viviën erwiderte nichts und ritt weiter dem Ausgang entgegen, innerlich betete er, dass es noch rechtzeitig genug für eine Flucht war ... Doch am Tor erwartete ihn schon ein Karren, der von zwei Pferden, so dunkel wie die Nacht, gezogen wurde. Auf dem Bock saß ein einzelner Mann, ein Abgesandter des Todes. Viviën ritt scheinbar unbekümmert an ihm vorbei, das Gesicht unter der Kapuze verborgen und sorgfältig darauf bedacht, nicht dem Blick des Kutschers zu begegnen.

Geraldo hingegen, der Viviën hinterhergeblickt hatte, näherte sich dem Fremden und musterte ihn genau: Der Mann war hochgewachsen und kräftig, er trug einen großen Hut und einen schwarzen Umhang. Auf den ersten Blick hatte er nichts Auffälliges an sich, doch als Geraldo ihm ins Gesicht sah, konnte er seinen Blick nicht von ihm lösen: Es war blutrot, und die Lippen darin waren zu einem teuflischen Grinsen verzerrt.

»Satan!«, stieß der Kellermeister aus und wich entsetzt zurück.

Inzwischen hatte Viviën seinem Pferd die Sporen gegeben und preschte im Galopp den Abhang hinunter auf das Susatal zu. Er musste so schnell wie möglich von hier verschwinden, doch der mit Schlamm vermischte Schnee machte den Pfad unwegsam und zwang ihn zur Vorsicht.

Nun erkannte der unheimliche Kutscher den Fliehenden, wütend trieb er seine Pferde an und machte sich mit seinem Wagen an die Verfolgung.

»Bleibt stehen, Viviën de Narbonne!«, schrie er. »Ihr könnt Euch nicht auf ewig vor der Heiligen Vehme verbergen!«

Viviën drehte sich nicht einmal um, während in seinem Kopf tausend Gedanken durcheinanderwirbelten. Hinter sich hörte er die Räder des Karrens, der immer näher kam. Er hatte ihn beinahe erreicht! Wie konnte er auf einem so gefährlichen Pfad nur so schnell fahren? Das waren keine Pferde, sondern Dämonen geradewegs aus der Hölle!

Die Worte seines Verfolgers ließen keinen Zweifel daran, dass es sich um einen Abgesandten der Freirichter handelte. Die Erleuchteten wollten das Buch! Und sie würden alles dafür tun, um es in ihren Besitz zu bringen. Sie würden ihn foltern, bis er vor Schmerz wahnsinnig würde, allein um das Wissen zu erlangen und zu lernen, wie man aus der Weisheit der Engel schöpfen konnte. Dann besser sterben!

Mit Tränen in den Augen packte er die Zügel fester und trieb den Zelter an. Dabei geriet das Pferd zu nahe an den Rand des Abhangs, und das vom Schneeregen aufgeweichte Erdreich gab unter seinem Gewicht nach.

Das Tier rutschte ab und Viviën mit ihm, gemeinsam stürzten sie die Bergflanke hinab. Die Schreie des Mönchs während des Sturzes vermischten sich mit dem entsetzten Wiehern des Pferdes und hallten lange nach, bis sie sich im Heulen des Sturms verloren.

Der Karren hielt an. Der unheimliche Kutscher stieg vom Bock und suchte mit Blicken die Schlucht ab. Nun gibt es nur noch einen Menschen, der davon weiß, nämlich Ignazio da Toledo, dachte er. Wir müssen ihn finden.

Er legte die rechte Hand an sein Gesicht und berührte etwas, das zu kalt und zu hart war für ein menschliches Antlitz. Beinahe widerwillig presste er die Finger auf seine Wangen und nahm die rote Maske ab, die sein wahres Gesicht verbarg.


Erster Teil Das Kloster der Lügen

»Von ihnen hörte ich alle Dinge und verstand, was ich sah; das, was geschehen wird nicht in diesem Geschlecht, sondern in einem Geschlecht, welches kommen wird in ferner Zeit, um der Auserwählten willen.«

Das Buch Henoch, i, 2


1

Niemand wusste mit Sicherheit zu sagen, wer Ignazio da Toledo wirklich war. Manche hielten ihn für weise und gebildet, andere für heimtückisch und den Schwarzen Künsten ergeben. Für viele war er jedoch schlicht ein Pilger, der auf der Suche nach Reliquien, die er den Gläubigen und den Mächtigen verkaufen konnte, von einem Land ins andere umherzog.

Obwohl er es vermied, seine Herkunft zu enthüllen, sprachen doch seine maurischen Gesichtszüge, die allerdings durch eine helle Hautfarbe gemildert wurden, zu offensichtlich dafür, dass er von den Christen abstammte, die in Spanien in engem Kontakt mit den Arabern gelebt hatten. Sein kahl rasierter Schädel und der dunkelgraue Bart ließen ihn wie einen Gelehrten aussehen, aber vor allem seine Augen fielen auf: Sie waren smaragdgrün, eindringlich und von scharfen Falten umrahmt. Die graue Tunika unter dem Kapuzenumhang verströmte den Wohlgeruch orientalischer Stoffe, die des langen Transports wegen mit Düften besprüht wurden. Groß und schlank von Gestalt, stützte er sich beim Gehen auf einen Pilgerstab.

Das also war Ignazio da Toledo, und so sah ihn der junge Uberto das erste Mal, als sich am regnerischen Abend des 10. Mai 1218 das Eingangsportal der Klosterkirche Santa Maria del Mare öffnete und eine hochgewachsene Gestalt mit tief in die Stirn gezogener Kapuze eintrat, gefolgt von einem blonden Mann, der eine große Truhe hinter sich herschleifte.

Abt Rainerio da San Donnino, der gerade die Vesperlitanei beendet hatte, erkannte den Fremden unter der Kapuze sofort und ging ihm entgegen.

»Meister Ignazio, wie lange ist es her!«, rief er freundlich und bahnte sich durch die Scharen von Mönchen seinen Weg zu ihm. »Ich habe die Nachricht von Eurem Besuch erhalten und bereits ungeduldig auf Eure Ankunft gewartet.«

»Ehrwürdiger Rainerio«, sagte Ignazio und verneigte sich leicht.

»Da verlasse ich Euch als einfachen Mönch und finde Euch nun als Abt wieder.«

Rainerio war ebenso groß wie der Händler aus Toledo, jedoch kräftiger gebaut. Das Auffälligste an seinem Gesicht war die markante Adlernase. Seine kastanienbraunen Locken fielen ihm wirr in die Stirn. Bevor er Ignazio antwortete, senkte er den Blick und schlug ein Kreuz.

»Das war der Wille des Herrn. Maynulfo da Silvacandida, unser voriger Abt, ist im vergangenen Jahr von uns gegangen. Ein schwerer Verlust für unsere Gemeinschaft.«

Bei dieser Nachricht stieß der Händler einen bitteren Seufzer aus. Er glaubte nicht an die Legenden über das Leben der Heiligen und zweifelte an den wundertätigen Eigenschaften der Reliquien, die er oft aus fernen Ländern mitbrachte. Doch Maynulfo war wirklich ein Heiliger gewesen. Nicht einmal nachdem er zum Abt ernannt worden war, hatte er auf sein Eremitenleben verzichtet. Regelmäßig zog er sich für eine gewisse Zeit an einen Ort abseits des Klosters zurück, um in der Abgeschiedenheit zu beten. Er ernannte einen Stellvertreter, schulterte eine Tasche und suchte eine im Schilf der nahen Lagune gelegene Einsiedelei auf, wo er ganz allein in der Zwiesprache mit dem Herrn fastete.

Ignazio erinnerte sich noch genau an die Nacht, in der sie einander zum ersten Mal begegnet waren. Zu jener Zeit war er verzweifelt auf der Flucht gewesen und hatte in dessen Eremitenklause Schutz gesucht. Maynulfo hatte ihn aufgenommen und ihm seine Hilfe angeboten, und Ignazio hatte erkannt, dass er ihm sein Geheimnis anvertrauen konnte.

Seitdem waren fünfzehn Jahre vergangen. Rainerios dröhnende Stimme vertrieb die Erinnerungen: »Er ist in der Klause an der Winterkälte gestorben. Wir alle haben ihn nachdrücklich gebeten, seinen Rückzug in die Abgeschiedenheit auf den Frühling zu verschieben, doch er sagte, der Herr rufe ihn zur inneren Einkehr. Sieben Tage später habe ich ihn tot in seiner Zelle gefunden.«

Hinten im Kirchenschiff hörte man einige Mönche traurig seufzen.

»Aber sagt mir doch, Ignazio«, fragte Rainerio, der bemerkt hatte, dass der Händler die Stirn runzelte, »wer ist Euer stummer Begleiter? «

Der Abt musterte den blonden Mann neben dem Händler, der beinahe noch als Jüngling gelten konnte. Die langen, leicht gewellten Haare fielen ihm bis auf die breiten Schultern und umrahmten seinen kräftigen Hals. Seine blauen Augen wirkten jungenhaft, doch die Züge seines Gesichts erhielten durch die aufeinandergepressten Kiefer etwas Strenges und Entschlossenes.

Der junge Mann trat einen Schritt vor und verbeugte sich zur Begrüßung. Er sprach mit dem Akzent des Languedoc, in den sich eine nicht näher bestimmbare exotische Färbung mischte: »Willalme de Béziers, ehrwürdiger Vater.«

Der Abt zuckte leicht zusammen. Er wusste allzu gut, dass die Stadt Béziers der Schlupfwinkel einer Ketzersekte gewesen war. Erschrocken wich er zurück und zischte leise: »Albigensis ...«

Bei diesem Wort verhärtete sich Willalmes Miene. Seine Augen blitzten wütend auf, doch dann huschte ein Ausdruck von Traurigkeit über sein Gesicht, als quäle ihn noch immer ein unbewältigter Schmerz.

»Willalme ist ein guter Christ und hat nichts mit der Ketzerei der Albigenser oder Katharer zu schaffen«, wandte Ignazio ein. »Er hat sehr lange Zeit fern der Heimat gelebt. Ich habe ihn auf meinem Rückweg aus dem Heiligen Land kennengelernt, und wir sind Reisegefährten geworden. Außerdem wird er nur eine Nacht bleiben, er hat anderswo Geschäfte zu erledigen.«

Rainerio musterte das Gesicht des Franzosen, dessen unstete Augen möglicherweise viele Geheimnisse verbargen, und nickte schließlich. Er schien sich plötzlich an etwas zu erinnern und wandte sich daraufhin den hintersten Bankreihen der Kirche zu.

»Uberto!«, rief er und meinte damit einen dunkelhaarigen Jungen, der dort zwischen seinen Mitbrüdern saß. »Komm her, ich möchte dir jemanden vorstellen.«

Gerade in diesem Moment fragte Uberto einige Mönche nach den beiden Besuchern aus, die er noch nie gesehen hatte. Ein Mitbruder

antwortete ihm leise: »Der große Mann mit dem Bart ist Ignazio da Toledo. Man sagt, ihm seien während der Plünderung Konstantinopels einige Reliquien in die Hände gefallen, aber auch wertvolle Bücher, sogar über Magie ... Es heißt, er habe seine Beute dann nach Venedig gebracht, dort damit viel Geld verdient und sich die Gunst des Adels erworben. Aber im Grunde ist er ein guter Mensch. Nicht umsonst war er ein Freund von Abt Maynulfo. Die beiden führten einen regen Briefwechsel.«

Als Uberto hörte, dass Rainerio ihn rief, verabschiedete er sich von den Mitbrüdern und ging auf die kleine Gruppe Männer zu, die sich im dunklen Vorraum versammelt hatte. Erst jetzt schlug Ignazio die Kapuze zurück, als wollte er sich Uberto genauer ansehen. Unaufdringlich musterte er dessen Gesicht, die großen bernsteinfarbenen Augen und den dichten schwarzen Schopf.

»Du bist also Uberto?«, begann er.

Der Junge erwiderte seinen Blick, wusste jedoch nicht, wie er jenen Mann ansprechen sollte. Er war zwar jünger als Rainerio, doch seine würdevolle Ausstrahlung war Ehrfurcht gebietend. Beeindruckt schlug er die Augen nieder. »Ja, Herr.«

Der Händler lächelte. »›Herr‹ sagst du zu mir? Ich bin doch kein Kirchenfürst. Nenn mich ruhig bei meinem Namen und sag Du.«

Ubertos Gesicht erhellte sich. Er warf einen Blick auf Willalme, der unerschütterlich und aufmerksam danebenstand.

»Sag mir«, fragte Ignazio interessiert, »bist du ein Novize?«

»Nein«, mischte sich Rainerio ein, »er ist ...«

»Kommt, Abt, lasst den Jungen sprechen.«

»Ich bin kein Mönch, sondern ein Converso«, erwiderte Uberto, und er wunderte sich, wie vertraulich der Händler mit dem Abt umging. »Die Brüder haben mich gefunden, als ich noch in den Windeln lag. Ich bin an diesem Ort aufgewachsen und erzogen worden.«

Über Ignazios Gesicht glitt ein Anflug von Traurigkeit, bevor es wieder distanzierte Gleichmut zeigte.

»Er ist ein ausgezeichneter Kopist«, fügte der Abt hinzu. »Ich lasse ihn oft kurze Kodizes abschreiben oder Dokumente aufsetzen.«

»Ich helfe, wo ich kann«, gab Uberto eher verlegen als bescheiden zu. »Man hat mich gelehrt, Latein zu lesen und zu schreiben.« Er zögerte einen Augenblick. »Ihr ... du bist viel gereist?«

Der Händler nickte und verzog leicht das Gesicht, als wolle er so ausdrücken, wie viele Mühen er auf seinen Irrfahrten ausgestanden hatte. »Ja, ich habe viele Orte besucht«, sagte er. »Wenn du möchtest, können wir später gerne darüber reden. Mit Erlaubnis des Abtes werde ich einige Tage hier verweilen.«

Rainerio setzte eine väterliche Miene auf. »Mein Lieber, wie ich schon als Antwort auf Euren Brief schrieb, sind wir glücklich darüber, Euch beherbergen zu dürfen. Ihr werdet im Gästehaus neben der Klosterkirche schlafen und könnt mit mir und den Mönchen im Refektorium speisen. Ihr sollt schon heute Abend an meinem Tisch sitzen.«

»Dafür danke ich Euch, Vater. Nun würde ich gern meine Truhe in dem Zimmer abstellen, das Ihr uns zugedacht habt. Willalme hat sie den ganzen Weg von dort, wo uns der Fährmann abgesetzt hat, hierhergeschleppt, und sie ist sehr schwer.«

Der Abt nickte zustimmend, dann durchschritt er den Vorraum, öffnete das Portal und blickte sich draußen suchend um. »Hulco, bist du da?«, rief er und versuchte, durch den dichten grauen Vorhang des Platzregens etwas zu erkennen.

Eine seltsame Gestalt näherte sich schwankend, gebückt unter der Last eines Bündels Brennholz auf der Schulter. Anscheinend machte dem Mann der Regen nichts aus. Er war kein Mönch, sondern sah eher aus wie ein Bauer oder besser noch wie einer der Hausknechte, denen man die handwerklichen Arbeiten des Klosters übertrug. Das musste dieser Hulco sein. Er stammelte etwas in einer unverständlichen Mundart.

Sichtlich verärgert, dass er selbst dem Knecht Anweisungen erteilen musste, sprach Rainerio zu ihm, als wolle er einem Tier etwas beibringen: »Gut, Sohn ... Nein, lass das Holz. Leg es hierhin, hier. Brav. Nimm eine Schubkarre und hilf den Herren, diese Truhe ins Gästehaus zu bringen. Ja, dorthin. Und pass auf, dass du sie nicht fallen lässt. Gut, begleite sie dorthin.« Seine Miene änderte sich schlagartig, als er sich wieder an seine Gäste wandte: »Er ist grob,

aber willig. Wenn Ihr sonst nichts mehr benötigt, erwarte ich Euch dann in Kürze im Refektorium zum Abendessen.«

Nachdem sie sich von Rainerio und Uberto verabschiedet hatten, folgten die beiden Reisegefährten Hulco, der, obwohl er das Holzbündel abgelegt hatte, immer noch gebückt und schwankend ging und dabei die Fersen tief in den Morast drückte.

Der Regen hatte aufgehört. Die Wolken teilten sich und machten einem rötlichen Sonnenuntergang Platz. Schwärme kreischender Schwalben wirbelten durch die Luft, begleitet von einem Wind, der nach Salz und Meer roch.

Am Gästehaus angekommen, wandte sich Hulco den beiden Reisenden zu. Die letzten Schimmer Tageslicht beleuchteten seinen ungeschlachten Körper. Unter einer abgeschabten Kappe sahen stoppelige Haare und eine Knollennase hervor. Ein dreckiger Kittel und eine an den Knien fadenscheinige Hose rundeten den erbärmlichen Anblick ab.

»Domini illustrissimi«, nuschelte er. Darauf folgte eine Litanei in unsäglich stümperhaftem Latein, die so etwas heißen sollte wie: »Die Herrschaften wünschen, dass ich die Truhe hineinbringe?«

Auf ein Nicken hin hob der Diener die Truhe von der Karre und schleppte sie mühsam ins Innere des Gebäudes.

Das Gästehaus war beinahe zur Gänze aus Holz erbaut, die Wände mit Rohrgeflecht verkleidet. Am Eingang erwartete sie bereits ein eher finster wirkender Kerl mit stechenden Augen, der einen Kittel aus Flachsstoff trug. Ginesio, der Verwalter des Hauses, begrüßte die Reisenden und erklärte ihnen, dass der Abt ihm befohlen habe, er solle das bequemste Zimmer für sie bereithalten.

»Geht hinauf, die dritte Tür rechts führt zu Eurer Unterkunft«, sagte er mit einem plump vertraulichen Lächeln und zeigte auf eine Treppe, die ins obere Stockwerk führte. »Fragt mich bitte, wenn Ihr irgendetwas braucht. Guten Aufenthalt.«

Ignazio und Willalme folgten Ginesios Angaben. Nachdem sie die Stufen hinaufgestiegen waren, standen sie bald vor einer Holztür, die Ignazio, der daran gewöhnt war, in Gemeinschaftsräumen zu schlafen, wo die Lager nur mit Vorhängen abgetrennt waren, als

wahren Luxus zu schätzen wusste.

Erschöpft blieb Hulco hinter den Gästen stehen.

»Danke, das genügt«, beschied ihm Ignazio. »Du kannst ruhig wieder an deine Arbeit gehen.«

Dankbar stellte der Diener die Truhe ab, verabschiedete sich mit einer Verbeugung und entfernte sich auf seine gebückt-schwankende Art.

Als sie allein waren, fragte Willalme: »Was tun wir jetzt?«

»Zunächst einmal verstecken wir die Truhe«, erwiderte Ignazio. »Dann gehen wir zum Abendessen. Wir werden am Tisch des Abts erwartet.«

»Ich glaube kaum, dass ich ihm sehr sympathisch bin, deinem Abt«, sagte der Franzose.

Ignazio lächelte. »Wolltest du dich etwa mit ihm anfreunden?«

Wie erwartet erhielt er keine Antwort. Willalme war kein Mann der vielen Worte.

Während sie das Zimmer betraten, fügte der Händler hinzu: »Vergiss nicht, du musst morgen bei Tagesanbruch abreisen. Achte darauf, dass niemand mitbekommt, wohin du willst.«


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