Das Mädchen, das den Himmel berührte

Das Mädchen, das den Himmel berührte
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Beschreibung

Ein epischer Roman um Familie, Liebe, Freundschaft, Hass, Vergebung und die Verwirklichung von Lebensträumen. Drei Menschen und drei Schicksale in einer dramatischen Zeit: der Entstehung des jüdischen Ghettos in Venedig.

Ein faszinierender Schauplatz, eine aufregende Epoche: In seinem neuen Roman entführt Erfolgsautor Luca Di Fulvio seine Leser ins Venedig des 16. Jahrhunderts. Ein Feuerwerk der Gefühle vor einer schillernden Kulisse der Vergangenheit. 

Klappentext

Wie wird ein junger Tagedieb, der seine Kindheit in einer Höhle verbracht hat, zu einem glühenden Verfechter der Freiheit? Wie wird ein jüdischer Betrüger zu einem berühmten Arzt? Und wie wird ein junges Mädchen ohne Perspektive zu einer einflussreichen Modeschöpferin? Die Antwort liegt in Venedig. Denn dort, im Labyrinth der Gassen und Kanäle der geheimnisvollsten Lagune Europas, zwischen der Pracht San Marcos und dem Elend der Spelunken von Rialto findet sich das gesamte Panorama des Lebens.

 

Leseprobe

Das Mädchen, das den Himmel berührte von Luca di Fulvio


Erster Teil
Im Jahre des Herrn 1515
Rom - Narni - Zentralapennin - Adriatisches Meer - Po-Delta - Adria - Mestre - Venedig - Rimini

1
Der Dreckkarren, der im Stadtbezirk Sant'Angelo gemeinhin etwas derber „Scheißekarren" genannt wurde, kam einmal die Woche vorbei. Und zwar immer montags.
An diesem Montag schob sich der Dreckkarren nach fünf Tagen ununterbrochenen Regens nur mühsam durch die enge Gasse Vico della Pescheria, ab und an schrappten die Naben der Räder an den Hauswänden entlang. Die sechs Sträflinge, die am Geschirr des Karrens angekettet waren, versanken bis zu den Knöcheln im Schlamm und stöhnten vor Anstrengung, wenn sie wieder einmal die Räder aus tiefen Löchern in der Straße herauswuchten mussten. Ihre dicken, zerrissenen Hosen aus schlechter Wolle waren bis über die Leisten verdreckt. Vor dem Karren gingen zwei weitere mit Ketten aneinander gefesselte Sträflinge, deren Aufgabe es war, die mit Abfällen und Exkrementen gefüllten Eimer vor den Haustüren oder in den Innenhöfen einzusammeln und sie in den riesigen Bottich auf der Ladefläche des Karrens zu entleeren. Die acht Sträflinge wurden von vier Soldaten überwacht, je zwei vorn und zwei hinten.
Hinter dem Karren hatte sich eine kleine, bunt gemischte Menschenmenge angestaut, mehr Fremde als Einheimische, was in der Heiligen Stadt keine Seltenheit war: zwei deutsche Gelehrte mit schweren Büchern unterm Arm, drei Nonnen, die mit gesenkten Köpfen voranschritten, während die Spitzen ihrer mächtigen Hauben sich nach oben wölbten, ein Sarazene mit einer Haut so dunkel wie geröstete Haselnüsse, und zwei spanische Soldaten - sie trugen die typischen Beinkleider in den Landesfarben, ein Bein gelb und das andere rot, und hielten die Augen beim Laufen halb geschlossen, damit sich ihre Kopfschmerzen nach der durchzechten Nacht nicht noch verschlimmerten, die jetzt bangten, dass sie noch rechtzeitig in ihr Quartier kämen, um nicht als fahnenflüchtig zu gelten. Sogar ein Inder mit Turban auf dem Kopf war darunter, der ein laut brüllendes Kamel hinter sich herzerrte und vermutlich zu dem Zirkus am anderen Tiberufer wollte, sowie ein jüdischer Kaufmann, den man an seinem vom Gesetz vorgeschriebenen gelben Hut erkannte. Und allen stand derselbe angeekelte Ausdruck im Gesicht wegen des Gestanks, der sogar noch zunahm, je mehr sie sich der Piazza Sant'Angelo in Pescheria näherten, denn nun gesellten sich zu den Ausdünstungen des Dreckkarrens noch die der Abfälle des Fischmarkts, die seit sechs Tagen auf dem Boden vor sich hin faulten.
Als sie endlich den Platz erreicht hatten, überholte die angestaute Menge den Karren, und die Leute zerstreuten sich in dem kleinen Menschenbabel auf dem Platz vor der Kirche Sant'Angelo in Pescheria.
Auch der Kaufmann, sein Name war Shimon Baruch, beschleunigte seinen Schritt, während er ständig ängstlich um sich blickte und damit seine Furchtsamkeit deutlich zu erkennen gab. Er hatte soeben auf dem nahegelegenen Seilmarkt mit dem Verkauf einer großen Partie geflochtener Taue, die vor Kurzem per Schiff im Stadthafen Ripa Grande eingetroffen war, ein ausgezeichnetes Geschäft abgeschlossen und dafür statt der üblichen Kreditbriefe die gesamte Summe in bar erhalten. So lief er nun gebückt vorwärts und hielt den Mantel mit beiden Händen fest um sich gewickelt vor lauter Sorge darüber, mit diesem Beutel voller Münzen an seinem Gürtel durch die Straßen Roms laufen zu müssen.
Misstrauisch beäugte Shimon Baruch auf dem Weg seine Umgebung und erblickte einen Würdenträger aus irgendeinem exotischem Land mit einem mächtigen gezwirbelten Schnurrbart, eskortiert von zwei riesigen Negern, an deren Seiten prächtig verzierte Säbel mit Griffen aus Elfenbein baumelten. Er bemerkte einige Gaukler von olivfarbener Hautfarbe, wahrscheinlich Makedonier oder Albaner, dann ein Grüppchen alter Männer, die auf Korbstühlen vor ihren Behausungen saßen und in einer Holzkiste auf dem Boden würfelten, und schließlich drei arme Frauen, die um die Marmortheken der Fischverkäufer strichen, obwohl dort nur mehr wenige Weidenkörbe mit Makrelen aus Fiumicino und Süßwasserbarschen aus dem Braccianosee standen. Die Frauen wühlten jedoch in den Abfällen auf dem Boden, auf der Suche nach einem Kopf oder Schwanz eines Fisches, mit dem sie ihrer Suppe aus Wildkräutern ein wenig Würze verleihen konnten, denn mehr würden sie am Abend nicht auf den Tisch bringen. Zwei von ihnen waren um die vierzig, und ihre fest zusammengepressten Lippen waren unnatürlich gekräuselt, was darauf hindeutete, dass ihnen bereits viele Zähne im Kiefer fehlten. Die dritte dagegen war sehr jung, fast noch ein Mädchen. Sie hatte dunkelrotes Haar und eine Haut, deren alabasterweiße Zartheit unter der alles überdeckenden Schmutzschicht nur zu erahnen war. Shimon Baruch musste bei ihrem Anblick an die Erzählung von der Susanna im Buche des Propheten Daniel denken, die von den beiden alten Richtern bedrängt wurde.
„Haut ab, ihr Schlampen, sonst schmeiße ich euch auch noch in den Bottich", rief einer der Sträflinge vom Dreckkarren, während er mit der Schaufel in der Hand auf die Fischabfälle zuging. Die Soldaten lachten laut und bedeuteten den Frauen, dass sie sich entfernen sollten.
Shimon Baruch eilte mit gesenktem Kopf auf das Marcellustheater zu, dort würde er endlich sein Geld in Sicherheit wissen. Doch dann wandte er sich noch einmal um, um einen letzten Blick auf das hübsche Mädchen mit dem Kupferhaar zu werfen. Dabei bemerkte er, wie sie zu einem zerlumpten kleinen Jungen mit einer ungesund gelblichen Gesichtsfarbe hinübersah, dessen lange Haare so schmutzig waren, dass sie beinahe am Kopf klebten. Er saß etwas abseits bei den Ruinen des Portikus der Octavia und warf mit Steinen nach einer Brennnesseln und Glaskraut fressenden Ziege. Einen Moment lang kam es Shimon Baruch so vor, als habe er den Jungen schon einmal gesehen, vielleicht sogar an diesem Morgen auf dem Seilmarkt. Als er zu ihm hinüberschaute und sich dabei instinktiv noch kleiner machte, fing der Junge seinen Blick auf und rief ihm zu: „Dein Hut ist aus gutem Stoff, Herr Jude! Möge Euer Reichtum erblühen!"
Schnell wandte sich Shimon Baruch ohne ein Wort ab und sah, dass ein grobschlächtiger junger Kerl, der vorher mit etwas dümmlichem Gesicht an der Mauer auf der anderen Seite des Platzes gelehnt hatte, nun mit ausgestreckter Hand auf ihn zugerannt kam. Ein Riese mit dichtem, strohblondem Haar, dessen Ansatz so tief lag, dass fast die ganze Stirn darunter verschwand, was ihm einen animalischen Ausdruck verlieh. Er war in Lumpen gehüllt und bewegte sich linkisch auf seinen kurzen, kräftigen Beinen, während sein untersetzter Leib unsicher hin- und herschwankte. Auch seine Arme waren unverhältnismäßig kurz. ‚Er sieht aus wie ein Riesenzwerg‘, schoss dem Kaufmann durch den Kopf. Er sah ihm gleich an, dass er schwachsinnig war, und erhielt die Bestätigung dafür, als der Riese ängstlich die Augen aufriss, als fürchtete er, verprügelt zu werden, und ihn mit heiserer, eintöniger Stimme in einer eigentümlich vernuschelten Sprache anredete: „Gebt Münschen, Herr ... Scheid scho gud und gebt ein baar Münschen der Barmherschischkeit, ehrwürdigschter Herr."
„Verschwinde", erwiderte der Kaufmann hastig und wedelte mit einer Hand durch die Luft, als wollte er eine lästige Fliege verjagen.
Der Riese hob schützend die Hände vors Gesicht, blieb aber trotzdem wie angegossen stehen und wiederholte: „Eine Münsche, allerehrwürdigschter Herr ... nur eine einschige Münsche." Und dann packte er ihn genau vor der Fassade der Kirche Sant'Angelo übertrieben heftig an einem Arm.
Shimon Baruch drehte sich erschrocken um. „Nimm deine dreckigen Hände von mir!", knurrte er den Riesenzwerg an und versuchte dabei, seine Angst zu verbergen, die ihm bereits die Kehle zuschnürte.
Im gleichen Moment bog ein etwa sechzehnjähriger schlaksiger Kerl mit gebräunter Haut, pechschwarzem Haar und einer schräg über die Stirn gerutschten gelben Kopfbedeckung im Laufschritt um die Ecke der Kirche. Der junge Mann stolperte fast über den Kaufmann und musste sich an seinen Schultern festhalten, um nicht hinzufallen. „Verzeiht, Herr", entschuldigte er sich sofort, um dann, als er den gelben Hut auf dem Kopf seines Gegenübers bemerkte, hinzuzufügen: „Shalom Aleichem", während er sich respektvoll verneigte.
„Aleichem Shalom", antwortete Shimon Baruch wie selbstverständlich, einerseits erleichtert darüber, einen Glaubensbruder vor sich zu haben, andererseits immer noch aufgebracht, weil es ihm nicht gelang, sich aus dem Griff des Schwachsinnigen zu befreien.
„Nein, den habe isch schuerscht geschehen!", protestierte der Riese laut und wandte sich wutentbrannt an den Neuankömmling. „Der gude Herr hier wollde mir gerade Almoschen geben!" Und während er den Kaufmann immer noch am Arm hielt, stieß er den Kerl mit dem gelben Hut kräftig weg. „Vaschwinde!"

„Lass mich los, du erbärmlicher Tölpel!", schrie Shimon Baruch den Schwachsinnigen an, seine Stimme klang nun leicht panisch.
„Lass ihn los!", schrie nun auch der Junge und ging mutig auf den Riesen los, der ihm allerdings einen so mächtigen Fausthieb in den Magen versetzte, dass er sich nach vorn zusammenkrümmte. Dennoch gab der Junge nicht auf, sondern stürzte sich erneut auf den großen Kerl und schlug ihn mitten ins Gesicht.
Der Riese gab ein heiseres Knurren von sich wie ein Bär, ließ den Kaufmann los und packte nun wütend den Jungen. Er wirbelte ihn durch die Luft und schleuderte ihn gegen Shimon Baruch, sodass schließlich beide hinfielen.
Die Soldaten, die zunächst besorgt herbeigeeilt waren, um die Schlägerei zu schlichten, brachen in schallendes Gelächter aus, als sie sahen, wie sich die beiden Männer mit den gelben Hüten im Schlamm wälzten, als wollten sie miteinander ringen . Und alle Fischweiber stimmten mit wogendem Busen in das Gelächter ein, die Hände in die Hüften gestemmt. Auch der Würdenträger des Großwesirs lachte und ebenso die beiden Mohren mit ihren Krummsäbeln. Es lachten die albanischen Gaukler, die nun keine Bälle mehr in die Luft warfen, und die beiden spanischen Soldaten, die zwar nicht langsamer gingen, sich aber umgewandt hatten und nun rückwärts liefen, damit sie nichts von dem Spektakel verpassten. Und sogar die deutschen Gelehrten lachten, nachdem sie stehen geblieben waren und sich ihre Brillen aufgesetzt hatten. „Bring sie um!", schrie der kleine Junge, der in einiger Entfernung mit Steinen nach der Ziege geworfen hatte, um den Idioten anzustacheln. Auch die Sträflinge lachten, und einer rief dem Riesenkerl zu: „Los, zeig's ihnen! Verpass ihnen ein paar saftige Tritte in den Hintern!"
Und da trat der Schwachsinnige dem jungen Mann mit der gelben Mütze in den Bauch, als dieser gerade dem Kaufmann beim Aufstehen half. Der schlaksige Kerl stöhnte auf, drehte sich zu Shimon Baruch um und rief ihm mit angstgeweiteten Augen zu: „Bitte, flieht!" Dann stürzte er sich mit dem Mut der Verzweiflung schreiend auf den Riesen und schlug noch einmal auf ihn ein, bevor er rasch davonlief.
Der Riese rannte dem jungen Mann mit dem gelben Hut Richtung Tiberufer hinterher, und sofort heftete sich der kleine Junge mit der ungesunden gelben Gesichtsfarbe an ihre Fersen und schrie: „Verdammter Drecksjude! Du bist schon tot, verdammter Jude!"
Shimon Bauch überlegte einen kurzen Moment lang, dass er dem jungen Glaubensbruder eigentlich zu Hilfe kommen müsste. Doch dann überwog die Angst, die sein Leben von jeher beherrscht hatte, und der Kaufmann floh in die entgegengesetzte Richtung auf das Marcellustheater zu.
Die Fischweiber, Sträflinge, Soldaten und alle auf der Piazza Sant'Angelo in Pescheria versammelten Menschen lachten immer noch und sahen dem kleinen Jungen und dem Riesen nach, die dem jungen Kerl mit der gelben Hut hinterhersetzten.
In dem allgemeinen Durcheinander steckte das Mädchen mit der alabasterweißen Haut, das in den Abfällen gewühlt hatte, eine Hand in einen Weidenkorb am äußersten Rand der Marmorplatte eines Verkaufsstandes. Sie packte so viele Makrelen, wie sie greifen konnte, ließ sie in einen Ärmel ihres Gewandes gleiten und verschwand dann mit angehaltenem Atem, ohne dass die Fischweiber es bemerkten.
Inzwischen war der junge Mann mit dem gelben Hut um die Ecke gebogen, die beiden Verfolger hatten ihn nun beinahe erreicht und grölten weiter Schmähungen gegen das Volk der Juden. Ein Betrunkener stellte sich schwankend mit ausgebreiteten Armen mitten auf die Gasse und schrie dem auf ihn zukommenden Kerl entgegen: „Bleib stehen, du dreckiger Judas!"
Der blieb einen Schritt vor dem Betrunkenen stehen. „Antworte mir: Auf einer Skala von eins bis zehn, wie dumm bist du da wohl?"
Reglos und mit dümmlichem Gesichtsausdruck starrte ihn der Betrunkene an.
Der junge Mann nahm den Hut ab und warf ihn dem verdutzten Kerl lachend an den Kopf. „Trink lieber noch einen, während du darüber nachdenkst", sagte er. Dann drehte er sich zu dem kleinen Jungen mit der gelblichen Haut und dem Riesen um, die ihn mittlerweile eingeholt hatten. „Los, bewegt euch", befahl er ihnen.
Der Betrunkene starrte ihn verständnislos an.
„Dreckskerl!", rief der kleine Junge mit der gelblichen Haut und spuckte ihn an.
Schweigend gingen sie zu dritt weiter. Als sie um die nächste Ecke gebogen waren, versetzte der junge Mann dem Riesen mit dem Ellenbogen einen kräftigen Stoß in die Seite: „Du erbärmlicher Schwachkopf, lern gefälligst, nicht so feste zuzuschlagen", fuhr er ihn an.
Der Riese blickte nun erschrocken drein. „Enschuldige ...", wimmerte er kläglich.
Dann drehte der schlaksige Kerl sich zu dem kleinen Jungen um. „Und du, versuch gefälligst, deine Bestie im Zaum zu halten." Er krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Mit dem Tritt hat er mir den Magen zerquetscht, der Schwachkopf."
„Entschuldige dich bei ihm", befahl der Kleine dem Idioten.
„Enschuldige, Mercurio ...", wimmerte der Riese. „Bitte Ercole nich abstech'n."
„Ich stech dich schon nicht ab, Idiot", sagte Mercurio und richtete sich wieder auf.
Der Kleine stieß den Riesen in die Seite. „Geht das nicht in deinen Kopf, dass du so stark bist wie ein Elefant?", fragte er ihn.
„Doch, Zolfo ...", erwiderte der Riese kleinlaut und nickte eifrig. „Ercole Idiod."
„Ja, ja, schon gut", murrte Zolfo. Dann wandte er sich an Mercurio. „Du wirst schon sehen, aus dem wird noch was ..."
In dem Moment hörte man von der Piazza Sant'Angelo in Pescheria einen entsetzten Schrei: „Man hat mich beraubt! Haltet den Dieb!", rief der Kaufmann. Daraufhin lachte die Menge schallend, denn nun hatten die Leute begriffen, was sich zugetragen hatte, und amüsierten sich nur umso mehr. „Ich bin ruiniert! Haltet den Dieb! Verfluchte Mistkerle! Verflucht sollt ihr alle sein!" Und je verzweifelter Shimon Baruch schrie, desto lauter und donnernder wurde das Gelächter, wie im Theater.
„Verschwinden wir von hier", sagte Mercurio.
Sie kletterten über den Damm gegenüber der Tiberinsel, und während sie zu einem zwischen Brombeergestrüpp verborgenen Kanaldeckel hinabstiegen, gesellte sich das Mädchen mit den kupferroten Haaren und der Alabasterhaut zu ihnen. „Wir haben ein Abendessen", verkündete sie stolz und zeigte den anderen die fünf Makrelen, die sie gestohlen hatte.
„Wir haben viel mehr als das, Benedetta", sagte Zolfo.
Mercurio holte den Beutel voller Münzen hervor, den sie dem Kaufmann gestohlen hatten. Dabei bemerkte er, dass auf das Leder eine rote Hand aufgemalt war. Er löste das Band, hockte sich hin und schüttete den Inhalt auf den Boden. Das Rot der untergehenden Sonne ließ die Münzen wie glühende Kohlen aufblitzen.
„Die sind ja aus Gold!", rief Zolfo aus.
Mercurio hielt einen Moment überrascht inne. Dann zählte er schnell die Münzen und teilte sie in zwei Haufen, einen kleinen für die anderen und einen doppelten so großen für sich.
„Aber wir sind zu dritt ...", beschwerte sich Zolfo.
„Und der Plan war von mir", entgegnete Mercurio barsch. „Ich bin hier der Betrüger, ihr an meiner Stelle würdet sofort geschnappt." Dann musterte er sie von oben herab. „Ihr seid bloß zwei, oder besser gesagt anderthalb, denn der Schwachkopf zählt nur halb. Und dazu ein Mädchen, das Schmiere steht." Er steckte den eigenen Anteil in den Beutel und verschloss ihn wieder. Dann stand er auf und zeigte auf die Münzen am Boden. „Das ist euer Anteil, und ich war mehr als großzügig. Wenn euch etwas nicht passt, dann arbeitet doch allein." Er starrte sie herausfordernd an.
„Das geht schon in Ordnung", sagte Benedetta und hielt seinem Blick stand.
Zolfo bückte sich und sammelte die Münzen ein.
„Zumindest merkt man, wer bei euch das Sagen hat", sagte Mercurio grinsend.
„Willst du mit uns zusammen die Fische essen?", fragte ihn Benedetta.
Zolfo sah Mercurio hoffnungsvoll an.
„Ich esse nicht gern in Gesellschaft", antwortete Mercurio abweisend. „Wenn ich euch brauche, weiß ich ja, wo ich euch finde." Er hob den Kanaldeckel hoch. „Und erzählt Scavamorto nichts davon, sonst nimmt er euch alles weg."
„Wir könnten doch bei dir bleiben", schlug Zolfo hoffnungsvoll vor.

„Verschwindet", fuhr ihn Mercurio an. „Ich komm allein zurecht. Und das hier ist mein Platz."
Und damit schlüpfte er in den Abwasserkanal, in dem er zu Hause war.
(...)

3
Zur neunten Stunde drehte das Schiff bei.
Die Mannschaft bestand zum Großteil aus Makedoniern. Die dunklen Gesichter, von Salz und Kälte gegerbt, waren von tiefen Falten durchzogen. An einigen Stellen auf der braunen Haut, mitunter auch zwischen den schwarzen, zusammenklebenden Haaren, die in Strähnen herabhingen, waren erhabene Male zu sehen, die an zerquetschte Erdbeeren erinnerten. Und wenn einige der Männer sprachen und dabei das Zahnfleisch entblößten, rann ihnen ein hellroter Saft von mit Speichel vermischtem Blut über die gelben Zähne, die bereits wackelten wegen der Krankheit, die erfahrene Reisende der Weltmeere unter dem Namen Skorbut kannten. Es gab zahlreiche Methoden, mit denen man sie zu bekämpfen versuchte. Aber bis vor wenigen Jahren waren die Seeleute überzeugt gewesen, das einzige wirksame Gegenmittel wäre ein besonderes Amulett: der Qalonimus.
Eine alte Legende erzählte von einer von Heiden gemarterten Heiligen, derer sich ein barmherziger Arzt angenommen hatte. Er hatte sie bis zu ihrem Tod begleitet und kurz vor ihrem Ableben ihren letzten Willen erfahren. Die Heilige hatte gebeten, dass man ihre Gebeine in die Heimat überführen sollte, um sie dort in Würde zu bestatten. Aber weil sie befürchtete, der Skorbut würde die Seeleute umbringen, denen man ihre sterblichen Überreste anvertraute, hatte sie vor ihrem Tod dem barmherzigen Arzt die Rezeptur einer wundersamen Kräutermischung anvertraut und ihn wissen lassen, dass jene Seeleute, die sich ein Amulett mit diesen Kräutern umhängen würden, vor der Krankheit Skorbut geschützt wären, ganz gleich, welchem Glauben sie angehörten. Die Legende hatte den Namen der Heiligen nicht überliefert, aber den des Arztes. Dieser hieß Qalonimus, und so wurde das Amulett nach ihm benannt.
Niemand wusste, dass die Legende keinesfalls aus alter Zeit stammte, sondern erst vor etwa zwanzig Jahren erdacht worden war. So wie auch niemand wusste, dass es weder die Heilige noch den Arzt je gegeben hatte. Das wusste nur ihr fantasievoller Erfinder, der reich damit geworden war, dass er den abergläubischen Seeleuten ein Amulett verkaufte, das allein seinem erfinderischen Geist entsprungen war und aus einer simplen Mischung übelriechender Kräuter und einer Eisenplatte in einem Ledersäckchen bestand. Und seit einer Woche wusste auch seine fünfzehnjährige Tochter davon, der der Betrüger die Wahrheit erzählt hatte.
Der Name des Betrügers, der sich als Nachfahre des Arztes aus der Legende ausgab, die er selbst erfunden hatte, war Yits'aq Qalonimus di Negroponte, und seine Tochter hieß Yeoudith.
Und in diesem Moment standen Vater und Tochter Hand in Hand auf dem Oberdeck der Galeere und warteten angespannt darauf, vom Kapitän der makedonischen Mannschaft verabschiedet zu werden, die sie von der ehemals venezianischen Insel Negroponte in der Ägäis bis hierher in diesen Teil der Adria gegenüber des Po-Deltas gebracht hatte, wo das Wasser nicht allzu tief und nicht allzu salzig war.
„Hier endet Eure Reise", verkündete der Kapitän, der nicht gerade vertrauenerweckend wirkte. „Ihr kennt das venezianische Gesetz. Juden dürfen nicht per Schiff in den Hafen einfahren."
Der Betrüger verneigte sich respektvoll. „Vielen Dank, Ihr habt mehr getan, als ich erwarten durfte."
„Euer Ruf verdient all unseren Respekt", erwiderte der Kapitän.
Yits'aq wusste nur zu gut, dass der Kapitän log. Er schaute zu der versammelten Mannschaft hinüber. Jeder einzelne dieser Seeleute konnte es kaum erwarten, sie endlich loszuwerden.
Der Kapitän gab zweien seiner Männer ein Zeichen, die daraufhin eine Schaluppe hinunterließen. Die hölzernen Rollen der Taue ächzten und hinterließen einen leichten Geruch nach verbranntem Öl in der Luft. „Ab ... ab ...", kommandierte der Bootsmann und kontrollierte an der Reling, dass die Schaluppe für vier Ruderer und einen Steuermann zu Wasser gelassen würde.
„Meine Männer werden Euch über diesen Flussarm ans Ufer bringen", erklärte der Kapitän und zeigte auf einen breiten, mit Röhricht bewachsenen Küstenstreifen. „Ihr befindet Euch ganz in der Nähe der alten Stadt Adria. Ein wenig außerhalb gibt es ein Gasthaus, wo Ihr die Nacht verbringen könnt. Dann haltet Euch Richtung Nordosten. Dort liegt Venedig."
„Meine Tochter und ich sind Euch zu lebenslangem Dank verpflichtet", sagte Yits'aq Qalonimus di Negroponte feierlich. Dann richtete er seinen Blick auf die drei großen Truhen, die mit dicken Ketten und Schlössern gesichert waren.
„Eure Habe wird zu Asher Meshullam in sein Haus in San Polo geliefert werden, so wie Ihr es angeordnet habt", versicherte der Kapitän. „Nur keine Sorge."
„Ich vertraue Euch blind", erwiderte Yits'aq, wobei er allerdings weiter die drei Truhen anstarrte, als ob er sich nicht von ihnen trennen wollte. Dann schaute er zu den Seeleuten hinüber und bemerkte ihre gierigen Blicke. Und er sah wieder zum Kapitän, dessen fahrige Bewegungen seine Ungeduld verrieten. „Ich vertraue Euch ...", wiederholte er, aber es klang weniger wie eine Bestätigung als vielmehr wie eine Frage. Oder eine flehentliche Bitte.
Der Kapitän wollte lächeln, aber seine Miene geriet eher zu einem nervösen Grinsen. „Geht ... sonst werdet Ihr unterwegs noch von der Dunkelheit überrascht. Und die Welt ist voll schlechter Menschen", drängte er mit sichtlicher Ungeduld.
„Ja", sagte Yits'aq, nickte und senkte schicksalsergeben den Kopf. Dann schob er seine Tochter zur Strickleiter mit den Sprossen aus libanesischem Zedernholz, die die Seeleute herabgelassen hatten. „Gehen wir, mein Kind."
In dem Moment löste sich ein alter Seemann, der vom Skorbut gezeichnet war, aus der Mannschaft und warf sich Yits'aq zu Füßen. „Berührt den Qalonimus, oh Herr, damit ich von dem Übel geheilt werde", flehte er.
Der Kapitän versetzte dem Alten einen Fußtritt, ohne seinen Zorn zu verhehlen, und knurrte: „Verfluchter Dummkopf." Dann wandte er sich zu Yits'aq und versuchte, den Vorfall herunterzuspielen. „Ihr müsst gehen ..."
„Gestattet, Kapitän. Es dauert nur einen Augenblick", sagte Yits'aq. Er beugte sich über den Mann und musterte seine Zähne, das Zahnfleisch und die blutunterlaufenen Stellen am Hals. „Du glaubst noch an den Qalonimus?", fragte er ihn überrascht.
„Aber gewiss, Herr", sagte der alte Seemann.
„Sehr gut", seufzte der Betrüger und dachte mit Wehmut an die alten Zeiten, als noch jeder Seemann Italiens auf die wundersamen Kräfte des Qalonimus vertraute und drei Silbersoldi dafür bezahlte, ihn um den Hals zu tragen.
„Berührt den Qalonimus, ehrwürdiger Herr", sagte der Alte noch einmal.
Durch die Mannschaft ging ein ungeduldiger Ruck, der sich von einem zum anderen übertrug, aber niemand sagte etwas.
Yits'aq Qalonimus di Negroponte beugte sich über den Seemann und nahm das Amulett in die Hand, das ihn vor Jahren reich gemacht hatte. Durch die große, schmiedeeiserne Platte wog es schwer in seiner Hand, sonst war es nur mit einfachen Wiesenkräutern gefüllt, die hinter seinem Haus wuchsen und die eine alte, inzwischen verstorbene Frau für ein paar Münzen in den Beutel eingenäht hatte. Yits'aq schloss die Augen und murmelte leise: „Im Namen der Heiligen, deren Name verloren gegangen ist und kraft meines Blutes, dasselbe, das einst durch die Adern meines wundertätigen Vorfahren, des Arztes Qalonimus, floss, übertrage ich diesem wundersamen Heilmittel neue Wirkungskraft." Dann öffnete er die Augen, ließ das Amulett los und legte beide Hände auf den Kopf des Seemanns. „Nimm hier meine berakhah", sagte er feierlich. „Du bist gesegnet und gerettet." Dann wandte er sich zu seiner Tochter um, ließ ein Lächeln über sein Gesicht huschen, halb verlegen und halb verschwörerisch, da sie jetzt ja Bescheid wusste, und sagte zu ihr: „Los, gehen wir."
Yeoudith hängte sich die Tasche um, die sie sich selbst aus einem farbenfrohen persischen kelim cicim genäht hatte, raffte den Rock bis zu den Knien, wodurch sie die Blicke der gesamten Mannschaft auf ihre hübschen Beine zog, und stieg die steile Strickleiter hinunter, die an der Längsseite der Galeere baumelte. Mit einem geschickten Sprung landete sie in der Schaluppe. Ihr Vater verabschiedete sich noch einmal vom Kapitän und folgte ihr.
„Fertig - los", rief der Steuermann, und die Seeleute ließen gleichzeitig ihre Ruder ins Wasser sinken. Die Schaluppe bewegte sich zunächst nur langsam, während die Hölzer in den Dollen ächzten, wenig später gewann sie an Geschwindigkeit und glitt schnell über das Wasser, dem trägen Fluss entgegen.

Yeoudith schaute zu der Galeere zurück und sah, wie sich der Kapitän und die Mannschaft auf die wertvollen Truhen stürzten. Besorgt wandte sie sich an ihren Vater.
„Ich weiß, mein Kind. Die Heuschrecken fallen bereits über ihre Beute her", sagte Yits'aq leise, sodass die Ruderer ihn nicht hören konnten.
„Aber unsere Sachen ...?", sagte Yeoudith ängstlich.
Der Vater nahm sanft ihren Kopf in die Hände und drehte ihn in Richtung der Pomündung. „Schau nach vorn", sagte er zu ihr.
Yeoudith begriff nicht gleich. Vielmehr verspürte sie eine große Beklemmung in ihrer Brust, über der sich seit einem Jahr das Gewand leicht spannte. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sich gegen diese Ungerechtigkeit auflehnen. „Das sind Diebe, Vater", flüsterte sie aufgeregt.
„Ja, mein Schatz", erwiderte Yits'aq ruhig.
Yeoudith versuchte, sich aus der Umarmung ihres Vaters zu befreien. „Wie kannst du so etwas einfach hinnehmen?", zischte sie.
Yits'aq hielt sie gewaltsam zurück. „Jetzt hör auf damit!", befahl er ihr streng.
„Aber Vater ..."
„Hör auf, habe ich gesagt." Er betrachtete sie. Ihre Augen waren schwarz wie die Nacht.
Yeoudith versuchte wieder, sich loszumachen, aber ihr Vater hielt sie so unerbittlich fest, dass er ihr beinahe wehtat.
Die Schaluppe verließ nun das offene Meer und bog in die Pomündung ein. Sanft überwand sie die leichte Welle, wo Süßwasser auf Salzwasser traf.
Der Fluss erstreckte sich nun vor ihnen, so geheimnisvoll und verheißend wie ihre Zukunft. Die Uferdämme, an denen sich der Schilfrohrsumpf ausbreitete, waren schlammig und unregelmäßig. Als sie näher herankamen, flog ein Vogel mit langem, schlankem Hals auf. Ein flaches Boot mit einigen ausgemergelten Fischern an Bord, das mit einer langen Stange vorwärtsgestoßen wurde, zog Netze hinter sich her. Und im Röhricht konnte man eine Fischerhütte erkennen, die jemand grob aus Pfosten, Stroh und Schilf zusammengebaut hatte.
Die Sonne ging schnell unter und tauchte die ganze Landschaft in flammende Rottöne. Vom Fluss stieg Nebel auf, der jedoch wegen der Kälte niedrig über dem Wasser hing.
Erst dann sagte Yits'aq, nachdem er sich schnell nach der Galeere umgedreht hatte, mit gleichmütig klingender Stimme: „Die Schlösser und Ketten haben lang genug gehalten, ihr blöden Dreckskerle."
Yeoudith spürte, wie der Griff ihres Vaters nachließ. Dann drehte auch sie sich zu der Galeere um und sah, wie der Kapitän, inzwischen kaum mehr als ein schwarzer Punkt, zu ihnen herüberwinkte und versuchte, die Aufmerksamkeit der Ruderer und des Steuermanns zu erregen. Hinter ihm fuchtelten wie ein vielarmiger Krake auch die anderen Seeleute, und vielleicht schrien sie wie er, doch sie waren außer Hörweite. Verwirrt schaute Yeoudith ihren Vater an.
Ohne das Gesicht zu verziehen, sagte Yits'aq auf seine barsche Art: „Es tut mir nur leid, dass ich diesen dummen Piraten drei so schöne Truhen überlassen musste." Er seufzte. „Und dazu all die wertvollen Steine unserer Insel ..."
„Steine ...?"
„Was glaubst du denn? Hätte ich die Truhen vielleicht lieber mit Gold und Silber füllen sollen?" Er verstummte und zog sie wieder zu sich heran.
Yeoudith betrachtete das Profil ihres Vaters mit der edlen, schlanken Hakennase und dem fliehenden Kinn, auf dem sich ein kleiner Spitzbart kräuselte. Die Welt von Yits'aq Qalonimus di Negroponte war weitaus komplizierter, als sie es sich vorgestellt hatte. Aber dieser starke, warme Griff genügte, damit sie sich sicher fühlte. Auch wenn sie in den letzten Tagen erfahren hatte, dass er ein Scharlatan und ein Betrüger war. Sie runzelte die dichten, pechschwarzen Augenbrauen, ließ den Kopf sinken und lehnte ihn gegen die Schulter ihres Vaters.
Ihr altes Leben war Vergangenheit, und nun begann ein neues. Mit neuen Regeln.
„Steine", wiederholte sie und lachte leise.


Copyright by Bastei Lübbe (Verlag)

Autoren-Porträt

Luca Di Fulvio (geb. 1957) bewarb sich im Alter von 20 Jahren um einen Studienplatz der Theaterwissenschaft an der Accademia d'Arte Drammatica Silvio d'Amico. Unter über 600 Bewerbern war er einer der Auserwählten. Einer seiner Dozenten war Andrea Camilleri, der Di Fulvio mit seinen anschaulichen, originellen Vorlesungen immer wieder begeisterte. Nach einem kurzen Ausflug in die Welt des Theaters wandte sich Di Fulvio der Schriftstellerei zu. Sein Roman "Der Junge, der Träume schenkte" war ein echter Überraschungserfolg und 2012 monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste zu finden. Luca Di Fulvio lebt und arbeitet in Rom.